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Das Leid der Angehörigen

Wie Depression die Familie krank machen kann

12.06.2008

Wie Depression die Familie krank machen kann.

Wie Depression die Familie krank machen kann.
Bildquelle: iStockphoto, Angus Beare

Familienangehörige sind oft die ersten, die Veränderungen an erkrankten Partnern wahrnehmen und zu einer Behandlung raten.

Familienangehörige sind oft die ersten, die Veränderungen an erkrankten Partnern wahrnehmen und zu einer Behandlung raten.
Bildquelle: iStockphoto

Depressionen bewirken häufig Kommunikationsstörungen – bis hin zum Abbruch des sozialen Kontakts.

Depressionen bewirken häufig Kommunikationsstörungen – bis hin zum Abbruch des sozialen Kontakts.
Bildquelle: iStockphoto

Sorgen, Ängste und das Erleben von Trauer sind typische Reaktionen von Menschen, deren Partner an Depressionen leiden.

Sorgen, Ängste und das Erleben von Trauer sind typische Reaktionen von Menschen, deren Partner an Depressionen leiden.
Bildquelle: fotolia, Marc Berger

Diagnose: Depression. Mehr als vier Millionen Menschen sind nach Schätzung des Bundesgesundheitsministeriums gegenwärtig an Depression erkrankt. Meistens sind es Familienangehörige, die erste Veränderungen an ihrem depressiv erkrankten Angehörigen wahrnehmen. Und oft sind sie es, die ihn drängen, sich behandeln zu lassen. Doch die Krankheit, die die Patienten quält, belastet auch die Angehörigen. Sie bekommen allerdings bislang kaum Hilfe.

„Jan fühlt sich abgeschlagen und müde, kommt morgens kaum in Gang“, schreibt Hannelore Holtz in ihrem Buch Schatten auf der Seele. Mein Mann ist depressiv. „Frühjahrsmüdigkeit, denken wir. Oder vielleicht eine beginnende Grippe? Die Symptome sind allerdings eher untypisch. Zum Arzt gehen will Jan nicht – eigentlich fehlt ihm doch gar nichts. Es wird schon besser werden. Aber es wird nicht besser. Zunächst ist es nichts weiter als diese unerklärliche Müdigkeit und Antriebslosigkeit.

Niemand bemerkt die Angst

Dann kommen plötzlich Herzklopfen und Angstzustände dazu. Diese Angst erfüllt Jan morgens, er stürzt ins Bad, würgt, erbricht sich, er zittert am ganzen Leib – und hat keine Ahnung, warum. Nur mit äußerster Anstrengung schafft er es, ins Büro zu fahren. Dort fühlt er sich dann merkwürdigerweise wieder besser. Niemand scheint zu merken, dass ihm etwas fehlt. Er arbeitet wie immer. Macht seine Scherze mit Kollegen, führt Gespräche, nimmt an Konferenzen teil und trifft Entscheidungen. Dann ändert sich auch das: Sein Arbeitstag beginnt zunächst völlig normal, aber dann sieht er sich auf einmal außerstande, ein ganz unwichtiges Problem anzugehen, ein harmloses Gespräch mit einem Mitarbeiter führt zu Schweißausbrüchen und Herzrasen. Mittags geht Jan nach Hause, abends kommt der Arzt.“ Familienangehörige sind oft die ersten, die Veränderungen an erkrankten Menschen wahrnehmen. Oftmals sind sie es, die dem oder der Erkrankten aufgrund ihrer Beobachtungen zu einer Behandlung raten oder diese initiieren.

Komplexe Wechselwirkungen

Seit Mitte der 1950er Jahre untersuchen Wissenschaftler der sozialen Psychiatrie, welchen Belastungen Angehörige psychisch Erkrankter ausgesetzt sind und welchen Einfluss das Zusammenleben mit Menschen in Krisensituationen oder mit chronisch psychischen Erkrankungen auf die Familie und das Wohlbefinden der  einzelnen Familienmitglieder hat. In den 1960er Jahren versuchte man zunächst, zwischen objektiven und subjektiven Belastungen der Familienmitglieder zu unterscheiden; heute geht man von einer komplexen Wechselwirkung der Einflussfaktoren und deren Folgen aus.

So wurde untersucht, ob depressives Verhalten mit typischem Verhalten im Umgang mit Mitmenschen einhergeht. Depressive Menschen suchen verstärkt nach Bestätigung, Rückversicherung und positiver Rückmeldung durch ihre Umwelt. Bekommen die Erkrankten positive Rückmeldungen, werden diese negiert und nicht angenommen – sie passen nicht in ihr negatives Selbstbild. Eine Zwickmühle: Depressive Menschen verwickeln ihre Gesprächspartner in einen widersprüchlichen kommunikativen Zwangsprozess, fordern immer mehr bestätigendes Feedback. Doch je mehr der gesunde Partner darauf eingeht, desto stärker werden das Negieren und die Ablehnung des eigenen Verhaltens. Egal, was gesagt wird, der depressive Partner kann es so lange drehen und wenden, bis es ein Zeichen seiner Wertlosigkeit wird. Will man ihm helfen, zeigt man ihm nur, dass er es allein nicht kann. Will man ihm zeigen, wie gern man ihn hat, so zweifelt er dies an oder wertet es als Strategie zum Aufheitern ab. Es kann im Ergebnis zu einer Art „Burn-out“ auf Seiten des nicht depressiven Interaktionspartners führen: Je mehr er sich engagiert, umso stärker hat er das Gefühl, dass seine Versuche ins Leere laufen, nichts bewirken oder ins Gegenteil verkehrt werden.

Auswirkungen auf das soziale Umfeld

Die Situation wird im Verlauf der Interaktion zunehmend unkontrollierbar und entfaltet eine für beide Partner destruktive Eigendynamik, die wiederum die Depression verstärken kann. Depressionen haben somit charakteristische Auswirkungen auf das soziale Umfeld. Die Folgen reichen von Kommunikationsstörungen in der Beziehung bis zum Abbruch des Kontakts.

Nicht depressive Partner können ihrerseits Symptome von Stress und Belastung entwickeln. In mehreren Studien fand man heraus, dass depressives Verhalten zu Abwehr und Ablehnung bei den Interaktionspartnern führen kann. Nach der Begegnung mit einem depressiven Menschen zeigten Untersuchungsteilnehmer weniger Interesse an weiteren Kontakten zu ihm als nach dem Zusammensein mit nicht depressiven Personen. Auch stuften die Untersuchungsteilnehmer ihr Befinden als stärker depressiv ein als nach der Interaktion mit nicht depressiven Personen. Depressive Stimmung kann demnach tatsächlich „ansteckend“ sein.

Wer Patienten 20 Jahre lang begleitet, stellt fest, dass sie in mehr als der Hälfte dieser Zeit als depressiv eingestuft werden müssen, wenn auch häufig auf einem leichten oder unterschwelligen Niveau.

Stadien unterschiedlicher Schwere

Depression wird heute als chronische Krankheit verstanden, die von Stadien unterschiedlicher Schwere gekennzeichnet ist. Vor diesem Hintergrund muss auch die Situation der Angehörigen neu eingeordnet werden mit dem Fokus auf langfristige Folgen und Anpassungsprozesse in der Familie. Welche spezifischen Belastungen erleben Angehörige also, und wie gehen sie mit Ihnen um?
Angehörige von Patienten mit bipolaren Störungen schätzen manische Symptome als belastender ein als Angehörige schizophrener Patienten. Ein Grund hierfür könnten unterschiedliche subjektive Krankheitstheorien und Deutungsmuster der Angehörigen sein, die einen Einfluss darauf haben, wie belastend die Angehörigen die Situation empfinden. In einer Untersuchung von Partnern bipolarer Patienten gab mehr als die Hälfte der Befragten an, sie hätten ihren Partner nicht geheiratet, hätten sie vom Ausmaß der Belastungen für sie und ihre Familienangehörigen gewusst. Trennungsgedanken von Partnern der Patienten im Verlauf von Depressionen zählen zu den häufigsten subjektiven Reaktionen auf die veränderte Situation. Sie spiegeln einerseits die unter Umständen parallel bestehenden Kommunikations- und Partnerschaftsstörungen wider. Andererseits fühlen sich viele Partner dermaßen stark überfordert, dass sie der Situation am liebsten entfliehen würden.Zu den emotionalen Reaktionen der Angehörigen zählen vor allem Sorgen, Ängste und Unsicherheit sowie das Erleben von Verlust und Trauer.

Interesseverlust, Grübeln, Ermüdung, Hoffnungslosigkeit

Als besonders belastende Charakteristika der Krankheit geben Angehörige unipolar depressiver Patienten den Interesseverlust, das Grübeln, die Ermüdung, die Hoffnungslosigkeit des Patienten sowie die Rückfallgefahr an. Ist ein Familienmitglied depressiv, so erhöht dies die Gefahr, dass auch andere Familienangehörige anfällig für Krankheiten werden. So geben die Hälfte der befragten Familien mit einem depressiven Familienmitglied an, dass sie ihre eigene Familie als ungesund betrachten, und sie schätzen ihre körperliche Gesundheit allgemein schlechter ein als Befragte einer Kontrollgruppe. Schätzungsweise die Hälfte der Partner depressiver Patienten entwickelt selbst eine Depression, die behandelt werden muss, vor allem in akuten Krankheitsphasen des depressiven Familienmitglieds.

Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung findet man in den Partnerschaften depressiver Patienten neben einer problembelasteten Beziehung zum Partner häufig ein erhöhtes Konfliktpotenzial und Kommunikationsstörungen. Die alltäglichen Abläufe in den Familien mit einem depressiven Angehörigen werden durch die Krankheit stärker beeinträchtigt als in Familien von Patienten, die an Alkoholabhängigkeit, Schizophrenie, Angststörungen oder Anpassungsstörungen leiden. Besonders charakteristisch für die Partnerschaften depressiver Menschen ist die mangelnde Fähigkeit, Probleme zu lösen und effektiv mit Stress umzugehen.

Zieht sich der depressive Partner zurück und wird einsilbig oder schweigsam, befürchten viele Angehörige zunächst eher eine Beziehungskrise als eine Krankheit. Zeigen die Partner depressiver Patienten dann ihrerseits Vermeidungsverhalten, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sie selbst mit Angst und Depression reagieren und die Partnerschaft in der Sackgasse sehen.

Informationen über die Krankheit sammeln

Wenn Angehörige beginnen, sich mit der Krankheit auseinanderzusetzen, steht am Anfang die Suche nach Informationen. Der Behandlungsbeginn wird als Ausgangspunkt für weitere Schritte angesehen. Diese Lernphase ist begleitet von der Hoffnung auf Besserung und der Zuversicht, sich der veränderten Lebenssituation anpassen zu können. Im zweiten Schritt revidieren die Angehörigen ihre häufig zu großen Hoffnungen und Erwartungen, da sie eigene Grenzen im Umgang mit der Situation erkennen und die Grenzen der Behandlung erfahren. So entsteht ein realistisches Bild der Erkrankung und ihrer Auswirkungen. Dieser Prozess ist häufig mit Gefühlen der Trauer und des Verlustes, der Sorge und der Resignation verbunden.

In einer dritten Phase versuchen die Angehörigen, die Eigenverantwortung des Patienten zu sehen, ihre Verantwortung und die Grenzen ihrer Verantwortlichkeit anzuerkennen. Dieser Zeitraum ist meist von Ambivalenz und Spannungen gekennzeichnet, da die Grenzen der Verantwortung mit dem Patienten ausgehandelt werden müssen. In einer vierten Phase des Lebens mit der Krankheit bilanzieren die Angehörigen die Auswirkungen der Veränderungen auf den eigenen Lebensalltag und orientieren sich unter Umständen neu.

Realistisches Bild der Erkrankung und ihrer Auswirkungen

Die zentrale Frage ist, wie sie mit der Situation umgehen können, ohne die Grenzen der eigenen Belastbarkeit zu überschreiten oder ihre Lebensziele zu verleugnen. Von dem Ausmaß des Erfolgs, mit dem die Auseinandersetzung mit der Erkrankung bezogen auf eigene Verantwortungen gelöst wird, hängt es letztlich ab, wie Angehörige die Situation kognitivemotional verarbeiten und in den konkreten Alltagssituationen handeln.

Für die Situation der Angehörigen sensibilisieren

Angehörige erhalten im Angebot psychosozialer Hilfe noch immer zu wenig Unterstützung. Da das Ausmaß der Belastungen und Veränderungen durch eine Depression oft nicht angemessen wahrgenommen wird, ist dringend notwendig, die Gesellschaft für die Situation der Angehörigen und ihr Erleben zu sensibilisieren. Selbst Kliniker unterschätzen, wie sehr das Ausmaß der Belastungen von Angehörigen der Patienten mit bipolaren Störungen von deren Selbsteinschätzungen abweichen. In Umfragen werden Depressionen häufig zu einer Folge von Charakterschwäche stigmatisiert – und nicht als psychische Störung erkannt. Aufklärung und ein leichterer Zugang zu den vielfältigen Formen der Behandlungsmöglichkeiten, die die Familie des Patienten einschließen, könnten dem abhelfen.

Selbsthilfe und eine gezielte Vernetzung der Angehörigen

Es gibt neben der Paar- und Familientherapie weitere Möglichkeiten, die Situation der Angehörigen selbst zum Gegenstand der Intervention zu machen: Selbsthilfe und eine gezielte Vernetzung der Angehörigen in Verbänden. Vor allem in Großbritannien und den USA wurden Programme zur Aufklärung und Entlastung der Angehörigen entwickelt und evaluiert. Dass Angehörige hierzulande nach wie vor unzureichend in die Behandlung von Depressionen einbezogen werden, ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Ausbildungscurricula in diesem Punkt mangelhaft sind und die Perspektive von Angehörigen in Ausbildungsprogrammen nicht berücksichtigt ist. Ein Problem ist zudem die vollkommen unzureichende Finanzierung der Unterstützung von Angehörigen depressiver Personen. Folglich sind es vor allem drei Faktoren, die eine angemessene Arbeit auch mit Angehörigen behindern: wenig evaluierte Programme, unzureichende Kompetenzen und Sensibilisierung für die Situation und die Bedürfnisse der Angehörigen sowie mangelnde Finanzierung. Angehörigen kann nur dann erfolgreich geholfen werden, wenn Anstrengungen auf allen drei Ebenen unternommen werden.