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Räume begrenzter Staatlichkeit

Regieren in schwachen und zerfallen(d)en Staaten aus Sicht des Völkerrechts

10.06.2009

Regieren in schwachen und zerfallen(d)en Staaten aus Sicht des Völkerrechts.

Regieren in schwachen und zerfallen(d)en Staaten aus Sicht des Völkerrechts.
Bildquelle: UN Photo, Marie Frechon

Der Hauptsitz der Vereinten Nationen (UNO) in New York City: Die Sicherung des Weltfriedens, der Schutz der Menschenrechte und die Einhaltung des Völkerrechts gehören zu ihren wichtigsten Aufgaben.

Der Hauptsitz der Vereinten Nationen (UNO) in New York City: Die Sicherung des Weltfriedens, der Schutz der Menschenrechte und die Einhaltung des Völkerrechts gehören zu ihren wichtigsten Aufgaben.
Bildquelle: UN Photo/Joao Araujo Pinto

Der Staat muss das überlebenswichtige Minimum an Nahrung, Bildung und Unterkunft gewähren. Darüber hinaus muss er gewährleisten, dass jeder diskriminierungsfrei effektiven Zugang zu diesen Gütern und Leistungen erhält.

Der Staat muss das überlebenswichtige Minimum an Nahrung, Bildung und Unterkunft gewähren. Darüber hinaus muss er gewährleisten, dass jeder diskriminierungsfrei effektiven Zugang zu diesen Gütern und Leistungen erhält.
Bildquelle: fotolia, chris74

Wahlen sind essenzielle Bestandteile der Demokratie. Wahlbeobachtung ist daher zu einer wichtigen Aufgabe internationaler Organisationen geworden.

Wahlen sind essenzielle Bestandteile der Demokratie. Wahlbeobachtung ist daher zu einer wichtigen Aufgabe internationaler Organisationen geworden.
Bildquelle: fotolia, Christian Schwier

Räume begrenzter Staatlichkeit sind Gebiete, in denen Kernelemente moderner Staatlichkeit fehlen – ein legitimes Gewaltmonopol oder die grundsätzliche Fähigkeit der Regierenden, politische Entscheidungen durchzusetzen. Ein Blick auf die zahlreichen Krisenregionen weltweit und auf die Schwäche von Entwicklungsländern und sogenannten Übergangsstaaten nach dem Zerfall der Sowjetunion zeigt, dass begrenzte Staatlichkeit kein Randphänomen ist. Vielmehr ist sie in der Gegenwart eine der zentralen Herausforderungen an politische Gestaltung: Wie kann unter solchen Bedingungen ein Gemeinwesen funktionieren? Wie werden Ordnung, Sicherheit und Wohlfahrt gewährleistet? Existieren normative Maßstäbe für solches Regieren – und welchen Inhalt haben sie?

Analytische und normative Ansätze

Um diese Fragen zu beantworten, muss man sich dem Phänomen begrenzter Staatlichkeit aus verschiedenen Perspektiven annähern: In analytischen Ansätzen wird danach gefragt, auf welche Weise regiert wird, also wie die verschiedenen Akteure ihre Handlungen koordinieren: hierarchisch, kooperativ, über Diskurse oder Symbole? Welche Bedeutung haben Machtasymmetrien in diesen Strukturen? Hier können Politikwissenschaft, Regionalstudien und politische Ökonomie wertvolle Erkenntnisse beisteuern. Erklärungsmuster liefern auch historische Analysen, in denen vergleichbare Arten der Handlungskoordination untersucht und dabei längere Zeiträume betrachtet werden können. In normativen Ansätzen wird demgegenüber nach den Maßstäben gefragt, um vorgefundene Formen des Regierens zu bewerten. Solche Maßstäbe lassen sich beispielsweise aus der Philosophie oder dem Völkerrecht begründen. Alle diese Untersuchungsansätze werden seit dem Jahr 2006 in einer interdisziplinär zusammengesetzten Forschergruppe an der Freien Universität Berlin verfolgt: im Sonderforschungsbereich 700 „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit – Neue Formen des Regierens?“. Die Völkerrechtswissenschaft sucht also nach normativen Maßstäben für das Regieren in Räumen begrenzter Staatlichkeit. Solche völkerrechtlichen Normen können sowohl die internen Verfahren der Entscheidungsfindung und -durchsetzung betreffen als auch Vorgaben für die Inhalte des Regierens umfassen. Beispiele für Verfahrensvorgaben wären eine Verpflichtung zur Demokratie oder zu einer unabhängigen Justiz, Beispiele für materielle Vorgaben sind etwa ein Recht auf Leben, Freiheit oder Nahrung.

Eine Art „Überverfassungsrecht“

Dort, wo das Völkerrecht Staaten zur Beachtung und Verwirklichung solcher Vorgaben verpflichtet, wirkt sich dies in mehrfacher Hinsicht praktisch aus: Zum einen wird das Völkerrecht damit gewissermaßen zum „Über- Verfassungsrecht“, also zu einer universellen Blaupause für die Gestaltung innerstaatlicher Verfassungen. Gerade für Räume begrenzter Staatlichkeit könnte sich dies als besonders nützlich erweisen, weil das Völkerrecht von der Staatengemeinschaft geschaffen wurde und damit überstaatliche Legitimität besitzt. Seine Vorgaben sind daher möglicherweise in einer innerlich zerrissenen Gesellschaft eher konsensfähig als Vorschläge für die Gestaltung der staatlichen Regierungsstruktur, die von einem politischen Gegner stammen. Es gibt eine zweite praktisch wichtige Folge der Existenz völkerrechtlicher Vorgaben für das Regieren in Staaten: Damit bestehen auch Maßstäbe für die Fälle, in denen die Vereinten Nationen (United Nations Organization, UNO) zur oder nach Beendigung eines Konflikts in Staaten vorübergehend die Herrschaftsgewalt übernehmen.

Doch kann das Völkerrecht diese Erwartungen erfüllen? Ist es von seiner Struktur her geeignet, verfahrensrechtliche und materielle Maßstäbe für das Regieren in Staaten aufzustellen? Das Völkerrecht ist nämlich – anders als es seine Bezeichnung vermuten lässt – nicht das Recht zwischen den Völkern, sondern das Recht zwischen den Staaten. Wie also kann diese Rechtsordnung relevant werden, wenn unserem Untersuchungsgegenstand doch gerade zentrale Merkmale moderner Staatlichkeit fehlen?

Was ist moderne Staatlichkeit?

Die Antwort liegt in einem „schlankeren“ Staatsverständnis: Zwar setzt das Völkerrecht für die Qualifizierung eines politischen Gebildes als Staat voraus, dass auf einem bestimmten Territorium eine Bevölkerung mit Zusammengehörigkeitsgefühl – ein „Staatsvolk“ – effektiv beherrscht wird. Insofern legt es also das Bild moderner Staatlichkeit zugrunde. Aber hieraus folgt nicht automatisch, dass bei Wegfall eines der Kriterien die Qualität eines Staates entfiele. Vielmehr bleibt das Gebilde ein Staat im Rechtssinne, solange erwartet werden kann, dass es das verlorene Merkmal wiedererlangt. Wie das Beispiel Somalia zeigt, ist diese Erwartung oftmals nur eine Fiktion. Sie wird aufrechterhalten, um zwischenstaatliche Gewaltanwendung zu verhindern. Würde nämlich die Staatsqualität wegfallen, so würde das Verbot zwischenstaatlicher militärischer Gewalt nicht mehr anwendbar sein – jeder Staat dürfte also versuchen, sich das Gebiet gewaltsam anzueignen.

Staaten im Sinne des Völkerrechts

Räume begrenzter Staatlichkeit bleiben also Staaten im Sinne des Völkerrechts, unabhängig von der Schwäche oder gar dem Fehlen einer Staatsgewalt. Indes steht die Suche nach völkerrechtlichen Maßstäben für das Regieren in solchen Staaten sogleich vor einem weiteren Problem: Ist das Völkerrecht überhaupt in der Lage, Regeln für das innerstaatliche Regieren zu enthalten? Einer seiner zentralen Grundsätze ist nämlich die souveräne Gleichheit der Staaten, derzufolge jeder Staat für seine inneren Angelegenheiten selbst verantwortlich ist und in die sich andere Staaten nicht einmischen dürfen. Mit der Anerkennung völkerrechtlicher Menschenrechte – der zentralen Errungenschaft des modernen Völkerrechts – ist jedoch dieser Bereich einzelstaatlicher Exklusivität drastisch zurückgedrängt worden: Die Menschenrechte haben den staatlichen „Souveränitätspanzer“ quasi durchlöchert.

Damit ist zugleich auch schon eine – halbe – Antwort auf die Frage nach dem Bestehen völkerrechtlicher Vorgaben für das Regieren gegeben: Alle völkerrechtlichen Menschenrechte sind solche materiellen Vorgaben: Sie begrenzen staatliches Handeln, indem sie etwa Freiheitsentzug nur unter bestimmten Voraussetzungen erlauben, und sie legen dem Staat bestimmte Pflichten auf, beispielsweise die Pflicht, Leben und Freiheit der Bevölkerung vor Eingriffen durch private Akteure zu schützen. Das gilt nicht nur für die oft als „klassisch“ bezeichneten bürgerlichen und politischen Menschenrechte – von den bereits genannten Rechten über die Religions-, Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, das Recht auf Privat- und Familienleben, das Recht auf ein faires Verfahren, das Diskriminierungsverbot bis hin zum Recht auf die Teilnahme an Wahlen.

Einen fairen Zugang gewährleisten

Diese Abwehr- und Schutzfunktion haben auch die wirtschaftlichen und sozialen Rechte, etwa das Recht zu arbeiten, das Recht auf soziale Sicherung, das Recht auf Nahrung, auf Wasser, auf Wohnen und das auf Bildung. Diese Rechte begrenzen staatliches Handeln, indem sie es dem Staat verbieten, die Rechtsausübung durch Einzelne zu verhindern, und sie verpflichten den Staat zum Schutz vor Rechtsbeeinträchtigungen durch Dritte. Was sie – entgegen einem weit verbreiteten Irrtum – nicht verlangen, ist, dass der Staat die materiellen Positionen (Arbeit, Nahrung, Wasser, Bildung und Wohnungen) selbst bereitstellt. Was der Staat leisten muss, ist die Gewährleistung eines Systems, in dem jeder diskriminierungsfrei Zugang zu diesen Positionen erhält, wenn sie von Privaten bereitgestellt werden. Das Recht zu arbeiten ist also kein „Recht auf Arbeit“ in dem Sinne, dass der Staat Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen hat. Jedoch verlangt es ein Wirtschaftssystem, in dem jeder Mensch die Möglichkeit hat, seinen Lebensunterhalt selbst zu erarbeiten. Und es verpflichtet die Staaten zur Kontrolle der privaten Leistungserbringer, zum Beispiel im Falle privatisierter Wasserversorgung.

Die zweite Hälfte der Antwort bezieht sich auf Verfahrensvorgaben des Völkerrechts für das Regieren. Sie lassen sich aus den bestehenden Menschenrechten herauslesen, soweit sie ihre implizite oder explizite Voraussetzung sind. Dies wird bei den Justizgrundrechten besonders deutlich, also unter anderem beim Recht auf ein Gerichtsverfahren bei zivilrechtlichen Streitigkeiten und strafrechtlichen Anklagen, beim Recht auf ein faires Verfahren, beim Recht auf einen Strafverteidiger: Diese Rechte ergeben nur einen Sinn, wenn eine unabhängige Justiz existiert. Diese muss institutionell abgesichert sein, etwa durch die Auswahl der Richter, bei Entscheidungen über Beförderungen und im Disziplinarwesen sowie bei der Entlohnung, um die persönliche Unabhängigkeit zu sichern und Korruption vorzubeugen. Darüber hinaus bedarf es zentraler Elemente der Herrschaft des Rechts (rule of law) und der Gewaltenteilung, etwa der Verpflichtung von Verwaltung und Regierung, die Verbindlichkeit von Gerichtsentscheidungen zu gewährleisten und bei der Entscheidungsvollstreckung mitzuwirken. Denn was nützt ein Sieg vor Gericht, wenn der Gesetzgeber das Urteil aufheben oder wenn die Exekutive das Urteil ungestraft ignorieren kann?

Aus anderen Menschenrechten lässt sich ebenfalls auf die Verpflichtung der Staaten schließen, die Rechtsbindung der Exekutive zu gewährleisten. Die meisten bürgerlichen und politischen Rechte gestatten nämlich Rechtsbeschränkungen lediglich auf gesetzlicher Grundlage. Dies ist nur dann eine wirksame Schranke gegen staatliche Willkür, wenn Gesetzgeber und vollziehende Gewalt institutionell und personell voneinander getrennt sind. Auch zahlreiche Resolutionen der UNO oder regionaler Organisationen wie des Europarats, der Organisation amerikanischer Staaten (OAS) oder der Afrikanischen Union (AU) lassen erkennen, dass heute ein weitgehender Konsens dahingehend besteht, dass die Herrschaft des Rechts und die Unabhängigkeit der Justiz weltweit anerkannte und universell geltende Normen des Völkerrechts sind.

Gibt es eine Pflicht zur Demokratie?

Einer der heikelsten Punkte bei der Suche nach völkerrechtlichen Strukturprinzipien für Staaten ist die Frage, ob völkerrechtlich eine Pflicht zur Demokratie besteht. Normativ bestehen zwei Anknüpfungspunkte im geltenden Recht: zum einen die politischen Menschenrechte (Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie das Wahlrecht) und zum anderen das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

Artikel 25 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte („Zivilpakt“) garantiert das Recht, „an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter teilzunehmen“ sowie das aktive und passive Wahlrecht „bei echten, wiederkehrenden, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen“. Damit sind zentrale Elemente des demokratischen Systems benannt: Demokratie ist eine von Artikel 25 des Zivilpakts vorausgesetzte Staatsform. Dies verdeutlicht auch der in der Norm enthaltene Zusatz, dass Wahlen gemeint sind, „bei denen die freie Äußerung des Wählerwillens gewährleistet ist“.

Zugleich wäre es aber falsch, Demokratie auf Wahlen zu verkürzen. Zur Herrschaft des Volkes gehört es auch, dass jeder Einzelne an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten mitwirkt. Das (Völker-)Recht kann insoweit nur einen Rahmen für dieses Engagement sichern, und zwar durch die Garantie der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit im Zivilpakt. Erforderlich ist daneben in tatsächlicher Hinsicht eine funktionierende „Zivilgesellschaft“, also bürgerschaftliches Engagement für das Gemeinwesen. Dieses wiederum setzt voraus, dass die Bevölkerung sich überhaupt als zusammengehörig empfindet und nicht von Zugehörigkeit und Verantwortung allein in Bezug auf Gruppen ausgeht, die etwa nach familiären, ethnischen oder religiösen Kriterien definiert sind. Den Zusammenhalt der Gesellschaft zu fördern, ist mithin eine Pflicht der Staaten, die aus der Überlegung folgt, dass die politischen Menschenrechte nur bei sozialer Kohäsion ihre volle Wirksamkeit erlangen. Dies ist gerade zu beachten, wenn die UNO vorübergehend Herrschaftsgewalt übernimmt: Wahlen stehen nicht am Anfang, sondern bilden den Abschluss von Demokratieförderung.

Recht auf Selbstbestimmung

Die zweite Säule eines völkerrechtlich begründeten Rechts auf Demokratie ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Es ist nicht nur ein Recht auf „äußere“ Selbstbestimmung, das heißt ein Recht jedes Volkes, frei zu sein von Unterdrückung durch andere (Kolonial-) Staaten. Vielmehr umfasst es auch das Recht auf „innere“ Selbstbestimmung, also auf Entscheidung über das politische und wirtschaftliche System. Dies hat gerade die Bundesrepublik Deutschland in den Jahrzehnten der Teilung Deutschlands immer wieder hervorgehoben. Ein solches inneres Selbstbestimmungsrecht erschöpft sich nicht darin, dass ein Volk sich für eine bestimmte Regierungsform entscheiden kann. Vielmehr setzt es voraus, dass es die Entscheidung auch ändern kann. Andernfalls würden künftige Generationen ihres eigenen Selbstbestimmungsrechts beraubt.

Trotz dieser klaren Grundlagen einer völkerrechtlichen Pflicht der Staaten zur Gewährleistung eines demokratischen Systems scheuen viele Staaten ein eindeutiges Bekenntnis zur Demokratie. Die Motivation undemokratischer Regierungen liegt auf der Hand. Doch auch demokratische Staaten sind zurückhaltend, weil sie den Vorwurf des Eurozentrismus oder des Kulturimperialismus fürchten. Der Sache nach entbehren solche Vorwürfe der Grundlage, weil der Zivilpakt innerhalb der UNO ausgearbeitet wurde und er für die Staaten nur nach freiwilliger Ratifikation verbindlich wird. Heute sind immerhin 164 von 192 UNO-Mitgliedstaaten Vertragsparteien des Paktes.

Die völkerrechtlichen Maßstäbe für das Regieren stoßen in Räumen begrenzter Staatlichkeit jedoch auf ein anderes Problem: Sie verlangen vom Staat vielfältiges Handeln – Schutz, Rechtsetzung, Kontrolle, Sanktionierung von Rechtsverletzungen –, und dies auf dessen gesamtem Staatsgebiet. Moderne konsolidierte Staatlichkeit ist demnach das Leitbild, welches den Völkerrechtsregeln zugrunde liegt. Überfordert also das Völkerrecht Regierungen in Räumen begrenzter Staatlichkeit? In gewisser Weise ja. Zwar sind zahlreiche Pflichten, gerade aus den wirtschaftlichen und sozialen Rechten, abgeschwächt. Dies ist bei Rechten wie dem Recht auf soziale Sicherheit oder auf Gesundheitsschutz auch sinnvoll. Sie stehen unter einem Finanzierungsvorbehalt, weil die Staaten sie nur nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten allmählich verwirklichen müssen. Andere Pflichten können während eines Notstands, der den Staat in seiner Überlebensfähigkeit bedroht, vorübergehend suspendiert werden. Aber es bleibt ein harter Kern notstandsfester und stets zu verwirklichender Rechte. Diese betreffen insbesondere das Überleben der Bevölkerung und schützen fundamentale Werte, zum Beispiel das Folterverbot und das Diskriminierungsverbot.

Doch das Völkerrecht ist nicht blind dafür, dass Regierungen in Räumen begrenzter Staatlichkeit nicht sämtliche dieser Pflichten erfüllen können. Es reagiert aber nicht mit einer Senkung der normativen Maßstäbe, weil es gerade der Zweck von Staaten ist, ihrer Bevölkerung das überlebenswichtige Minimum zu sichern – Schutz vor willkürlicher Gewalt ebenso wie Zugang zu Nahrung, Wasser und Unterkunft. Stattdessen verweist das Völkerrecht in dieser Lage auf den Gedanken der zwischenstaatlichen Solidarität. Es betont, dass die Staaten ihre menschenrechtlichen Pflichten auch durch internationale Hilfe und Zusammenarbeit erfüllen können. Staaten, die sich weigern, diese Unterstützung anzunehmen, können vom UNO-Sicherheitsrat dazu gezwungen werden. Umgekehrt fehlt eine umfassende Pflicht zur Hilfeleistung. Immerhin lässt sich die vom Weltgipfel 2005 in New York proklamierte Schutzverantwortung (responsibility to protect) als Anerkennung einer moralischen Hilfspflicht verstehen – und dies nicht vorrangig durch militärisches Eingreifen, sondern durch Prävention.

Ein weiterer Weg, die umfassende Beachtung der Völkerrechtsnormen in Räumen begrenzter Staatlichkeit sicherzustellen, führt über diejenigen nichtstaatlichen Akteure, die dort Gebiete beherrschen: Warlords, Clanchefs und Rebellenführer sind unter bestimmten Bedingungen an fundamentale Menschenrechte gebunden. Dies gilt etwa, wenn ihre Herrschaft dem Umfang nach staatlicher Herrschaft gleichkommt (sogenannte De-facto-Regime). Es lässt sich sogar eine Bindung von Unternehmen an Menschenrechte begründen, wenn sie anstelle des Staates handeln. Ob sie alle wegen der Verletzung dieser Pflichten sanktioniert werden, hängt freilich von der Bereitschaft anderer Staaten ab, dafür zu sorgen. Jedenfalls bietet das Völkerrecht einen Rahmen für die normative Bewertung des Regierens in schwachen und zerfallen(d)en Staaten, der für die politischen Möglichkeiten des Handelns innerstaatlich wie international bedeutsam ist.

Weitere Informationen

Prof. Dr. Beate Rudolf

Freie Universität Berlin, Fachbereich Rechtswissenschaft, Öffentliches Recht, Boltzmannstraße 3, 14195 Berlin

www.jura.fu-berlin.de