Neues Nationalgefühl?
Was sich seit der Wiedervereinigung geändert hat
12.06.2008
In der Nacht, in der die Mauer fiel, zeigten die Deutschen aus Ost und West, was sie sich selbst schon lange nicht mehr zugestanden hatten: Geradezu euphorisch und unter vielen Tränen freuten sie sich über das Wiedersehen nach fast 45 Jahren Teilung. Der 9. November – ein deutscher „Schicksalstag“ – brachte 1989 die tatsächliche Wende in der deutschen Teilungsgeschichte. Der Zug Richtung Wiedervereinigung nahm erst langsam und dann gewaltig Fahrt auf und führte schließlich am 3. Oktober zur Besiegelung der deutschen Einheit. Schon unmittelbar nach dem Fall der Mauer skandierten Leipziger Montagsdemonstranten „Deutschland, einig Vaterland“ und „Wir sind ein Volk“ und kaum noch wie zuvor „Wir sind das Volk“. Bei den Demonstrationen nicht nur in Leipzig waren zunehmend schwarz-rot-goldene Fahnen mit herausgeschnittenem DDR-Emblem zu sehen. Sie symbolisierten den Wunsch nach schneller Wiedervereinigung. Ein lange verschüttetes oder verdrängtes Nationalbewusstsein wurde nun sichtbar, im Osten deutlich stärker als im Westen. Es war ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, der gemeinsamen Identität als Deutsche und kein Anknüpfen an unselige nationalistische Großmachtphantasien. Die Hoffnungen rechtsextremistischer Gruppen, die Euphorie der Wiedervereinigung könne zu einer Renaissance einer nationalistischen Bewegung führen, erfüllten sich nicht.
Die Euphorie über die gewonnene Freiheit und die Aussicht auf Einheit stieß allerdings schnell an Grenzen. In West-Berlin zeigten sich diese schon einen Tag nach dem Mauerfall, als Bundeskanzler Kohl auf einer Veranstaltung vor dem Schöneberger Rathaus von Tausenden linken Demonstranten lautstark ausgepfiffen wurde, obschon er seine Freude über den Mauerfall mit einer Warnung vor radikalen nationalistischen Parolen verknüpfte. Der damalige Regierende Bürgermeister Walter Momper trat ebenfalls auf die „nationale Bremse“, sprach vom „DDR-Volk“ und der Notwendigkeit der weiteren Eigenständigkeit der DDR, die er als Hort „sozialer Verantwortung und Abneigung gegen die Ellbogengesellschaft“ lobte.
Wir sind ein Volk – Wir auch!
Schon bald wurden die Grenzen des spontanen Zusammengehörigkeitsgefühls deutlich. Viele Westdeutsche sahen angesichts des desolaten Zustandes der DDRWirtschaft hohe Kosten auf die Bundesrepublik zukommen, viele Ostdeutsche wiederum befürchteten Arbeitslosigkeit sowie soziale und materielle Rückständigkeit gegenüber den Westdeutschen. So folgte auf die nationale Euphorie der Katzenjammer. Ein seinerzeit an West- Berliner Schulen kursierender Witz nahm diese gewandelte Haltung berlintypisch auf: Ein Ost-Berliner Schüler Schüler begegnet am Brandenburger Tor einem West-Berliner Schüler und sagt euphorisch: „Wir sind ein Volk“. Darauf antwortet der Angesprochene mit den Worten „Wir auch.“ Als unberechtigt erwiesen sich die Befürchtungen vieler prominenter Vereinigungsgegner – mit dem späteren Nobelpreisträger für Literatur Günter Grass an der Spitze –, die die Gefahr der Wiederkehr einer nationalistischen Grundhaltung angesichts der Wiedervereinigung geradezu beschworen hatten. Die Deutschen in Ost und West beklagten vielmehr die jeweiligen vermeintlichen Nachteile und pflegten die in Zeiten der Teilung entstandenen wechselseitigen Vorurteile. Das Zusammengehörigkeitsgefühl und der Bezug auf das gemeinsame Land schienen vergessen.
Als etwa zehn Jahre später der damalige CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer öffentlich bekundete, er sei „stolz, Deutscher zu sein“, beschied ihm der grüne Umweltminister Jürgen Trittin, er habe nicht nur das Aussehen, sondern auch die Mentalität eines Skinheads. Damit war die Debatte wieder da angekommen, wo sie zu Zeiten der Bundesrepublik herkam: Jeder, der ein Bekenntnis zur Nation abgab, für die Wiedervereinigung eintrat, Nationalbewusstsein oder gar Nationalstolz kundtat, wurde schnell in eine rechtsradikale Ecke gestellt. Das Bekenntnis zur eigenen Nation, das in anderen Ländern selbstverständlich ist, konnte sich in Deutschland auch im ersten Jahrzehnt der Wiedervereinigung nicht aus dem Schatten des Nationalsozialismus lösen.
Stärkere Rolle Deutschlands in der Weltpolitik
Mit der Ablehnung einer Beteiligung am Irak-Krieg und der Ablehnung der US-amerikanischen Haltung durch den sozialdemokratischen Kanzler Gerhard Schröder und seine rot-grüne Regierungskoalition kam unverhofft – und vielleicht unbeabsichtigt – ein Wechsel. Nun galt der besondere „deutsche Weg“ wieder als etwas Positives, eine stärkere Rolle Deutschlands in der Weltpolitik wurde befürwortet und dem Kanzler ob seiner markigen Worte Führungsqualitäten zugesprochen. Endlich konnten auch diejenigen, die einen Stolz auf Deutschland immer abgelehnt hatten, einen positiven Bezug auf das eigene Land finden.
Mit der Ablehnung einer Beteiligung am Irak-Krieg und der Ablehnung der US-amerikanischen Haltung durch den sozialdemokratischen Kanzler Gerhard Schröder und seine rot-grüne Regierungskoalition kam unverhofft – und vielleicht unbeabsichtigt – ein Wechsel. Nun galt der besondere „deutsche Weg“ wieder als etwas Positives, eine stärkere Rolle Deutschlands in der Weltpolitik wurde befürwortet und dem Kanzler ob seiner markigen Worte Führungsqualitäten zugesprochen. Endlich konnten auch diejenigen, die einen Stolz auf Deutschland immer abgelehnt hatten, einen positiven Bezug auf das eigene Land finden.
Der eigentliche Schub bei der Herausbildung eines neuen Nationalbewusstseins, das sich spielerisch gab und andere Nationen nicht abwertete, entwickelte sich indes anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland. Millionen Fußballfans verwandelten öffentliche Plätze und Stadien in ein schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer, zeigten im wahrsten Sinne des Wortes Flagge und schauten nicht mehr verschämt nach unten, wenn die Nationalhymne ertönte. Für fast zwei Drittel der Deutschen – so das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage – symbolisierten die Deutschlandfahnen während der Weltmeisterschaft, dass es hierzulande ein Nationalgefühl ebenso wie in anderen Ländern gebe. Immerhin etwa jeder zweite Befragte äußerte gegenüber Allensbach die Meinung, dass andere Nationen es gut fänden, wenn die Deutschen sich mit ihrem Land identifizierten. Die Fahnen seien ein Zeichen für einen friedlichen und fröhlichen Patriotismus. Gleichzeitig wurde deutlich, dass jüngere Generationen ein anderes Verständnis von Deutschland haben als ältere. Während eine Mehrheit der Jüngeren die unzähligen Deutschlandfahnen während der Fußballweltmeisterschaft für selbstverständlich hielt, wurde diese Auffassung umso weniger geteilt, je älter die Befragten waren.
Ein unbefangeneres Verhältnis zum eigenen Land
Unter jüngeren Menschen hat sich offenbar das bei der Weltmeisterschaft sichtbar gewordene unbefangene Verhältnis zum eigenen Land verfestigt. In einer aktuellen Forsa-Umfrage im Auftrag der Zwangsarbeiter- Stiftung bekannten 86 Prozent der 14- bis 18-Jährigen, stolz auf ihre Nationalität zu sein; nur etwa jeder Zehnte war weniger und lediglich 3 Prozent überhaupt nicht stolz. Für viele ist dies ein nicht weiter begründbares Grundgefühl, andere äußerten, Deutschland sei ein tolles Land oder nannten die wirtschaftliche Stärke Deutschlands. Auf die Frage einer Jugendzeitschrift, warum sie stolz seien, deutsch zu sein, wurden die sozialen Verhältnisse, die Freiheitsspielräume, die netten Menschen oder die Selbstverständlichkeit, stolz auf das eigene Land zu sein, genannt. Befragte Emigranten betonten die Religionsfreiheit, die vorhandenen Freiräume und die Möglichkeit zur Bildung, aber auch typisch deutsche Tugenden wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und hohe Qualitätsstandards. Die wenigen Jugendlichen, die Nationalstolz generell ablehnen, verwiesen auf die nationalsozialistische Vergangenheit und die Gefahr der Ausgrenzung anderer.
Aufgeklärter Patriotismus, der nicht abwertet
Die Entwicklung zu einem unbefangenen Nationalbewusstsein, das starke emotionale Züge trägt, und zu einem aufgeklärten Patriotismus, der andere nicht abwertet und ausgrenzt, schreibt die positive Geschichte der Bundesrepublik nach 1945 fort. Nun wird die deutsche Vergangenheit nicht mehr ausschließlich als Unheilsgeschichte begriffen, sondern als eine Geschichte mit dunklen und hellen Seiten. Ohne den Nationalsozialismus und seine Verbrechen zu relativieren, wertet eine Mehrheit die Demokratisierung und Zivilisierung der Bundesrepublik als Erfolgsgeschichte, auf die man zu Recht stolz sein kann. Gleichzeitig wird deutlich, dass der Versuch westdeutscher Intellektueller gescheitert ist, einen allein auf einen Normenkatalog bezogenen Verfassungspatriotismus anstelle des Konzepts einer Kultur- oder Staatsnation zu verankern, das die Zusammengehörigkeit von Menschen aufgrund von Kriterien wie gemeinsamer Abstammung und Sprache, Siedlungsgebiet, Religion, Gewohnheiten und Geschichte begründet.
Der Begründer des Verfassungspatriotismus – Dolf Sternberger – forderte Ende der 1970er Jahre, neben dem Nationalgefühl einen „zweiten Patriotismus, der sich auf die Verfassung gründet“, positiv aufzunehmen. Ausdrücklich plädierte er für einen Patriotismus, der sich vom Nationalismus abgrenzt und das Vaterlandsbewusstsein mit der Akzeptanz der Verfassung und ihrer Werteordnung verknüpft. Sternbergers Aufruf zum Verfassungspatriotismus richtete sich damals – was ehemalige Achtundsechziger gerne vergessen – gegen diejenigen, die sein Konzept heute oftmals alternativ zum Patriotismus setzen: linksradikale Ideologen und Demagogen, die den vermeintlich formalen Charakter der Verfassung hervorhoben, sie gering schätzten oder abschaffen wollten.
Weg vom Nationalstaat, hin zu Europa
Der Sozialphilosoph Jürgen Habermas und linksstehende Zeithistoriker übernahmen Sternbergers Konzeption, entkleideten sie aber von ihrem nationalen Bezug, indem sie einen Abschied von der klassischen Form des Nationalstaates und einen Bezug zu Europa proklamierten. Kritiker wandten gegen das Konzept des Verfassungspatriotismus ein, dass allein mit einem rationalen Bezug zur Verfassung das Bedürfnis der Sinnstiftung vieler Menschen nicht befriedigt werden kann. Sie sollten recht behalten. In allen EU-Ländern, mit Ausnahme von Luxemburg, setzt eine breite Mehrheit der Bevölkerung die nationale über die europäische Identität. Insofern erscheint es plausibel, einen aufgeklärten Patriotismus als Voraussetzung einer europäischen Identität zu verstehen. Gerade in der modernen globalisierten Gesellschaft benötigen Menschen Bindungen, sei es auf regionaler Ebene, im Heimatort oder in Vereinen. Europa ist bisher nur eine rechtliche Grundlage für eine Form intensiver Zusammenarbeit von Staaten, bietet den Bürgern aber weniger gemeinsame Identifikationen.
Eine Schwachstelle der Wiedervereinigung
Der fehlende Bezug zur eigenen Nation, der nach der Wiedervereinigung ein Zusammengehörigkeitsgefühl hätte begründen können, erwies sich als eine Schwachstelle der Vereinigung. Erst als nach etwa einem Jahrzehnt in einem gemeinsamen Staat ein weiterhin unterentwickeltes Zusammengehörigkeitsgefühl nicht mehr zu übersehen war, entspann sich eine intensive Diskussion um Leitkultur, Patriotismus und nationale Identität. Der Begriff „Identität“ ist in den Diskussionen eher schwammig geblieben. Individuelle Identität speist sich aus Erfahrungen und Erinnerungen und dient der Selbstvergewisserung; kollektive Identität entsteht durch den Bezug von Individuen auf etwas Gemeinsames und befördert ein „Wir-Bewusstsein“, ohne Individualität aufzuheben. Wenngleich kollektive Identität immer gesellschaftlich konstruiert wird, existiert sie im persönlichen Bewusstsein vieler Menschen. Sie lässt sich jedoch nicht beliebig – etwa von Politikern oder Ideologen – herstellen. Vielmehr muss sie auch als Konstrukt dem Selbstverständnis von Individuen entsprechen.
So gelang es beispielsweise der SED allenfalls ansatzweise, eine DDR-Identität in der Bevölkerung zu schaffen. Auch Herrscher in Vielvölkerstaaten gelingt es selten, ethnischen Minderheiten eine übergeordnete nationale Identität einzureden. Kollektive Identität konstituiert sich unter anderem über gemeinsame Sprache, Geschichte, Religion oder politische Auffassung. Das Individuum geht jedoch nicht in dem kollektiven Selbstverständnis auf, sondern verfügt über zusätzliche Identitäten. Es kann sich beispielsweise mit seinem Wohnort, seiner Religion oder kosmopolitisch mit allen Menschen identifizieren. Dieses Konzept der „Mehrfach-Identitäten“ bietet gerade für Deutschland Spielraum für die Integration von Minderheiten. Schließlich leben hier etwa 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund und 17 Millionen ehemalige DDR-Bürger, die eine im Vergleich zu den etwa 60 Millionen Westdeutschen geradezu konträre Sozialisation erfuhren.
Die Nation: Schicksalsoder Willensgemeinschaft?
Der seit den 1960er Jahren unter Intellektuellen undPolitikern ausgetragene und bis heute andauernde Streit um das Verständnis von Nation – als Schicksalsoder Willensgemeinschaft – sollte mit der Verabschiedung des neuen Einwanderungs- und Staatsbürgerrechts vor einigen Jahren ein Ende gefunden haben. Jetzt lässt sich eine Nation nicht nur aufgrund von Abstammung, Sprache, Religion oder Geografie definieren. Stattdessen gelten auch unmittelbare gemeinsame Erinnerungen sowie der Wunsch, gegenwärtig und zukünftig zusammenleben zu wollen, als konstitutiv für eine Nation. Die Vorstellung einer Nation als kollektives Plebiszit, die auf den französischen Schriftsteller Ernest Renan zurückgeht, benötigt ein gesellschaftlich verankertes bestimmtes Mindestmaß an Gemeinschaftlichkeit und Zusammengehörigkeitsgefühl – noch stärker als eine ethnisch fundierte Kulturnation für ihr Selbstverständnis und zum Zwecke ihres Erhalts.
Wenn es die Nation und den kollektiven Bezug auf etwas Gemeinsames wie Geschichte nicht gibt, wie viele Linksintellektuelle immer noch behaupten, dann existiert auch keine gemeinsame Verantwortung der Deutschen (als Nation) für den Nationalsozialismus, sondern nurdie Verantwortung bestimmter Gruppen, etwa des Großkapitals, der Parteimitglieder, der SS oder anderer. Darf sich aber eine Nation aus der geschichtlichen Verantwortung stehlen, indem sie ihren Staat und seine Gesetze nicht in der Haftung für ein verbrecherisches Regime versteht? Dann ändert das Verständnis einer Nation als „Willensgemeinschaft“ nichts daran, dass die Geschichte „Schicksalsgemeinschaft“ konstituieren. Wer nach freier und bewusster Entscheidung Staatsbürger einer Nation wird, sollte sich dem nicht entziehen. Der gemeinsame Umgang mit der Geschichte der Mehrheitsgesellschaft und der verschiedenen Minderheiten stellt Einwanderungsgesellschaften vor bisher kaum thematisierte, geschweige denn gelöste Probleme, wie bereits am Umgangmit der DDR-Geschichte sichtbar wird. Gleiches gilt für die Finanzierung der Einheit über Transfers und den umverteilenden Sozialstaat generell. Warum sollten Westdeutsche für Ostdeutsche materielle Opfer bringen, warum mittlere und höhere Einkommensgruppen über Steuern und Sozialbeiträge andere Bevölkerungsgruppen finanzieren, wenn es keine nationale Zusammengehörigkeit gibt? Eine Gesellschaft, die nur durch staatlichen Zwang diese Leistungen erbringt, wäre globalen Herausforderungen nicht gewachsen und anfällig für Krisen.
Wer soll Opfer bringen – und warum?
Die Aufforderung John F. Kennedys, der Einzelne solle nicht nur an sich denken, sondern auch daran, was er für andere, für sein Land leisten könne, gilt für alle, die in einem Staat und einer Gesellschaft zusammenleben wollen. Dieses Bewusstsein ist offensichtlich gerade in jüngster Zeit und auch unter Personen, die den Führungseliten zuzurechnen sind, verloren gegangen. Nationalbewusstsein und Nationalgefühl – der Bezug von Einzelnen auf etwas Gemeinsames – spiegelt sich in einem modernen oder aufgeklärten Patriotismus, der nicht auf der Ausgrenzung oder Abwertung von anderen beruht, sondern auf dem Bezug auf das Gemeinwohl.
Letztlich steht der Begriff in engem Zusammenhang zurZivil- oder Bürgergesellschaft, in der der Bürger durch seine Tugendhaftigkeit die sozialen und moralischen Voraussetzungen für Demokratie konstituiert. Patriotismus verbindet Individuen aus verschiedenen sozialen Gruppen und Milieus, unabhängig von ihrer Abstammung in der Verpflichtung auf ein aufgeklärtes, tolerantes, weltoffenes Gemeinwesen. Ein aufgeklärter Patriotismus verknüpft Freiheit und Bindung, Freiheit und Solidarität sowie Universalismus und Partikularismus. Wird „Nation“ nicht nur als Schicksalsgemeinschaft, sondern vor allem als Willens- und Wertegemeinschaft verstanden, ist die Nation weder naturgegeben noch konstruiert, sondern subjektivistisch geprägt: Nationale Identität gewinnt der Einzelne durch eine von ihm getroffene Entscheidung.
Die Mehrheit will ein aufgeklärtes Verständnis von Nation
Eine Mehrheit der Deutschen favorisiert mittlerweile dieses aufgeklärte Verständnis von Nation. Um die Staatsbürgerschaft zu erlangen, sollten ihrer Meinung nach gute Kenntnisse der Sprache, Wissen über die deutsche Kultur, ein europäischer Lebensstil und eine lange Biografie im Land Voraussetzung sein. Nur noch eine Minderheit von nicht einmal jedem Fünften möchte darüber hinaus Kriterien wie Abstammung und Volkszugehörigkeit einbeziehen.
Viele ausländische Beobachter attestieren inzwischen einer Mehrheit der Deutschen ein „reflektiertes Nationalbewusstsein“, das auf der selbstverständlichen Verbindung von nationaler Zusammengehörigkeit und Werteordnung beruht. Für eine breite Mehrheit der Deutschen, vor allem Jüngere, sind nationale Gefühle – wie bei der Fußballweltmeisterschaft – heute zur „Normalität“ geworden und wecken nur bei wenigen eine Assoziation mit dem Nationalsozialismus. Schwerer tun sich die Deutschen vor allem in Ostdeutschland mit der gemeinsamen Identität als Deutsche – auch fast zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung. Während sich eine sehr breite und seit der Vereinigung anwachsende Mehrheit der Westdeutschen eher als Deutsche denn als Westdeutsche fühlt, war dies in den neuen Ländern erst im Jahre 2006 der Fall, wobei sich jüngere Ostdeutsche häufiger als die mittleren Jahrgänge vorrangig als Deutsche empfanden, und nicht als Ostdeutsche. Im Juli 2007 hielten 54 Prozent der von Allensbach befragten Westdeutschen und 40 Prozent der Ostdeutschen auch im Nachhinein die Parole der Leipziger Montagsdemonstranten für zutreffend: „Wir sind ein Volk“. Dem widersprachen 24 Prozent im Westen und 38 Prozent im Osten.
20 Jahre danach – und zum Teil noch fremd
Obwohl sich die Deutschen in Ost und West auch fast 20 Jahre nach der Wiedervereinigung zum Teil fremd geblieben sind und weiterhin viele Unterschiede sehen, vermutet doch eine breite Mehrheit, dass es einen typisch deutschen Nationalcharakter gebe. Allerdings gingen nur knapp 30 Prozent im Westen und 35 Prozent im Osten von einem gemeinsamen Nationalcharakter Ost- und Westdeutscher aus. Trotz dieser skeptischen Einschätzung gegenüber einer Zusammengehörigkeit bejahen gut zwei Drittel in beiden Landesteilen die Frage, ob sie „stolz darauf sind, Deutscher zu sein“. Selbst unter Abiturienten und Studenten schließt sich eine Mehrheit inzwischen dieser Auffassung an. Zwar liegen diese Anteile deutlich unter denen anderer Nationen, dennoch scheint die deutsche Ausnahmesituation zu verblassen. Jedenfalls ging bisher mit diesem „Stolz, ein Deutscher zu sein“ keine Ausbreitung von Nationalchauvinismus einher. Die vor allem in Ostdeutschland verbreitete Ausländerfeindlichkeit spricht vordergründig zwar dagegen, aber sie ist in anderen europäischen Ländern in zumindest gleichem Maße vorhanden wie in Deutschland, was zuweilen von kritischen Beobachtern übersehen wird. Jenseits der unterschiedlichen Einstellungen und des weiterhin bis zu einem gewissen Grad bestehenden Gefühls von Fremdheit zwischen Ost- und Westdeutschen werden Deutsche von Angehörigen anderer Nationen zumeist als „Deutsche“ und nicht als Ost- oder Westdeutsche gesehen. Als spezifisch deutsche Eigenschaften galten lange Fleiß, Autoritätshörigkeit, Militarismus, Nationalismus und Humorlosigkeit, von denen nach Meinung einiger Beobachter allerdings nur Letzteres noch zutrifft.
Vor diesem Hintergrund bietet das weit verbreitete Nationalgefühl keinen Anlass zur Sorge – es ist ein pragmatisches Lebensgefühl ohne nationalistische Züge. Allerdings sind Gefühle generell nicht statisch, im Gegenteil: Sie sind sehr volatil, können sich situativ in die eine wie in die andere Richtung verändern. Von daher scheint es zwingend, jungen Deutschen ein Nationalbewusstsein zu vermitteln, das auf den Erfahrungen der Geschichte basiert und die individuelle und gemeinsame Verantwortung für das Gemeinwohl und für den Fortbestand einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft in den Vordergrund stellt.