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Der europäische Blick auf die USA

Alexis de Tocqueville und die Suche nach Anerkennung

04.12.2007

Bis heute ist die Bedeutung des Buchs „Über die Demokratie in Amerika“ des Aristokraten Toqueville unerreicht.

Bis heute ist die Bedeutung des Buchs „Über die Demokratie in Amerika“ des Aristokraten Toqueville unerreicht.
Bildquelle: Bridgeman Berlin

Europäische Reiseberichte über die USA waren seit dem 18. Jahrhundert ein blühendes Genre, und europäische Analysen der amerikanischen Gesellschaft sind inzwischen Legion. Doch kein Buch hat bis heute die Bedeutung von Alexis de Tocquevilles „Über die Demokratie in Amerika“ erreicht. Der Einfluss und Stellenwert des Buches sind nicht hoch genug einzuschätzen. Das gilt auch für die USA selbst, in denen Tocqueville dem konservativen Lager als Gewährsmann für die Analyse amerikanischer Besonderheit erscheint – und linken Kulturkritikern als willkommene Quelle für eine Kritik am amerikanischen Individualismus.

Der Aristokrat Tocqueville war ursprünglich in die USA gereist, um das dortige Gefängnissystem zu studieren, das zu jener Zeit als das fortschrittlichste der Welt galt. Paradoxerweise war es gerade die „olympische“, von Herablassung nicht immer freie Perspektive des Aristokraten, die Tocqueville den Blick dafür schärfte, dass mit dem politischen System der Demokratie eine grundlegende Veränderung nicht nur in den politischen Institutionen, sondern in allen Lebensbereichen verbunden war.

Im 1835 erschienenen ersten Band des Buches, der dessen Ruf und Einfluss zugrundeliegt, lieferte er eine umfassende Beschreibung der politischen und rechtlichen Institutionen des neuen Systems der Demokratie und begründete damit die moderne Politikwissenschaft. Die Demokratie bestand für Tocqueville jedoch aus mehr als nur Institutionen. Im zweiten Band, der 1840 erschien, wird daher der Versuch einer systematischen Beschreibung der Auswirkungen der Demokratie auf das soziale und kulturelle Leben unternommen. Diese fast ethnografisch zu nennende Bestandsaufnahme lässt sich als Wegbereiter der modernen Kulturwissenschaft verstehen.

Ungebrochene Aktualität und Relevanz

Viele Beobachtungen Tocquevilles sind von ungebrochener Aktualität und Relevanz. Dass eine wiederkehrende Gefahr der Demokratie in einer „Tyrannei der Mehrheit“ bestehen kann, hat sich gerade am amerikanischen Beispiel mehrfach (und neuerdings wieder) gezeigt und ist zum Ausgangspunkt einer reichhaltigen Literatur zur Entstehung von Hysterie, Paranoia und anderen Formen des Gruppenzwangs geworden.

Tocqueville war es auch, der den Begriff des Individualismus zum ersten Mal als Kategorie der Kulturanalyse benutzte und das Paradoxon herausarbeitete, dass die Demokratie nicht notwendigerweise Solidarität und Brüderlichkeit hervorbringt, sondern auch einen Individualisierungsprozess in Gang setzt, der das politische System vor völlig neue Probleme stellen kann. 

Ökonomische und soziale Ungleichheit

Dagegen hat eine weitere Einsicht Tocquevilles in soziale und kulturelle Konsequenzen der Demokratie noch nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die sie verdient – vielleicht, weil Tocqueville in diesem Fall nur gedankliche Anstöße, aber keine systematische Analyse geliefert hat. Ausgangspunkt kann hier der berühmte erste Satz des Buches sein: „Unter den neuen Erscheinungen, die während meines Aufenthalts in den Vereinigten Staaten meine Aufmerksamkeit erregten, hat keine meinen Blick stärker gefesselt als die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen.“ Man hat diesen Satz in aktuell kritischen Reinterpretationen der amerikanischen Geschichte als liberale Naivität (miss-)verstanden, als sei dem Aristokraten Tocqueville während seiner dreimonatigen Reise durch die USA entgangen, dass die amerikanische Gesellschaft zu jener Zeit längst durch große ökonomische und soziale Ungleichheit gekennzeichnet war. Tocqueville geht es jedoch aus der Perspektive europäischer Ständegesellschaften um etwas Grundsätzliches, nämlich um die Abschaffung von Standesunterschieden: Niemand kann nunmehr den Anspruch erheben, aufgrund seiner Geburt und Standeszugehörigkeit mehr wert zu sein als andere. Wenn diese Basis gesellschaftlicher Anerkennung jedoch unterminiert wird, dann stellt sich die Frage, wie soziale Anerkennung anders begründet werden kann. Da das Individuum nicht mehr auf tradierte Quellen zurückgreifen kann (oder muss), wird es nunmehr gezwungen, seinen Wert gegenüber anderen selbst zu demonstrieren. Die Suche nach Anerkennung rückt auf diese Weise ins Zentrum des gesellschaftlichen Lebens und erhält eine völlig neue Dynamik, der Tocqueville die Rastlosigkeit der amerikanischen Demokratie zuschreibt, wie auch die starke Dominanz der öffentlichen Performanz bereits im Amerika des 19. Jahrhunderts. Vor allem aber entsteht auf diese Weise ein Grundkonflikt demokratischer Gesellschaften, in denen sich die Forderung nach Gleichheit und die Notwendigkeit zur Unterscheidung von anderen unaufhörlich in die Quere kommen.

Volle gesellschaftliche Anerkennung

Erkennt man die konstitutive Rolle der Suche nach Anerkennung für die amerikanische Gesellschaft, dann wird auch verständlich, warum Demokratisierungsprozesse in den USA selten klassenkämpferisch waren, sondern vom Anspruch ethnischer und geschlechtsspezifischer Gruppen auf volle gesellschaftliche Anerkennung angetrieben worden sind. Diese sozialen Bewegungen hatten wiederum Wirkung auf kritische Gesellschaftstheorien in Europa und haben insbesondere einen Paradigmenwechsel in der Diskussion von Kriterien sozialer Gerechtigkeit eingeleitet – weg vom Distributionsparadigma hin zum Kriterium voller Anerkennung. Für die Analyse der amerikanischen Kultur eröffnet sich hier die Perspektive, deren Geschichte nicht mehr als exzeptionalistischen Sonderweg, sondern als Kulturgeschichte moderner Anerkennungsansprüche neu zu schreiben. Die Demokratie würde dabei nach wie vor im Mittelpunkt stehen, aber nicht im Sinne eines Garants von Gleichheit, sondern gerade umgekehrt, als der Ort, an dem die Anerkennungsansprüche des Individuums „entfesselt“ worden sind.