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Heiliges Recht

Die Sharia und der Staat: Wie Wissenschaftler der Freien Universität islamisch geprägte Gesellschaften untersuchen

08.12.2009

Mehr als 220 Millionen Muslime leben in Indonesien, nur wenige Tausend in manchen westlichen Ländern.

Mehr als 220 Millionen Muslime leben in Indonesien, nur wenige Tausend in manchen westlichen Ländern.
Bildquelle: Sockphoto.com

Professor Gudrun Krämer will die Graduiertenschule zu einer der ersten Adressen in der Welt machen, wenn es um Islamwissenschaft geht.

Professor Gudrun Krämer will die Graduiertenschule zu einer der ersten Adressen in der Welt machen, wenn es um Islamwissenschaft geht.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Der indonesische Islamwissenschaftler Syafiq Hasyim (rechts), 38, ist Doktorand an der „Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies“ und untersucht die Islamisierung der Rechtsordnung.

Der indonesische Islamwissenschaftler Syafiq Hasyim (rechts), 38, ist Doktorand an der „Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies“ und untersucht die Islamisierung der Rechtsordnung.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Kritiker fürchten, dass der wachsende Einfluss des Indonesischen Rats der Ulemas (Majelis Ulama Indonesia, MUI) auf eine Radikalisierung muslimischer Kräfte in Indonesien hindeute.

Kritiker fürchten, dass der wachsende Einfluss des Indonesischen Rats der Ulemas (Majelis Ulama Indonesia, MUI) auf eine Radikalisierung muslimischer Kräfte in Indonesien hindeute.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Sarah Albrecht (links), 29, ist seit diesem Herbst an der Berlin Graduate School of Muslim Cultures and societies. Sie beschäftigt sich mit islamischen Rechtsvorschriften.

Sarah Albrecht (links), 29, ist seit diesem Herbst an der Berlin Graduate School of Muslim Cultures and societies. Sie beschäftigt sich mit islamischen Rechtsvorschriften.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Mehr als 220 Millionen Muslime leben in Indonesien, nur wenige Tausend in manchen westlichen Ländern. Gelten für sie dieselben religiösen Gesetze? Wie unterscheiden sich Regeln und Riten in islamischen Mehrheitsgesellschaften von jenen Gegenden, in denen Muslime in der Minderheit sind? Solchen Fragen gehen die Wissenschaftler der „Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies“ nach, mit der die Freie Universität im Exzellenzwettbewerb erfolgreich war. Sie interpretieren die Worte religiöser Gelehrter und untersuchen den Einfluss mächtiger Lobby-Organisationen. Ihr Ziel: den Kampf der Kulturen zu bekämpfen.

Wer etwas auf sich hält in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, der sucht sich eine repräsentative Adresse. In den Hauptstädten der Welt beziehen Firmen, Verbände und Organisationen herrschaftliche Geschäftsräume, samt dicker Teppiche, großer Schreibtische, prunkvoller Leuchter; gerne in der Nähe der Regierenden. Größe und Pracht der Büros und Empfangsräume sollen zeigen: Wir sind wichtig und einflussreich. Das Hauptstadt-Büro dient als Visitenkarte der eigenen Bedeutung – oder zumindest des eigenen Selbstverständnisses.

Wenn sich der Einfluss und Anspruch einer Organisation an ihrer Adresse ablesen lassen, dann hat der Indonesische Rat der Ulemas (Majelis Ulama Indonesia, MUI), eine Art Dachorganisation der muslimischen Gruppen im Land, enorm an Macht und Selbstvertrauen gewonnen: Aus dem Keller einer großen Moschee zog der Rat ins Zentrum von Jakarta, in einen neu gebauten Büroturm, sehr teuer, sehr schick.

Der Rat muslimischer Gelehrter gewinnt an Einfluss

Der Rat muslimischer Gelehrter, 1975 gegründet, ursprünglich um die vielen religiösen Gruppen des Landes unter quasi-staatlicher Kontrolle zu halten, hat sich zu einer eigenen politischen Kraft entwickelt, zu einer sehr machtvollen sogar. Seine neue Stärke zeigt sich keineswegs nur am Umzug des Hauptquartiers, sondern vielmehr am Einfluss auf die öffentliche Meinung und auf die Gesetzgebung Indonesiens, vor allem auf Ebene der Provinzen und Verwaltungsbezirke.

Der indonesische Islamwissenschaftler Syafiq Hasyim, 38, nennt es eine „Islamisierung der Rechtsordnung“. Er ist Doktorand an der „Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies“ (BGSMCS), mit der die Freie Universität Berlin im Exzellenzwettbewerb des Bundes und der Länder erfolgreich gewesen ist. Für seine Doktorarbeit untersucht Hasyim den Einfluss des Ulema-Rates auf die Gesetzgebung: Er will nachzeichnen, wie die Organisation es schafft, dass die Sharia, also das religiöse Recht des Islam, Eingang finden in die Gesetzte des qua Verfassung säkularen Staates Indonesien. Zudem will er untersuchen, wie die Aktivitäten des Rates zusammenhängen mit dem Erstarken eines radikalen Islamismus in dem größten Inselstaat der Erde mit seinen 220 Millionen gläubigen Muslimen. Hasyim konzentriert sich dabei auf die sogenannte Reform-Ära, also jene Jahre seit 1998, als Präsident Suharto zurücktreten musste.

Hasyim zufolge ist eines der wichtigsten politischen Instrumente des Gelehrten-Rates die Fatwa, das muslimische Rechtsgutachten. So ließ die Organisation beispielsweise eine Fatwa verfassen, in der sie ein Bankensystem, in dem Zinsen vorgesehen sind, für nicht vereinbar erklärt mit islamischen Rechtsvorschriften. „Mit anderen Worten hat die MUI gesagt, die indonesische Regierung handle sündhaft, weil sie es den Finanzmarkt-Institutionen erlaubt, Zinsen für Kredite zu verlangen und Zinsen an Anleger zu verteilen“, so Hasyim. Lautstark fordere die Organisation eine Sharia-Bank.

Kein Geld für Alkohol und Schweinefleisch

Die MUI ist außerdem damit beauftragt, zusammen mit anderen Organisationen Teile des Finanzmarktes zu überwachen: So kann er die Vergabe von Darlehen an Firmen verhindern, die Produkte herstellen und verkaufen,die das islamische Recht verbietet, etwa Alkohol oder Schweinefleisch. „Es ist Teil ihrer Agenda, die Gesetzgebung zu islamisieren“, sagt Hasyim. Seine Vorstellungen habe der Ulema-Rat bereits bei den Gesetzen gegen Pornografie durchsetzen können: In den vom Parlament verabschiedeten Paragraphen spiegele sich die zuvor vom Rat herausgegebene Fatwa sehr deutlich wider. Der Gelehrten-Rat hat landesweit ein eindrucksvolles Netzwerk aufgebaut, mit über 150 regionalen Niederlassungen. Er vertritt die Sicht von mehr als 60 muslimischen Organisationen. Einen wichtigen Erfolg verzeichnete er im Sommer 2008: Auch auf sein Betreiben hin beschnitt die Regierung die Aktivitäten einer muslimischen Sekte im Land, die nicht daran glaubt, dass Mohamed der letzte Prophet war.

Kritischer Blick auf radikale Organisationen

Kritiker fürchten: Der wachsende MUI-Einfluss deutet auf eine Radikalisierung muslimischer Kräfte in Indonesien hin, einem Land, das bislang als vergleichsweise moderat und weltoffen bekannt war. So ähnlich drückt es auch der Wissenschaftler Hasyim aus. Als Anhänger eines pluralistischen Religionsverständnisses bewerte er den wachsenden Einfluss auf die Legislative kritisch. „Der Platz der Religion ist die Gesellschaft, nicht die Rechtsprechung“, sagt er. Auch deswegen will er die Rolle einiger radikaler Mitglieds-Organisationen der MUI genauer untersuchen, etwa der „Islamischen Verteidigungsfront“ (Front Pembela Islam) oder des „Indonesischen Mujahedin Rates“ (Majlis Mujahidin Indonesia). „Ich will verstehen, wie der MUI seine Kapazitäten nutzt.“ Denn die Fatwas beeinflussen auch die öffentliche Meinung – mit zum Teil für westliche Beobachter bizarren Folgen. So beschäftigte sich der Rat mit der Frage, ob ein gläubiger Muslim Yoga-Übungen turnen dürfe. Das Ergebnis: Wer Mantras singe, so die Islamgelehrten, schwäche seinen Glauben. Wer schweigend vor sich hin turne, dürfe sich dagegen entspannen. Das sei keine Sünde. Die „Berliner Zeitung“ veranlasste das zu einem launigen Text unter der Überschrift „Kann denn Yoga Sünde sein?“

Auf sein Forschungsprojekt ist Syafiq Hasyim bestens vorbereitet. Er hat in Jakarta Philosophie und islamische Theologie studiert, dann einen Masterstudiengang im niederländischen Leiden drangehängt. Mehrere Jahre arbeitete er für Nicht-Regierungs-Organisationen, half beim Wiederaufbau nach der Tsunami-Katastrophe, beschäftigte sich mit Fragen des Gender-Mainstreamings und der Geschlechtergerechtigkeit. Gerade aus der Diskussion über Frauenrechte weiß er, wie schwierig manche Diskussionen mit sehr streng gläubigen Muslimen sein können: „Das ist ein langer Prozess“, sagt er. Jetzt, als einer von knapp 15 Doktoranden des zweiten Jahres, hat er seine Forschungsarbeit an der Graduate School der Freien Universität begonnen. Der erste Jahrgang hatte bereits vor über einem Jahr angefangen.

Welche Rechtsvorschriften gelten?

Auch Sarah Albrecht, 29, ist seit diesem Herbst dabei; und auch sie beschäftigt sich mit islamischen Rechtsvorschriften.Vereinfacht gesagt geht es um die Frage: Dürfen einige Rechtsvorschriften unterschiedlich ausgelegt werden, je nachdem, in was für einer Gesellschaft der Gläubige lebt? Darf also ein Muslim in Deutschland, wo er in der Minderheit ist, einen Kredit aufnehmen, um ein Haus zu bauen? Schon in ihrer Abschlussarbeit am Institut für Islamwissenschaft der Freie Universität beschäftigte sich Albrecht mit den Texten des prominentesten sunnitischen Gelehrten Yusuf al-Qaradawi.

Seine Kern-These: Der Islam soll das Leben erleichtern. Es könne nicht sein, dass Muslime vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen werden, wenn sie in der Minderheit seien. Um der Familie ein Dach über dem Kopf zu bieten, müsse ihnen auch ein Kredit erlaubt sein für den – entgegen islamischen Rechtsvorschriften – Zinsen verlangt werden. „Der Grundgedanke heißt ‚taysir’, die Erleichterung des Lebens durch Religion“, sagt Albrecht. „Es ist ein intellektuelles Vergnügen, mit den jungen, engagierten und hochqualifizierten Wissenschaftlern zusammen zu arbeiten“, schwärmt Gudrun Krämer, Professorin für Islamwissenschaft an der Freien Universität und Direktorin der Graduate School. Sie alle kämen zwar aus unterschiedlichen Disziplinen und Ländern, dennoch habe man schnell zueinander gefunden und könne auf höchstem Niveau miteinander arbeiten.

Arbeiten auf höchstem Niveau

Eines von Krämers Zielen: Die Graduiertenschule zu einer der ersten Adressen in der Welt zu machen, wenn es um Islamwissenschaft geht, vergleichbar mit den führenden US-Universitäten oder der School of Oriental and African Studies in London. „Dafür müssen wir die Strukturen verstetigen, die wir seit Beginn des Exzellenzwettbewerbs aufgebaut haben“, sagt sie, „wir müssen uns international noch stärker vernetzen und vor allem langfristig denken, auch über den nächsten Exzellenzwettbewerb hinaus.“ Inhaltlich geht es Krämer mit der Graduiertenschule vor allem darum, die innere Vielfalt, historische Wandelbarkeit und globale Vernetzung islamisch geprägter Kulturen und Gesellschaften in den Mittelpunkt zu rücken. „Das heißt nicht, dass wir Osama bin Laden verharmlosen wollen oder den Karikaturenstreit“, sagt Krämer. Der Kampf der Kulturen sei schon deswegen eine falsche Annahme, weil es den einen Islam an sich nicht gebe. „Der Islam ist kein einheitliches, abgeschlossenes Gebilde“, sagt Krämer, „keine homogene Zivilisation.“ Die Vielfalt des Islam erforschen, ohne Konflikte zu verharmlosen, das sei das Vorhaben. Zugespitzt lautet die Leitfrage: Was ist eigentlich islamisch an der islamischen Welt? Die bis zu 45 Doktoranden der Graduiertenschule werden dabei zu Fachleuten für islamisch geprägte Gesellschaften ausgebildet. Ihre Qualifikation soll ihnen erlauben, später Führungspositionen in Wissenschaft, Medien, Politik und in der internationalen und kulturellen Zusammenarbeit einzunehmen. Knapp 30 Doktoranden forschen bereits an der Graduiertenschule. Sie kommen aus der ganzen Welt: Aus Indonesien wie Syafiq Hasyim, aus Pakistan, den USA und Großbritannien, aus Ägypten und aus der Türkei und natürlich auch aus Berlin wie Sarah Albrecht. Weit über 100 angehende Wissenschaftler haben ihre Unterlagen beim aktuellen Bewerbungsverfahren eingereicht, das im November endete: eine Beschreibung ihres Forschungsvorhabens, einen Lebenslauf, zwei Empfehlungsschreiben und einen Nachweis über die eigenen Fremdsprachenkenntnisse.

Zehn Doktoranden pro Jahr

Zehn Doktoranden pro Jahr können auf ein Stipendium hoffen, die Förderung beträgt rund 1.400 Euro im Monat. Der Ansatz der Graduiertenschule ist interdisziplinär: Wissenschaftler aus verschiedenen Fachrichtungen arbeiten zusammen, um zu Erkenntnissen zu kommen. Systematisch verknüpfen Regionalwissenschaftler, Historiker, Soziologen, Ethnologen, Politikwissenschaftler und andere Forscher ihre Methoden und Interessen miteinander. Auch arbeiten hier Wissenschaftler verschiedener Institutionen Hand in Hand: sie kommen von der Freien Universität, der Humboldt Universität, vom Zentrum Moderner Orient und vom Max- Planck-Institut für Bildungsforschung. „Das ist Lehre und Forschung auf hohem Niveau“, sagt Krämer. Zusätzlich wurden mit Mitteln der Freien Universität drei Zeitprofessuren eingerichtet: Eine Professur für islamisches Recht – ein wichtiger Ansprechpartner bei den Forschungsvorhaben von Hasyim und Albrecht – und zwei Juniorprofessuren, die sich mit Muslimen in Europa und muslimischen Gesellschaften in Südasien beschäftigen. Geradezu bestürzt ist Gudrun Krämer über das Islam-Bild, das in der Öffentlichkeit vorherrscht: „Politisch aktive Muslime und der Islam im Allgemeinen werden als Gefahr gesehen“, sagt sie. Daran habe sich in den letzten Jahren kaum etwas geändert. Und kaum jemand mache sich bewusst, wie sehr der Ruf des Westens in islamisch geprägten Gesellschaften gelitten habe. Bei weltweit mehr als einer Milliarde Muslimen – der Islam gilt nach dem Christentum als die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft – könne das sehr ernste politische Konsequenzen haben.

Das Islam-Bild differenzierter gestalten

Wenn es durch die Forschung in Dahlem gelänge, dazu beizutragen, das Islam-Bild der breiten Öffentlichkeit differenzierter zu gestalten, sei viel erreicht. Auch deshalb konzentrieren sich die Forschungsvorhaben an der Graduiertenschule nicht nur auf die Konfliktregionen. „Natürlich steht der vordere Orient im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses“, sagt Krämer. Aber auch Afrika, südlich der Sahara, sowie Süd- und Südostasien sollen nicht zu kurz kommen. Gerade in diesen Gegenden entspricht das muslimische Leben oft nicht der Klischee-Vorstellung vom Islam. Ihre religiöse Praxis ist nicht nur räumlich sehr weit entfernt von Saudi- Arabien. Das bestätigt auch Syafiq Hayim, der es so ausdrückt: „Die Religion findet nicht in einem leeren Raum statt, sie steht in enger Beziehung zu ihrem Umfeld, in dem sie praktiziert wird.“ Er ist auch ein bisschen stolz darauf, wie pluralistisch in seinem Land der Glaube gelebt wird. Um so wichtiger sei es, die Mechanismen der Islamisierung der indonesischen Gesetzgebung zu verstehen. Denn: „Das Recht muss neutral bleiben“, sagt er.

Weitere Informationen

Prof. Dr. Gudrun Krämer:

Gudrun Krämer studierte von 1972 bis 1978 Geschichte, Islam- und Politikwissenschaft sowie Anglistik in Heidelberg, Bonn und Sussex (Großbritannien). 1981 folgte die Promotion, 1994 die Habilitation im Fach Islamwissenschaft an der Universität Hamburg. Von 1982 bis 1994 war sie Nahost-Referentin an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen bei München und vertrat 1987 bis 1989 die Professur für gegenwartsbezogene Orientwissenschaft an der Universität Hamburg, bevor sie 1994 den Ruf auf die Professur für Islamwissenschaft an der Universität Bonn annahm. 1996 übernahm sie den Lehrstuhl für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sie ist unter anderem Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Executive Editor der Encyclopaedia of Islam Three und seit 2007 Direktorin der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies, gefördert aus Mitteln der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder sowie der Freien Universität Berlin.