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Reine Nervensache

Neuromodulation verspricht Hilfe bei emotionalen Störungen

12.06.2008

Neuromodulation verspricht Hilfe bei emotionalen Störungen.

Neuromodulation verspricht Hilfe bei emotionalen Störungen.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Weltweit erkrankt fast jeder siebte Mensch einmal an einer Depression. Frauen sind davon doppelt so oft betroffen wie Männer.

Weltweit erkrankt fast jeder siebte Mensch einmal an einer Depression. Frauen sind davon doppelt so oft betroffen wie Männer.
Bildquelle: fotolia, Russ Glithero

Transkranielle Magnetstimulation: Der Wissenschaftler Alvaro Pascual-Leone war 1995 der Erste, der Magnetfelder zur Behandlung von Depressionen einsetzte.

Transkranielle Magnetstimulation: Der Wissenschaftler Alvaro Pascual-Leone war 1995 der Erste, der Magnetfelder zur Behandlung von Depressionen einsetzte.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Die Elektroenzephalographie ist ein Verfahren, mit dem man die Effekte der Tiefenhirnstimulation auf Hirnströme messen kann.

Die Elektroenzephalographie ist ein Verfahren, mit dem man die Effekte der Tiefenhirnstimulation auf Hirnströme messen kann.
Bildquelle: GNU-FDL

Emotionen, abgeleitet vom lateinischen Verb emovere – herausbewegen – sind ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens und Erlebens. Sie sind unabdingbar vor dem Hintergrund der verbalen und nonverbalen Kommunikation, und sie sind der Ursprung für viele Handlungen. Schon 1872 argumentierte Darwin, dass Gefühle hilfreich seien im Kampf um das Dasein. Im 21. Jahrhundert beschäftigt sich die Emotionspsychologie mit der Rolle der Gefühle insbesondere im Hinblick auf Erkrankungen in der Wahrnehmung und Regulierung von Gefühlen. Denn ein angemessener Umgang mit Emotionen ist die Grundlage für ein erfülltes psychisches Erleben. Sind diese emotionalen Prozesse gestört, können psychische Beschwerden, im Extremfall sogar gravierende psychiatrische Störungen auftreten. Neue Therapieverfahren geben nun Hoffnung auch bei schweren Erkrankungsformen.

Es gibt unterschiedliche Formen von Störungen des emotionalen Erlebens. Die Störungen können vor dem Hintergrund zu intensiver Emotionen auftreten, etwa bei Menschen mit Panikattacken. Sie können auch bei zu schwachen Emotionen auftreten, etwa bei Menschen, die nicht in der Lage sind, Gefühle zu äußern, emotional zu reagieren oder eigene Emotionen wahrzunehmen; hier handelt es sich um Personen mit alexithymen Eigenschaften. Weitere Gründe können Belastungsstörungen nach einem erlittenen Trauma oder zu lang anhaltende negative Emotionen sein, etwa im Fall einer chronischen mittelschweren depressiven Verstimmung – einer Dysthymie. Ebenfalls problematisch können nicht angemessene emotionale Reaktionen im zwischenmenschlichen Verhalten sein, etwa bei Menschen mit Schuld- und Minderwertigkeitsgefühlen.

Die mit Abstand häufigste Störung des emotionalen Erlebens und der Wahrnehmung von Emotionen stellen affektive Erkrankungen dar. Darunter versteht man depressive Erkrankungen, die zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen gehören und wegen ihrer Symptome und ihres Verlaufs bedeutsam für die Medizin und die Finanzierung des Gesundheitswesens sind: So wird einer Studie der Weltgesundheitsorganisation zufolge die Depression bis zum Jahr 2020 die zweithäufigste Ursache für eine Behinderung sein. Schon jetzt gilt, dass weltweit etwa jeder siebte Mensch einmal in seinem Leben an einer Depression erkrankt, wobei es Frauen doppelt so häufig trifft wie Männer.

Selbst in Fällen, in denen eine Depression erfolgreich behandelt worden ist, kommt es im Durchschnitt nach fünf Jahren bei jedem zweiten Patienten zu einem Rückfall und bei jedem zehnten Patienten zu einem chronischen Verlauf. Depressionen sind eine enorme Belastung: Sie gehen mit einem hohen Suizidrisiko einher und erhöhen die Gefahr einer Erkrankung des Herzkreislaufsystems.

Neuromodulation als neue Therapieoption

Neben den klassischen Verfahren zur Behandlung von Depressionen wie Medikation oder Psychotherapie wurde in den vergangenen zehn Jahren eine Vielzahl neuer Behandlungsmöglichkeiten eingeführt, die unter dem Begriff „Stimulationsverfahren“ zusammengefasst werden. Das rasch wachsende Wissen über neurobiologische Mechanismen, die der Depression zugrunde liegen, floss in die Entwicklung neuer Behandlungsverfahren ein. Dazu gehören die Magnetstimulation, die Vagusnervstimulation und die Tiefenhirnstimulation. Das neu gewonnene Wissen wurde auch genutzt, um etablierte Verfahren wie die Elektrokonvulsionstherapie weiterzuentwickeln.

All diese Therapieverfahren stehen in Konkurrenz zu etablierten antidepressiven Verfahren; sie müssen in den kommenden Jahren auf ihre Wirksamkeit und Verträglichkeit hin untersucht werden.

Zu den ältesten und effektivsten Verfahren zählt die Elektrokonvulsionstherapie. Dieser Therapieform bedienten sich erstmals die Italiener Ugo Cerletti und Lucio Bini im Jahr 1938 bei der erfolgreichen Behandlung eines schizophrenen Patienten. Die beiden Wissenschaftler lösten bei dem Patienten einen Krampfanfall aus – wobei sie auf jahrhundertealte Erkenntnisse der sogenannten Heilkrampftherapie zurückgriffen: Schon im Mittelalter hatte man bei Epilepsiepatienten direkt nach einem Krampfanfall nämlich Stimmungsveränderungen beobachtet. Dieses Phänomen wird als erzwungene Normalisierung bezeichnet. Stellte die Elektrokonvulsionstherapie – in der Bevölkerung eher als Elektroschocktherapie bekannt – früher eine brachiale Methode dar, so sind die mittlerweile praktizierte Art der Stimulation und die dabei eingesetzte Vollnarkose, die ein Entspannen der Muskeln ermöglicht, insgesamt sehr gut verträglich und allgemein akzeptiert. Während früher der Krampfanfall ohne Narkosemittel ausgelöst wurde, so geschieht dies heute in Zusammenarbeit mit dem Anästhesisten. In ihrer heutigen Form ist die Elektrokonvulsionstherapie ein für die Behandlung von Depressionen wirksames und für die Patienten risikoarmes Verfahren: In zahlreichen klinischen Studien zeigte sich eine deutliche Überlegenheit der Elektrokonvulsionstherapie gegenüber Plazebo-Therapien, bei denen Patienten zwar in Vollnarkose versetzt, aber nicht behandelt wurden. Überlegen ist diese Elektrokonvulsionstherapie zudem allen Behandlungen, bei denen Psychopharmaka eingesetzt werden.

Wirkmechanismus noch nicht geklärt

Doch so effektiv die Methode auch sein mag – der exakte Wirkmechanismus ist noch nicht vollständig geklärt. Die Elektrokonvulsionstherapie löst vermutlich eine Vielzahl von Prozessen aus: Sie führt möglicherweise zur Konzentration von Hormonen und Botenstoffen und sie beeinflusst unter Umständen das Wachstum von Nervenzellen. Obwohl die technischen Veränderungen in den vergangenen Jahren dazu beigetragen haben, dass die Methode besser akzeptiert wird als früher, steht ein Teil der Öffentlichkeit dieser wirkungsvollen Methode immer noch reserviert und kritisch gegenüber.

Eine neue Behandlungsform trägt diesem Umstand Rechnung und ist zudem besser verträglich: die sogenannte Magnetokonvulsionstherapie. Hierbei wird der therapeutische Krampfanfall mithilfe großer Magnetfelder unter Vollnarkose ausgelöst. Das Verfahren umfasst Elemente der Elektrokonvulsionstherapie und der sogenannten Magnetstimulation.

Es wird weltweit in nur wenigen klinischen Zentren erprobt, darunter in der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Bei ersten vielversprechenden Versuchen mit Primaten und Menschen an der Columbia University in New York konnten Wissenschaftler zeigen, dass die Magnetokonvulsionstherapie eine sichere Heilmethode ist. Zwar entfaltet sie ihre Wirkung ebenso wie die Elektrokonvulsionstherapie über elektrische Ströme, doch gibt es bei der Magnetokonvulsionstherapie deutlich geringere kognitive Nebenwirkungen wie Gedächtnisstörungen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Magnetwellen die Schädelknochen im Gegensatz zu elektrischen Strömen ohne größere Widerstände passieren und lediglich bis in eine Tiefe von zwei Zentimetern wirken; sie regen lediglich die gewünschten Hirnareale an.

Vagusnervstimulation – das erste operative Verfahren

Das erste operative Verfahren zur Behandlung von Depressionen war die Vagusnervstimulation. Sie wurde im Jahr 2007 von den amerikanischen Gesundheitsbehörden zur Behandlung von schwersten Depressionen zugelassen. Bei dem Verfahren wird über einen Schrittmacher, der wie ein Herzschrittmacher unterhalb des Schlüsselbeins eingesetzt wird, der linke Vagusnerv der Halsregion dauerhaft angeregt. In einer Pilotstudie mit 60 depressiven Patienten gingen nach einer zehnwöchigen Behandlung die depressiven Symptome bei 35 Prozent der Patienten um die Hälfte zurück. Eine Folgestudie, in der bei mehr als 200 depressiven Patienten per Zufall der Stimulator für zehn Wochen entweder ein- oder ausgeschaltet wurde, zeigte allerdings keinen Unterschied zwischen den beiden Vergleichsgruppen.

Tiefenhirnstimulation in einem Hirnareal

Ein weiteres, neues Verfahren zur Therapie von Depressionen, das sich noch in der Experimentalphase befindet, ist die Tiefenhirnstimulation, die „deep brain stimulation“. Die Methode wird seit zwei Jahrzehnten bereits erfolgreich in der Neurochirurgie eingesetzt, um Bewegungsstörungen zu behandeln. Ziel ist es, die krankhaft veränderte Aktivität von Nervenzellen eines Gehirnareals durch hochfrequente elektrische Impulse über implantierte Elektroden einzudämmen. In einer im Jahr 2005 veröffentlichten Pionierstudie der Arbeitsgruppe um die amerikanische Neurobiologin Helen Mayberg wurde erstmals an sechs Patienten mit einer Depression eine Tiefenhirnstimulation in einem Hirnareal vorgenommen, das eine wesentliche Rolle für emotionale Prozesse spielt. Das Areal ist unter anderem aktiv, wenn Menschen trauern und es reagiert überaktiv bei Personen mit Depressionen, bei denen eine Therapie nicht anschlägt.

Bei vier der sechs Patienten konnte länger als ein halbes Jahr lang ein anhaltend positiver Effekt beobachtet werden. Die Tiefenhirnstimulation ist im Gegensatz zu allen anderen Verfahren das einzige, bei dem auch tiefer gelegene Hirnregionen angesteuert und geheilt werden können. Verwendet werden Elektroden mit einem Durchmesser von nur einem Millimeter, die wie bei der Vagusnervstimulation mit einer Art Schrittmacher unterhalb des Schlüsselbeines verbunden sind. Bei beiden Therapieformen – Vagusnerv- und Tiefenhirnstimulation – ist es möglich, über einen externen Computer wichtige Parameter wie Frequenz, Intensität und Pulsweite der Stimulationen so zu verändern, dass die Nebenwirkungen minimiert und die Wirksamkeit verbessert werden können.

Pilotstudien an weltweit fünf Zentren

Ein Vorteil ist zudem, dass der Schrittmacher und damit die Stimulation an- oder ausgeschaltet werden kann. Derzeit wird die Wirksamkeit der Tiefenhirnstimulation in Pilotstudien an weltweit fünf Zentren bei Patienten mit schweren Depressionen untersucht – in Berlin, Bonn, Cleveland, Atlanta und Toronto. Zu den größten Risiken gehören Blutungen, Infektionen und Krampfanfälle – sie treten in Zentren mit erfahrenen Wissenschaftlern allerdings bei weniger als einem Prozent der Patienten auf. Zwar sind diese unerwünschten Wirkungen nicht unerheblich, doch sind sie – gemessen an dem Verlust der Lebensqualität und der hohen Suizidrate bei nicht behandelten Patienten – eher unbedeutend. Der Tiefenhirnstimulation könnte daher nicht nur bei Bewegungsstörungen eine wichtige Rolle zukommen, sie könnte künftig auch bei schweren Depressionen zu einer Art Therapie-Rettungsanker werden.

Bei allen Chancen, die diese Therapieform bietet, dürfen allerdings niemals die Erfahrungen der sogenannten Psychotherapie aus den 1950er Jahren aus dem Blick geraten: Damals wurden Patienten ohne ausreichende medizinische Grundlage und ohne Rückgriff auf Langzeitdaten behandelt – mit vielfach tragischen Konsequenzen. Diese Fälle sollten der Wissenschaft eine mahnende Erinnerung sein.