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Über das Anhalten aller Uhren

Warum Trauerriten verloren gehen

12.06.2008

Warum Trauerriten verloren gehen.

Warum Trauerriten verloren gehen.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Der Funeral Blues von W. H. Auden (im Bild rechts neben dem englischen Schriftsteller Christopher Isherwood) gilt vielen als Aufschrei der Trauer um einen geliebten Menschen. Fotografie von Carl van Vechten.

Der Funeral Blues von W. H. Auden (im Bild rechts neben dem englischen Schriftsteller Christopher Isherwood) gilt vielen als Aufschrei der Trauer um einen geliebten Menschen. Fotografie von Carl van Vechten.
Bildquelle: Library of Congress Prints and Photographs Division

Nach dem Tod von Lady Diana vollzog sich ein spontaner, kollektiver und öffentlicher Akt des Trauerns.

Nach dem Tod von Lady Diana vollzog sich ein spontaner, kollektiver und öffentlicher Akt des Trauerns.
Bildquelle: ullsteinbild

Paulus forderte im Brief an die Thessalonicher in der Kontingenzerfahrung der Trauer ein unterscheidbares, glaubensbegründetes Verhalten.

Paulus forderte im Brief an die Thessalonicher in der Kontingenzerfahrung der Trauer ein unterscheidbares, glaubensbegründetes Verhalten.
Bildquelle: KHI/Freie Universität Berlin

Im Koran finden sich maßgebliche Anweisungen für die Zeit des Trauerns.

Im Koran finden sich maßgebliche Anweisungen für die Zeit des Trauerns.
Bildquelle: flickr/crystalina

König David trauerte um seinen Sohn Absalom – obwohl dieser ihm den Thron entreißen wollte. Holzschnitt nach Gustave Doré.

König David trauerte um seinen Sohn Absalom – obwohl dieser ihm den Thron entreißen wollte. Holzschnitt nach Gustave Doré.
Bildquelle: ullsteinbild

Im Judentum gibt es eine siebentägige Trauerzeit, an die sich 30 Tage der Reintegration in den Alltag anschließen.

Im Judentum gibt es eine siebentägige Trauerzeit, an die sich 30 Tage der Reintegration in den Alltag anschließen.
Bildquelle: fotolia, Abba Richman

Ob der englische Schriftsteller W. H. Auden seinen Funeral Blues ironisch verstanden oder ihn als ernst gemeinten Abschiedsgesang geschrieben hat, ist in der Auden-Forschung weithin umstritten. Von dieser akademischen Debatte zeigen sich die Rezipienten des Textes jedoch völlig unberührt. Er wird gelesen als Aufschrei der Trauer um einen geliebten Menschen, als Identifikationstext, der die eigenen Emotionen widerspiegelt, dass nämlich alles und jedes nur und ausschließlich um diesen Verlust kreist, der das eigene Leben zerstört. Zeilen des Gedichts haben den Weg in Todesanzeigen gefunden, und zwar an die Stelle, an der einstmals Bibelverse standen.

Funeral Blues

Stop all the clocks, cut off the telephone,
Prevent the dog from barking with a juicy bone,
Silence the pianos and with muffled drum
Bring out the coffin, let the mourners come.

Let aeroplanes circle moaning overhead
Scribbling on the sky the message He Is Dead,
Put crêpe bows round the white necks of the public doves,
Let the traffic policemen wear black cotton gloves.

He was my North, my South, my East and West,
My working week and my Sunday rest,
My noon, my midnight, my talk, my song;
I thought that love would last for ever: I was wrong.

The stars are not wanted now: put out every one;
Pack up the moon and dismantle the sun;
Pour away the ocean and sweep up the wood.
For nothing now can ever come to any good.

W. H. Auden

Die notwendigen Riten

Selbst diese geringfügige Beobachtung kann als ein Indiz dafür genommen werden, dass überkommene Trauerriten zwar schwinden, sich aber neue etablieren, ohne indessen die gleiche Allgemeingültigkeit zu erlangen. Damit vollzieht sich allerdings ein Prozess, der die den traditionellen Trauerriten zugewachsene Funktion verunmöglicht: Trauerriten verhelfen dem trauernden Individuum dazu, sich der Gruppe als solches durch Riten mitzuteilen und seine emotionale Situation öffentlich zu machen. Dadurch vermag es zu einer Form des Schutzes und der Solidarität innerhalb der Gruppe kommen. Zugleich kann die Gruppe durch die öffentlich erkennbare Trauer darauf angemessen reagieren und zu einer Reintegration der trauernden Person beitragen.

Insofern die Komponente der gruppenbezogenen Kommunikation des Status der Trauer fehlt und diese nur mehr individuell ertragen und erlebt, aber nicht ausgelebt wird, verlieren Riten die Potenz der Reintegration und des sozialen Zusammenhalts. Aufgrund dieser Wechselbeziehung von Individuum und Gruppe hat der Verlust sozialer Verhaltensnormen im Trauerfall zur Folge, dass dem trauernden Individuum keine allgemein anerkannte Form des Trauerns mehr zur Verfügung steht, es mithin allein ist, und zwar gerade in einer Situation, in der es sich als verlassen erfährt.

Das Individuum braucht soziale Modelle des Trauerns

So sehr individuelle Trauer ein seelischer oder intrapsychischer Prozess ist, so sehr ist das Individuum darauf angewiesen, auf soziale Modelle des Trauerns zurückzugreifen, die ihm dazu verhelfen, die Realität wiederzugewinnen. Die Wiedergewinnung der Welt, ihrer nicht im Trauern verloren zu gehen, ist die eigentliche, notwendige Trauerarbeit.

Daneben gibt es auch Formen kollektiven gesellschaftlichen Trauerns, die von denen des staatlichen Gedenkens, die weitgehend traditionellen Vorgaben folgen, zu unterscheiden sind. Das kollektive Trauern kann in überkommenen Ritualen kanalisiert werden oder sich neue Ausdrucksformen schaffen, die zu einer Reritualisierung führen.

Für das eine Modell stehen unter anderem die ökumenischen Gedenkgottesdienste, die trotz abnehmender Zugehörigkeit zu den Kirchen in bestimmten Krisensituationen ihren festen Platz in der Kultur des Trauerns haben; erinnert sei etwa für die Bundesrepublik Deutschland nur an die Gottesdienste anlässlich der Oderflut 1997 oder des Tsunamis. Aber auch der interreligiöse Gottesdienst nach dem Mordanschlag auf das World Trade Center zeigte das Vermögen traditioneller Formen, auf Verlusterfahrungen zu antworten.

Ausdrucksformen des kollektiven Trauerns

Für das andere Modell, das der spontanen, sich im Akt des Trauerns vollziehenden Ritualisierung, stehen die Ereignisse nach dem Tod von Diana Frances Mountbatten-Windsor, Prinzessin von Wales, im Spätsommer des Jahres 1997. Zwar sind die Mechanismen des Entstehungsprozesses dieses kollektiven Trauerns noch nicht hinreichend geklärt, die Ausdrucksformen desselben jedoch im Übermaß dokumentiert. Interessanterweise fanden sich dabei vorrangig die des Abschiednehmens von der Verstorbenen, also Blumen, Totengeschenke, Briefe und ein weitgehend stiller Protest gegen ihr Sterben, der freilich in der Erzwingung öffentlicher Trauersymbole wie dem der Flaggensymbolik mündete. Betrachtet man die Dokumentationen dieses Trauerns, das exzessive Züge annahm, könnte man fast meinen, W. H. Auden habe dazu das Drehbuch geschrieben.

Dass diesen Ereignissen Vorbildcharakter für individuelle Trauer zuwuchs, kann man bei Unglücken oder tragischen Ereignissen feststellen. Die Orte des Geschehens werden durch Abschiedsgaben, etwa Blumen, Kerzen oder Spielzeug, zu temporären Trauerorten umgewidmet. Die Ausbildung von neuen Trauerriten durch die medialen Kommunikationsmittel ist noch nicht hinreichend erforscht. Die Existenz von Trauertagebüchern, Trauerseiten und Gedenkbüchern im Internet lässt freilich die Vermutung zu, dass es hier noch weitere Entwicklungen geben wird. Ob die virtuelle Trauerbewältigung tatsächlich dazu verhelfen kann, individuelle Verluste zu verarbeiten und zu bestehen, bleibt fraglich.

Zwei Erzählungen vom Trauern

Die Bibel als ein Buch der Erinnerung von Menschen auf der Suche nach einem Leben mit Gott hat manches zum Trauern zu sagen. Dabei ist es durchaus bemerkenswert, dass beide Teile der christlichen Bibel verlangen, dass man sich in der Trauer wahrnehmbar von anderen Gläubigen unterscheidet. Die Begründung für diese Forderung erfolgt dabei aus der Mitte des Glaubens selbst. Übrigens ist die Distanzierung von heidnischen Riten des Trauerns in allen drei großen monotheistischen Religionen anfänglich Maßstab der Trauerriten, was aber die Rezeption von religionsfremden Elementen nicht verhinderte.

Asche und Staub, zerrissene Kleidung und Klagefrauen

In der hebräischen Bibel handelt es sich um 5 Mose 14,1 und im Neuen Testament um 1 Thess 4,13. Im Text aus dem Deuteronomium wird mit dem Bezug auf die Heiligkeit Gottes und die Heiligkeit Israels eingeschärft, sich Trauerriten anderer nicht zu eigen zu machen, wobei das Verbot ein Indiz dafür ist, dass der Ritus des Ritzens und Schneidens durchaus praktiziert wurde. „Ihr seid Kinder des HERRN, eures Gottes. Darum sollt ihr euch keine Einschnitte machen, noch euch kahlscheren zwischen euren Augen wegen eines Toten.“ Aus welchen Gründen gerade diese Riten gebrandmarkt werden, ist nicht sicher auszumachen. Wahrscheinlich ging es dabei um kultische Akte der Totenangleichung, die als Bedrohung und Verunreinigung und damit Verletzung des Heiligkeitsstatus wahrgenommen wurden. Ansonsten zeigen sich weniger Berührungsängste: Riten, die im ganzen nahöstlichen Mittelmeerraum verbreitet waren, finden sich auch in Israel, etwa das Bestreuen mit Asche und Staub, Zerreißen der Kleidung und die Trauer begleitenden Klagefrauen (Amos 5,16; Jer 6,26; 9,16.17; Ez 27,30; 2 Sam 13,19; 14,2).

Der neutestamentliche Satz, der gerade in der Kontingenzerfahrung der Trauer ein unterscheidbares glaubensbegründetes Verhalten fordert, findet sich im ältesten Brief des Paulus, dem an die Thessalonicher. In der Gemeinde war es wegen Todesfällen zu einer Krise gekommen. „Wir wollen euch aber, Geschwister, nicht in Unwissenheit lassen wegen der Entschlafenen, damit ihr nicht trauert wie die übrigen, die keine Hoffnung haben.“ Die Andersartigkeit des Trauerns wird mit der Auferstehung Jesu Christi begründet; nicht explizit wird gesagt, ob es sich nur um einen Habitus des Trauerns oder auch um Versagung bestimmter Riten handelt. Allerdings ist angesichts der antiken Trauerriten mit gutem Grund anzunehmen, dass Paulus hier beide Aspekte im Blick hat. Beide Sätze, sowohl der alttestamentliche wie der neutestamentliche, lassen erkennen, dass sie im Wissen um die Wichtigkeit der Trauerriten für das Individuum und die Gruppe formuliert sind. Deswegen müssen sie Orte der Bewährung des Glaubens sein.

Geschichten vom Trauern und seinen Riten

Die Bibel kennt Geschichten vom Trauern und seinen Riten, wobei diese Formen der Angleichung an den Toten dienen. Der trauernde Mensch versetzt sich selbst in einen dem Toten ähnlichen Status. Asche, Staub und ein sackartiges Gewand spielen dabei eine große Rolle. So heißt es über die Reaktion des Jakob auf die vermeintliche Nachricht vom Tod seines Lieblingssohns Joseph: „Und Jakob zerriss seine Kleider und legte einen Sack um seine Lenden und trug Leid um seinen Sohn lange Zeit. Und alle seine Söhne und Töchter traten auf, daß sie ihn trösteten; aber er wollte sich nicht trösten lassen und sprach: Ich werde mit Leid hinunterfahren in die Grube zu meinem Sohn. Und sein Vater beweinte ihn.“ (Gen 37,34f) 

König David trauert um seinen Sohn

Kaum verwunderlich ist es, dass das Thema Trauerriten auch im Erzählkranz um König David eine Rolle spielt. Sein gewiss nicht intrigen- und gewaltfreies Dasein kostete viele Menschenleben, darunter solche, mit denen ihn familiäre Beziehungen verbanden. Zwei Schilderungen sind es, die besondere Aufmerksamkeit verdienen. In beiden wird David als um einen Sohn trauernd dargestellt, und beide enthalten eine implizite Kritik an Trauerritualen. In 2 Sam 12,13 – 25 wird die Geschichte des Erstgeborenen aus der ehebrecherischen und mörderischen Beziehung mit der Frau des Uriah erzählt, den David geschickt beseitigt hatte. David wird angekündigt, dass der Sohn sterben werde. Daraufhin beginnt David vor dem Tod mit den Trauerriten: „Und David suchte Gott um des Knäbleins willen und fastete und ging hinein und lag über Nacht auf der Erde.“ Beim Tod des Kindes beendet er die Riten sofort und nimmt sein gewöhnliches Leben wieder auf; die Höflinge, die über das Verhalten des Königs mehr als verwundert sind, bekommen als Erklärung von ihm die Auskunft: „Er sprach: Um das Kind fastete ich und weinte, da es lebte; denn ich gedachte: Wer weiß, ob mir der HERR nicht gnädig wird, dass das Kind lebendig bleibe. Nun es aber tot ist, was soll ich fasten? Kann ich es auch wiederum holen? Ich werde wohl zu ihm fahren; es kommt aber nicht zu mir.“ Das eigentlich Skandalöse des Textes ist die Instrumentalisierung der Trauerriten zu magischen Praktiken durch den König. Er will dem Urteil Gottes entgehen, indem er versucht, sich als Trauernder zu erweisen. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass dieser Text vorrangig wegen der Intention tradiert wurde, Trauerriten auf ihre Funktion der Verlustbewältigung zu beschränken und sie nicht zu Beschwörungsritualen werden zu lassen, gleichsam zu einer verqueren Art der Totenbeschwörung.

Die Palastrevolte des Sohnes Absalom

Während sich David bei diesem Sohn als recht berechnend zeigt, geht es bei der Trauer um einen anderen Sohn – David war kein besonders glücklicher Vater – um das Übermaß an Trauer (2 Sam 19,1-9). Bei einer Palastrevolte durch seinen Sohn kann sich der König nur durch Flucht retten. Es gelingt den ihm treu ergebenen Soldaten, den Aufstand niederzuschlagen und den Thronräuber zu töten. Als man jedoch dem König die Nachricht überbringt, reagiert dieser völlig anders als erwartet.

David zieht sich in den Verlust zurück

Statt sich am Sieg seiner Soldaten und der Wiedergewinnung der Macht zu erfreuen, verfällt er in tiefste Trauer: „Da ward der König traurig und ging hinauf auf den Söller im Tor und weinte, und im Gehen sprach er also: Mein Sohn Absalom! Mein Sohn, mein Sohn Absalom! Wollte Gott, ich wäre für dich gestorben! O Absalom, mein Sohn, mein Sohn!“ Neben dem Klageritual, das hier ein Mann vollzieht, wird die irreale, emotional aber wahrhaftige Bitte formuliert, an der Stelle des Toten zu sein. Der König hat seinen Kontakt zur wirklichen Welt, das bedeutet hier zur Macht, verloren. Er zieht sich in den Verlust zurück. Die Erzählung erhält dadurch eine Wendung, dass der Oberbefehlshaber der Truppen vor einer neuerlichen Revolte warnt, diesmal von Seiten der Soldaten. Die Haltung des Königs, sein radikales Trauern, wird von ihm richtig eingeschätzt: „Denn heute erkenne ich, dass, wenn Absalom lebendig und wir alle heute tot wären, dass es dann recht wäre in deinen Augen.“ Der Verlust des einen kann nicht durch andere ersetzt werden, obwohl der Totentausch dem Empfinden entspricht.

Gemeinsam ist diesen beiden Texten neben ihrer impliziten Kritik an David eine gewisse Reserve gegenüber der Trauer und ihren Ausdrucksformen. Geht es im ersten Fall um die magische Komponente, so ist es im zweiten das Übermaß der Trauer, das den Menschen an der Wahrnehmung seiner Weltbezogenheit hindert. Die Nähe von Trauer um den Toten zur Angleichung an ihn ist das Subthema des Textes. Grenzenlose Trauer wird als Destruktion des sozialen Lebens gedeutet. Der schmale Grat, der Trauer von versteinernder Depression und Trauerriten von selbstzerstörerischer Selbstaufgabe trennt, wird hier eindrücklich beschrieben. Diese Wahrnehmung der Bedrohung des Menschen durch das Trauern ist eher eine Konstante als die Trauerriten selbst. Denn ihr liegt die Erkenntnis zugrunde, die Homer im 18. Gesang der Odyssee formulierte: „Es mehrt unendliche Trauer das Elend.“

Trauer tragen

Es gab Zeiten, die so lange noch nicht vorbei sind, als man an der Kleidung eines Menschen nicht nur seine gesellschaftliche Stellung, sondern auch seine Befindlichkeit ablesen konnte. Ein schwarzer Anzug mit schwarzer Krawatte signalisierte unverkennbar, dass ein Mann trauerte. Je nach regionalen Gegebenheiten konnte in feinen Abstufungen der jeweilige Zeitpunkt der Trauer unterschieden werden. Mehrten sich hellere Töne, hatte die Zeit des Abtrauerns begonnen, in der die Teilnahme an gesellschaftlichen Ereignissen wieder möglich wurde. Es steht außer Frage, dass diese starren Regeln für manche eine Qual waren, ihr Verschwinden ist aber gewiss ein eindeutiges Indiz dafür, dass Trauern dem öffentlichen Bereich entzogen und individualisiert wurde. Denn das Ritual, während der Trauerzeit zeichenhafte Kleidungselemente zu tragen, gehört zu den ältesten Trauerriten, die sich sonst sehr variabel zeigen. Das Verschwinden dieses epochenüberschreitenden und kulturübergreifenden Brauchs, der von der Farbe über das Material bis zum Zerreißen der Kleidung reichte, markiert eine Wende in der Praxis der Trauerriten als kommunikativem Geschehen.

Mag man noch bisweilen die Trauerbinde oder den Trauerflor sehen: Sie sind bereits Dokumente eines untergegangenen kollektiven Rituals, das vielen ohnehin nicht mehr verständlich ist.

Trauer als kollektives Ritual verschwindet

Man hat versucht, diese Entwicklung in den modernen europäischen Gesellschaften ausschließlich aus dem parallel laufenden Prozess der Anonymisierung des Sterbens und Todes zu erklären. Selbst wenn man annähme, dass diese Konstruktion der Geschichte des Todes zuträfe, die freilich zumeist eine Geschichte des Sterbens der Mächtigen und Besitzenden war und ist und der Elenden, die immer schon anonym starben, nicht gedenkt, dann müsste erklärt werden, aus welchen Gründen neuzeitlich zwischen Sterbe- und Bestattungskultur und Trauerriten ein so enges Interdependenzgeflecht bestand. Traditionell sind Sterben und Begräbnis Anlass, Ort und Zeit im Trauerprozess, aber nicht mit den Riten des Trauerns identisch. Eher ist als eine beachtenswerte Ursache des Verschwindens des öffentlichen Trauerns anzunehmen, dass Trauern als Stillstand und Innehalten des Lebens nicht konsumabel ist und sich dem Konsumismus verweigert. Trauern gehört zu den menschlichen Emotionen, denen kein Warencharakter zukommt und die daher auch nicht vermarktbar sind. Trauern ist vielmehr ein Bruch und eine Infragestellung des Systems.

Trauern in der Leere der Konsumwelt

Der häufig zu findende Hinweis, Trauerriten hätten sich insbesondere noch in ländlichen Regionen gehalten, konnotiert diese Riten mit Rückständigkeit und Unzeitgemäßheit. Dass der konsumistischen Welt Trauern als Demonstration ihrer eigenen Leere dieser Welt unheimlich ist, kann man durchaus nachvollziehen.

Weitgehend überschätzt wird die Verbindung von Trauerriten und religiöser Zugehörigkeit des Individuums. Denn die christlichen Kirchen hatten theologisch eine kritische Haltung gegenüber einer selbstvergessenen Trauer, da sich darin ein Zweifel an der Auferstehungshoffnung dokumentieren konnte. Sie verwiesen auf das Gebet als Hilfe in der Phase der Trauer – im katholischen Glauben durch die Meditation des Rosenkranzes – und strukturierten die Zeit der Trauer durch Gedenkgottesdienste, die durch das Jahresgedächtnis abgeschlossen wurden. Da das Trösten der Trauernden als Werk der Barmherzigkeit gilt, ist der Besuch von Trauernden als Akt der Reintegration in die Gruppe ein Ritus des Mittrauerns von hoher sozialer Funktion. Die religiös begründeten Trauerriten in den drei großen monotheistischen Religionen gehen von der Prämisse aus, dass das ganze Leben und eben auch das Sterben vom Glauben gehalten wird. Gleichwohl verschließen sie nicht die Augen davor, dass der Verlust eines Menschen eben auch zur Krise des religiösen Lebens führen kann.

Auferstehung, Verabschiedung und Reintegration

Daher sind im Prozess des Trauerns Individuum und religiöse Gemeinschaft aufgefordert, diese Krise gemeinsam zu bestehen. Die religiösen Riten versuchen eine Balance zwischen dem Recht des Trauerns und der Notwendigkeit des Lebens herzustellen; dies geschieht durch die jeweilige Symbolsprache. So betont etwa der katholische Trauerritus durch die Farbe Schwarz die Ernsthaftigkeit des Verlustes, verweist aber gleichzeitig im Sprechakt auf die größere Hoffnung der Auferstehung, wobei der Gottesdienst selbst Verabschiedung von den Toten und Reintegration der Trauernden in die Gemeinschaft ist.

Die Anweisungen des Koran für die Trauerzeit waren maßgeblich für die Ausbildung der Trauerriten: „Und wenn welche von euch abberufen werden und Gattinnen hinterlassen, sollen diese ihrerseits vier Monate und zehn (Tage) zuwarten. Wenn sie dann ihren Termin (also das Ende der Wartezeit) erreichen, ist es keine Sünde für euch, wenn sie von sich aus in rechtlicher Weise etwas (zum Zweck ihrer Wiederverheiratung?) unternehmen. Gott ist wohl darüber unterrichtet, was ihr tut. Und es ist keine Sünde für euch, wenn ihr (ihnen gegenüber noch vor Ablauf der Wartezeit gewisse) Andeutungen auf einen Heiratsantrag macht, oder wenn ihr bei euch im stillen (derartige) Absichten hegt. Gott weiß, daß ihr an sie denken werdet (noch ehe die Zeit zu einer ehelichen Verbindung gekommen ist). Aber verabredet euch (während ihrer Wartezeit) nicht heimlich mit ihnen! Sagt vielmehr nur, was sich geziemt! Und entschließt euch nicht (endgültig) zum Ehebund, bevor die vorgeschriebene Wartezeit (w. die Vorschrift) ihren Termin erreicht! Ihr müßt wissen, daß Gott Bescheid weiß über das, was ihr (an Gedanken und Absichten) in euch hegt. Nehmt euch daher vor ihm in acht! Ihr müßt (aber auch?) wissen, daß Gott mild ist und bereit zu vergeben.“ (Sure 2, 234f.)

Der Umstand, dass die Sure sich primär mit der Frage nach der Reintegration von Witwen befasst, ohne jedoch einen generellen Trauerritus vorzuschreiben, ermöglichte die Ausbildung kulturell-geografisch bedingter spezieller Trauerriten. Die Konstanten in diesen verschiedenen Riten zielen jedoch auf den sozialen Aspekt. Sei es das gemeinschaftliche Essen, sei es die Pflicht für Trauernde, Almosen zu geben. Die oder der Trauernde sind damit an die Gemeinschaft gebunden. Dass Theorie und Praxis des Trauerns im Islam wie auch in anderen Religionen durchaus auseinanderklaffen können, kann man darin sehen, dass laute exzessive Trauerbekundungen als Infragestellung des Glaubens an die Barmherzigkeit Gottes gedeutet werden.

Schiwa-Sitzen als Trauerritual

Zweifelsohne eine der intensivsten Formen der Trauerriten ist das Schiwa-Sitzen im Judentum. Diese siebentägige Trauerzeit ermöglicht es den Trauernden, ihre Emotionen auszuleben; es stellt eine Angleichung an den Status des Todes dar, die jedoch durch sozialen Kontakt durchbrochen wird. Die Riten, die freilich keineswegs mehr von allen jüdischen Gläubigen praktiziert werden, stellen in ihrer Gesamtheit eine völlige Unterbrechung des Alltäglichen dar. Dazu gehört die Verhängung der Spiegel, die Vernachlässigung der Hygiene, das Barfußgehen, das Sitzen auf Schemeln, das weitgehende Schweigen, unterbrochen durch Gebete. Der soziale Kontakt wird durch Besuche von Nachbarn und Freunden, die mittrauern aber gleichzeitig die Trauernden mit Lebensmittel versorgen, aufrecht erhalten. Auf die sieben Tage des Schiwa-Sitzens folgt eine 30-tägige Phase, in der eine schrittweise Reintegration in den Alltag stattfindet. Die Trauerzeit endet mit der Jahrzeit, der ersten Wiederkehr des Todestages. Die ganze Trauerzeit hindurch spricht man eigene Gebete und sagt das Kaddisch. Elemente der jüdischen Trauerriten gehen in älteste Zeiten zurück. Man mag es als Weisheit des Althergebrachten verstehen, dass moderne Untersuchungen belegen, dass gerade das Schiwa-Sitzen einen hohen therapeutischen Wert hat, da das symbolische Hinabsteigen in die Grenzen menschlicher Existenz zugleich eine Befreiung zum Leben ermöglicht. In der tiefsten Trauer ereignet sich eine Bejahung des Lebens.

Verlust von Trauerritualen

Zu konstatieren, die postindustriellen Gesellschaften gingen neben vieler anderer Riten auch der Trauerriten verlustig, ist mehr als nur eine Bemerkung über die moderne ethnologische Entwicklung. Denn wie immer man die Riten und ihre Hilfe im Trauerprozess bewertet, sie waren ein sozial verbindliches Angebot in einer Krisensituation. Darin lag ihr eigentlicher Gewinn. Sie entließen Menschen in einer Krisensituation aus der Notwendigkeit, auch noch Verhaltensentscheidungen treffen zu müssen. Sie waren ein Auffangnetz für die, die rat- und trostlos waren. Es mag sein, dass die Welt durch den Verlust der Trauerriten bunter scheint, ärmer ist sie allemal geworden.