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Verlorene Emotionen

12.06.2008

Die Qualität einer Beziehung lässt oft nach, wenn einer der Partner an Alexithymie leidet.

Die Qualität einer Beziehung lässt oft nach, wenn einer der Partner an Alexithymie leidet.
Bildquelle: photocase, goenz http://www.photocase.de/foto/70003-stock-photo-frau-mann-weiss-schwarz-einsamkeit-ferne

Haben Menschen, die an Alexithymie leiden, keine Gefühle, oder können sie ihre Gefühle nur nicht benennen?

Haben Menschen, die an Alexithymie leiden, keine Gefühle, oder können sie ihre Gefühle nur nicht benennen?
Bildquelle: fotolia, Alexey Teterin

Bei Berufszweigen wie der Computerbranche mit zum Teil geringen sozialen Kontakten kann die Alexithymie lange unerkannt bleiben.

Bei Berufszweigen wie der Computerbranche mit zum Teil geringen sozialen Kontakten kann die Alexithymie lange unerkannt bleiben.
Bildquelle: photocase, dragon30 http://www.photocase.de/foto/75987-stock-photo-arbeit-erwerbstaetigkeit-computer-technik-technologie-pfeil-unten-informationstechnologie

Mit hochmodernen Kernspintomographen erhalten Wissenschaftler der Freien Universität Einblicke in das Gehirn.

Mit hochmodernen Kernspintomographen erhalten Wissenschaftler der Freien Universität Einblicke in das Gehirn.
Bildquelle: Freie Universität Berlin, Ulrich Dahl

Die einen empfinden sie als wortkarg und langweilig, die anderen als distanziert und gefühlskalt: Menschen mit Alexithymie können offenkundig nicht trauern, sich nicht ausgelassen freuen oder einmal so richtig wütend werden. Sie sind unfähig, Emotionen zu zeigen. Forscher der Freien Universität lässt diese scheinbare Gefühlsarmut nicht kalt. Sie wollen dem Phänomen, über das die Wissenschaft bisher kaum etwas weiß, auf den Grund gehen.

Bis zu jenem Abend vor mehr als 25 Jahren führte Heike Mankert (Name geändert) ein ganz normales Leben geführt: Die damals 27-Jährige verkaufte wie gewöhnlich Süßwaren auf Jahrmärkten. Es war Winter und ein kalter Abend, also räumte sie noch eben den Wagen auf und machte die Kasse. Es kann nur ein Moment fehlender Aufmerksamkeit gewesen sein, jedenfalls stand plötzlich ein Mann in ihrem Wagen. Der Angreifer vergewaltigte und verletzte Heike Mankert und raubte sie aus. Trotz lauter Hilfeschreie und obwohl genug weitere Buden des Jahrmarkts in Hörweite standen, kam ihr niemand zu Hilfe. Zunächst schien es, als habe die junge Frau alles gut verkraftet. Sie rief die Polizei, berichtete von der Vergewaltigung, und ihr Mann installierte einen Panikknopf im Wagen, mit dem sie im Notfall Alarm schlagen konnte.

Kleinste Aufgaben werden zur großen Hürde

Doch ein halbes Jahr später begann Heike Mankert sich zu verändern: Morgens fiel ihr das Aufstehen schwer, sie ging kaum noch aus dem Haus und selbst die Bewältigung kleiner Aufgaben erschien ihr wie eine große Hürde. Depression, diagnostizierten die Ärzte und wiesen Heike Mankert in ein psychiatrisches Krankenhaus ein. Dort konnte ihr zunächst geholfen werden: Sie ging wieder zur Arbeit und bewältigte den Alltag. Nur ihr Mann klagte, seine Frau sei nicht mehr die alte: Die Ehe wurde schwierig, sie kommunizierte kaum noch mit ihrem Mann, und fragte sie jemand nach ihrem Befinden, so war ihre Antwort eher eine Gegenfrage: „Gut – mein‘ ich jedenfalls?“, lautete ihre stereotype Antwort.

In der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Campus Benjamin Franklin der Charité wurde Heike Mankert untersucht, schließlich testen sie die Ärzte mit einem Fragebogen auf Alexithymie – mit überraschendemErgebnis: Die junge Frau  erreichte Extremwerte. „Heute wissen wir: Die Patientin ist ein klassischer Fall“, sagt Isabella Heuser, Psychiatrie-Professorin und Direktorin der Klinik.

Typische Anzeichen für Alexithymie

Wenig spürbare Emotionen, ein „flacher Affekt“, wie klinische Psychologen sagen, erkennbare Probleme, Emotionen zu benennen, eine phantasiearme innere Welt, langweiliger Erzählstil – das alles sind typische Zeichen für das Phänomen Alexithymie, das keineswegs selten ist: Zwischen zehn und 14 Prozent aller Menschen haben aktuellen wissenschaftlichen Studien zufolge Probleme, ihre Emotionen zu benennen. 1973 gaben die amerikanischen Psychiater John C. Nemiah und Peter E. Sifneos dem Phänomen seinen Namen: Alexithymie, wörtlich: die Unfähigkeit, Gefühle zu lesen.

Eine eigenständige Krankheit ist Alexithymie nicht. Sie ist nicht einmal ein typisches Symptom einer Krankheit: Die maßgeblichen Diagnosesysteme für psychische Erkrankungen – das ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation und das DSM-IV der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung – erwähnen die Alexithymie mit keinem Wort. So hat sie bislang nur den Status eines Phänomens in der Psychiatrie – und zwar eines Phänomens, von dem man sehr wenig weiß.

Geht es nach Isabella Heuser, soll sich das in den nächsten Jahren grundlegend ändern. Im Rahmen des Exzellenzclusters „Languages of Emotion“ an der Freien Universität will Heuser mit einem interdisziplinären Team der Unbenennbarkeit der Emotionen auf die Spur kommen – mit Fragebögen, Medikamenten, modernen bildgebenden Verfahren und psychologischen Tests.

Die wichtigste und schwierigste Frage

Die erste und wichtigste Frage – zugleich wahrscheinlich auch die schwierigste – lautet dabei: Haben diese Menschen weniger oder kaum Gefühle, oder können sie diese nur nicht benennen?
Dafür, dass ein gewisser Grad innerer Erregung, ein „Arousal“, auch alexithyme Menschen befällt, spricht einiges, allem voran der Umstand, dass Betroffene überdurchschnittlich häufig über körperliche Beschwerden klagen, für die Ärzte keine organische Ursache finden. Solche organisch unerklärlichen Störungen sind neben Depressionen die einzigen Symptome, wegen derer Menschen mit Alexithymie überhaupt Psychiater aufsuchen Das Phänomen an sich erzeugt erst einmal Leidensdruck – nicht bei den Betroffenen und auch nicht bei deren nächsten Angehörigen: Die kennen den Alexithymen meist gar nicht anders und schätzen eher seine unaufgeregte, kühl-distanzierte Art; allerdings sind häufige, frustrierende Arztbesuche wegen diffuser körperlicher Beschwerden eine zunehmende Belastung für den Alexithymen und seine Umgebung. Betroffen ist auch die Gesellschaft wegen der mit der Krankheit verbundenen hohen Arztkosten. Eine Ausnahme bilden Menschen, die erst nach einer traumatischen Belastung alexithyme Symptome zeigen – wie Heike Mankert. Sie erleben sich als verändert, und auch Familie und Freunde bemerken den Verlust an Emotionalität.

Auffälligkeiten in Mimik und Gestik

Die Aufgaben, die sich die Wissenschaftler des Exzellenzclusters für die nächsten fünf Jahre gestellt haben, sind sehr ambitioniert. Isabella Heuser und ihr Team wollen zunächst ermitteln, ob außer der Unfähigkeit, Gefühle zu benennen und der auffallenden Phantasiearmut noch weitere sprachliche Auffälligkeiten vorliegen. Bedienen sich alexithyme Menschen beispielsweise einer anderen Wortwahl oder eines besonderen Satzbaus? Haben sie Auffälligkeiten in ihrer Mimik, Gestik und in der Sprachmelodie? Eine Verarmung dieser Ausdrucksmöglichkeiten könnte die Diagnose erleichtern und Rückschlüsse auf die neuronalen Mechanismen geben, die für Alexithymie verantwortlich sind.

An Ideen mangelt es Heuser nicht: Nachdem sie aus der Normalbevölkerung 30 hochalexithyme Probanden rekrutiert hat, nach Tests auf deren emotionale Benennfähigkeiten, auf ihre Gestik und Mimik, soll ein genauer Blick in das Gehirn für mögliche Aufschlüsse sorgen.

Nicht zuletzt dafür bekam der Exzellenzcluster im Rahmen der Förderung einen hochmodernen Forschungs-Kernspintomographen, mit dem die Wissenschaftler der Freien Universität nun auch technisch sehr gut ausgestattet sind.

Livebilder aus dem Gehirn

Ein solches, ausschließlich der Forschung dienendes Großgerät gibt es – außerhalb medizinischer Fakultäten – nur an einer weiteren deutschen Universität, der Universität Greifswald. Mit dessen Hilfe könnten die Forscher quasi live zusehen, was im Gehirn eines alexithymen Menschen passiert, wenn er Emotionen benennen soll. Im Vergleich zu einem nicht alexithymen Studienteilnehmer ließe sich dann möglicherweise zeigen, worin sich die Informationsverarbeitung unterscheidet.

Die Ursache von Alexithymie werden die Forscher   Weise wohl nicht finden: Selbst wenn mithilfe des Tomographen eindeutige Unterschiede in beiden Hirnen deutlich würden, wäre noch lange nicht klar, ob sie der Grund oder die Folge der Störung sind. „Ursachenforschung in den Neurowissenschaften“, zu denen die Psychologie, die Psychiatrie und die Neurologie gehören, „ist extrem schwierig“, räumt Isabella Heuser ein. Dazu müsste ein Mensch von klein auf beobachtet und wiederholt untersucht werden, was außerordentlich teuer und zeitaufwendig wäre. Doch auch das Wissen um das „neuronale Korrelat“ der Störung – den stofflichen oder strukturellen Niederschlag im Gehirn – wäre schon ein enormer Fortschritt: Möglicherweise fände sich auf diesem Wege eine Methode, das Problem medikamentös zu mildern oder Therapieerfolge objektivierbar zu machen. Es würde auch die Diagnose erleichtern, die bislang vor allem auf einem Test mit 20 Fragen beruht, der sogenannten Toronto-Alexithymie-Skala. „Das ist viel zu wenig“, sagt Isabella Heuser.

Wie wirken Psychostimulanzien?

Die Psychopharmakologie ist daher ein weiteres Instrument, mit dem die Forscher dem Phänomen auf die Spur kommen möchten. Auf die üblichen Botenstoffe im Gehirn, die Neurotransmitter Noradrenalin, Serotonin, Acetylcholin, Dopamin, Gaba und Glutamat, setzt Isabella Heuser wenig Hoffnung, weil deren Auswirkungen mittlerweile als gut erforscht gelten.
Doch was geschieht zum Beispiel nach Gabe von Psychostimulanzien, die emotional anregend wirken? Wie reagiert ein Alexithymer, wenn die Emotionen stärker werden? Kann er deutliche Gefühle besser benennen?

Oder empfindet er die erhöhte innere Erregung als Gefahr und regelt sich emotional noch weiter herunter? „Das sind bislang nur vage Ideen, aber es ist ein hochspannendes Thema“, sagt Heuser. Auch auf die Wirkung von Tetrahydrocannabinol, den Hauptwirkstoff von Cannabis, ist die Forscherin gespannt: Die meisten Menschen berichten nach der Einnahme dieses Wirkstoffs von einer angeregten Phantasie, einer reicheren Vorstellungswelt, bildhafter Sprache. Möglicherweise gilt das auch für Alexithyme.

Nach dem Erstgespräch war alles klar

Die eigentliche Ursache, sagt Heuser, kenne sie auch bei Michael Tresser (Namen geändert) nicht. Im Gegensatz zu Heike Mankert, die erst nach einem Trauma deutliche alexithyme Symptome zeigte, scheint Tresser schon von Kindheit an mit Emotionen wenig anfangen zu können. Doch erst mit 55 Jahren, nach einem langen Irr- und Leidensweg durch verschiedene Praxen und Krankenhäuser wegen unerklärlicher Bauchschmerzen und Übelkeit, kam einer seiner Ärzte auf die Idee, ihn psychiatrisch untersuchen zu lassen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Tresser sämtliche Untersuchungen über sich ergehen lassen, die der Magen- und Darmheilkunde zur Verfügung stehen – ohne Befund.

Doch schon das Erstgespräch in der Klinik von Isabella Heuser ließ für die Psychiater nur noch wenige Fragen offen: Michael Tresser zeigte nicht nur für Alexithymie typische Symptome, sondern auch das klassische Redeverhalten: Kurze Antworten, Sätze ohne Adjektive – und Ermüdung auf Seiten der Ärzte, die das Gefühl hatten, ihm alles aus der Nase ziehen zu müssen. Der Fragebogentest kam zum Einsatz, und richtig: Tresser war hochalexithym.

Im Alltag gelang es ihm, das gut zu verbergen: Seine Frau kannte ihn nicht anders, und dank seiner Tätigkeit als Computerexperte musste Tresser wenig soziale Kontakte eingehen – so blieb die Alexithymie 55 Jahre lang unentdeckt. Erst als ihm die Klinikpsychologen den Zusammenhang zwischen Ärger und Bauchschmerz deutlich machten, begann Tresser, ein Verständnis für seine Symptome zu entwickeln. Er konnte die Klinik rasch verlassen und macht jetzt eine ambulante Psychotherapie. Neurowissenschaftlerin Heuser will es nicht wagen, Hypothesen darüber aufzustellen, ob dieser eher tiefenpsychologische Heilerfolg Licht auf die Ursachen der Alexithymie wirft oder Tressers „grauenhaft überbeschützende“ Mutter einen Anteil an den Symptomen hat. Ihr und ihrem Team wird es darum gehen, vor allem Veränderungen im Gehirn zu suchen und bestimmte Areale zu stimulieren, um die Wirkungen zu beobachten.

Gefühle verstehen können

Der Fokus in dem auf fünf Jahre angelegten Exzellenzcluster liegt zunächst nicht auf den klinischen Fragen nach Ursachen und Therapien, sondern – viel allgemeiner – auf dem Verständnis der Gefühle an sich. Die Forschung an Menschen, die scheinbar keine Gefühle haben, ist dabei nur ein Aspekt der Kernfrage des Clusters, nämlich der Frage nach den „Zusammenhängen von emotionaler und sprachlicher Kompetenz (einschließlich ihrer Störungen)“, dem das interdisziplinäre Team aus Psychologen, Psychiatern, Neurologen Philosophen, Linguisten, Pharmakologen und Literaturwissenschaftlern auf der Spur ist.

An Arbeitshypothesen aus neurologisch-psychiatrischer Sicht mangelt es nicht: Die bislang spärliche Literatur zum Thema favorisiert die These, die Informationsleitung zwischen den beiden Hemisphären des Gehirns sei nachhaltig gestört, auch die Amygdala, der „Mandelkern“ im limbischen System, der vor allem bei der emotionalen Bewertung von Situationen und für Angstreaktionen eine wichtige Rolle spielt, kommt als wichtiger Faktor in Betracht. Doch noch ist alles sehr vage, es zeigt sich „keine siegende Theorie“, wie Isabella Heuser sagt. Mit ihrem Team will sie daher unter anderem versuchen, mithilfe der sogenannten transkraniellen Magnetstimulation einzelne Hirnareale vorübergehend lahmzulegen, um Emotionen zu modellieren und so das Symptom besser zu verstehen. Auch wenn Heuser überzeugt ist, sie werde die absolute Wahrheit nicht entdecken, so ist sie entschlossen, ein tragfähiges Modell der Alexithymie zu entwickeln und keinen „fünften neuen Denkansatz, der weiterhin vage bleibt“. Um ausgetretenen Pfaden zu folgen, sei der Cluster schließlich nicht gegründet worden.

Das Anschlussprojekt ist geplant

Sollten die Forscher dieses ehrgeizige Ziel erreichen, plant die Psychiatrische Klinik des Campus Benjamin Franklin der Charité nach dem Abschluss der Cluster-Arbeiten ein Anschlussprojekt, in dem gezielt Behandlungsempfehlungen und ein verhaltenstherapeutischer Therapieplan erstellt werden können. Denn auch wenn alexithyme Menschen nicht an ihrem Phänomen leiden, sind ihre Einschränkungen nicht nur durch die „ungeklärten“ körperlichen Beschwerden erheblich: Emotionen bilden schließlich den sozialen Kitt, der menschliche Beziehungen zusammenhält. Alexithyme, die oft nicht einmal emotional genug erzählen können, um einen durchschnittlichen Zuhörer bei der Stange zu halten, klagen daher oft genug über das Gefühl, neben der restlichen Menschheit einherzuleben – die Möglichkeit, sich durch gemeinsamen Spaß, durch kollektive Trauer oder durchgestandene Ängste ihren Mitmenschen verbunden zu fühlen, ist ihnen nicht gegeben.
Doch selbst wenn viele solche Emotionen nicht vermissen – sie in sich zu entdecken, kann eine enorme Bereicherung sein.