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Der gesündeste Junge unter Uncle Sam's Adoptivkindern

Deutsche Immigranten und das amerikanische Demokratieversprechen

04.12.2007

Whitman

Whitman

Der Kulturbegriff besitzt in der amerikanischen Demokratie andere Funktionen als in der europäischen Ständegesellschaft. Er löst sich von europäischen Maßstäben hinsichtlich besonderer künstlerischer und geistiger Leistungen, um sich für Pluralisierung und Abbau gesellschaftlicher Hierarchien, für Multiethnizität und gesellschaftliche Individualisierungsprozesse zu öffnen. Immigranten reagierten unterschiedlich auf die Herausforderungen, sich im demokratischen Einwanderungsland USA zu positionieren. Das Spektrum reicht von Rückzug in die Tradition über Assimilation bis hin zu reformorientiertem Aktivismus.


Mit der Karikatur „Der 200. Geburtstag des gesündesten Jungen unter Uncle Sam’s Adoptivkindern (1883)“ lässt sich nach Ansicht der Historikerin Kathleen Neils Conzen das deutsche Element in den USA besonders prägnant bestimmen.
Quelle: JFKI

Die deutsch-amerikanische Geschichtsschreibung betonte in der Vergangenheit wiederholt die kulturelle Vorreiterrolle deutscher Emigranten und deren Leistungen für die Erfolgsgeschichte der Vereinigten Staaten. Diese eindimensionale Perspektive brachte dem Forschungsfeld den zweifelhaften Ruf des Antiquarischen und Provinziellen ein. Ein anschauliches Beispiel für die „Erfindung einer deutsch-amerikanischen Identität“ liefert eine Karikatur in der amerikanischen Zeitschrift Puck. An der Illustration „Ein Familienfest – Der 200. Geburtstag des gesündesten Jungen unter Uncle Sam’s Adoptivkindern“ ließe sich nach Ansicht der Historikerin Kathleen Neils Conzen das deutsche Element in den USA besonders prägnant bestimmen.

Uncle Sam und Lady Liberty prosten feierlich dem vorbildlichsten aller Immigranten im Zentrum des Bildes zu. Dessen Nationalität erklärt der Schriftzug „German“ an der Hutkrempe. Im Vergleich zum würdevoll karikierten Deutschen sind die anderen Gäste aus dem europäischen und asiatischen Raum überzeichnet – und sie erweisen ihre Reverenz.

Deutsche Ideale der 1848er-Generation

Die traditionelle deutsch-amerikanische Geschichtsforschung erkennt in der Darstellung die Feier deutscher Ideale der 1848er-Generation und die Erinnerung an das kulturelle Erbe Deutschlands in den USA. Gibt es unter dem Aspekt der transatlantischen Wechselwirkung, Kreolisierung, Hybridität und Appropriation alternative Interpretationen? Wie „deutsch“ ist die Person im Zentrum tatsächlich? Die Szenerie betont die Multiethnizität der Vereinigten Staaten. Statt nach dem deutschen Element in der amerikanischen Kultur zu fragen, gibt die vielschichtige Darstellung auch Auskunft über das amerikanische Element deutscher Einwanderer. Die Figur im Bildzentrum steht nämlich bezeichnenderweise unter dem Bild des ersten amerikanischen Präsidenten, eingerahmt von zwei Säulenheiligen der amerikanischen Unabhängigkeit, Baron von Steuben auf der linken und dem französischen Offizier Marquis de Lafayette auf der rechten Seite.

Bier, Gemütlichkeit und Vereinsleben

Die schlanke Figur im Bildzentrum mit Zigarette, Wein und breitem Hut steht in bewusstem Gegensatz zu verbreiteten Klischees deutscher Immigranten als dickbäuchige Biertrinker, die Gemütlichkeit suchend und Pfeife rauchend dem zurückgezogenen Vereinsleben frönen. Als der Grafiker Frederick Graetz das Bild 1883 entwarf, dürfte er sich an Abbildungen Walt Whitmans, des amerikanischen Poeten par excellence, orientiert haben. Dessen Porträt war seit der Erstausgabe von „Leaves of Grass“ 1855 weit verbreitet. Im Sinne von Whitmans Diktum, dass die amerikanische Demokratie zwar in vielen Texten beschworen, in der Umsetzung allerdings ein Zukunftsprojekt symbolisiere, deutet das Bild auch auf transatlantische Spannungsmomente hin.


Porträts ethnischer Minderheiten von Winold Reiss. „King Amoah III, Gold Coast, Africa“, 1925; „Mexican Girl“, 1920; „Japanese Woman (Tama)“, 1930; „Dan Bull Plume“, 1948; „W.E.B. DuBois“, 1925.
Quelle: The Reiss Partnership, Montage von Frank Mehring

Demonstrativer Patriotismus

So lässt sich an den zum Teil grimmigen Gesichtern einiger Einwanderer ein schwelender Konflikt um ethnische Anerkennung erkennen. Auch die Rolle der Afro- Amerikaner als „der kranke Mann der amerikanischen Demokratie“, wie es der afro-amerikanische Autor und Philosoph Alain Locke beschreibt, steht im Raum, wenn die Feierlichkeiten für die Gäste aus China und England ins Chaos zu stürzen drohen. Weiterhin bliebe zu klären, welche Rolle Ethnizität in der Figur des Uncle Sam spielt. Amerikaner deutscher Abstammung, die sich zum patriotischen Modellamerikaner stilisierten, stießen nicht selten auf Widerstände. Im Kontext zweier Weltkriege traten die in der Karikatur angedeuteten ethnischen Spannungen offen zutage. Die Diskrepanz zwischen amerikanischem Gleichheitsversprechen und der Praxis ethnischer Diffamierung war für deutsche Intellektuelle der Anstoß, sich sozial zu engagieren. So konnten sie ihrem eigenen Anspruch an die Pflichten amerikanischen Staatsbürgertums gerecht werden. Immigranten wie Franz Boas, Kurt Weill oder Winold Reiss verschrieben sich dem Kampf gegen Rassismus und ergriffen Partei für politisch benachteiligte Minderheiten. Ihr demonstrativer amerikanischer Patriotismus erregte aber Widerspruch. Kritiker instrumentalisierten ihre vermeintliche „Bindestrich-Identität“ als Manko. Tituliert als „ausländische Brandstifter“, „fremde Aufrührer“ oder „vaterlandslose Gesellen“ sahen sich patriotische Immigranten mit einem doppelten Dilemma konfrontiert: Gerade im Moment der vermeintlichen Pflichterfüllung für die neue Heimat erkennen ihnen „nativists“ und politische Gegner den ersehnten Status des amerikanischen Staatsbürgers ab. An der Selbststilisierung zum Modellamerikaner, dem Aktivismus gegen ethnische Diskriminierung und den daraus entstehenden Konflikten lassen sich die Reaktionen auf das amerikanische Demokratieversprechen schärfer konturieren als an der Suche nach dem deutschen Element in der amerikanischen Kultur.

Weitere Informationen

Zu diesem Themengebiet arbeitet der Autor am John-F.-Kennedy-Institut im Rahmen eines DFG-Projekts mit dem Titel „Democratic Gaps: Transcultural Confrontations of German Émigrés and the Promise of American Democracy from 4th of July to 9/11“.