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Der Krieg um Seelen

Wie sich die katholische Kirche Brasiliens gegen Charismatiker, Pfingstgemeinden und selbsternannte Propheten wehren muss

08.12.2009

Wie sich die katholische Kirche Brasiliens gegen Charismatiker, Pfingstgemeinden und selbsternannte Propheten wehren muss.

Wie sich die katholische Kirche Brasiliens gegen Charismatiker, Pfingstgemeinden und selbsternannte Propheten wehren muss.
Bildquelle: iStockphoto.com

Gleich hinter der Catedral da Sé verläuft die Frontlinie des Glaubens zwischen Katholiken und den aufstrebenden Sekten Brasiliens.

Gleich hinter der Catedral da Sé verläuft die Frontlinie des Glaubens zwischen Katholiken und den aufstrebenden Sekten Brasiliens.
Bildquelle: istockphoto.com

Die Sängerin und Pastoren-Tochter Aline Barros ist so etwas wie die Céline Dion des Amazonas. Oft handeln ihre Lieder davon, wie Jesus ihr Leben verändert hat.

Die Sängerin und Pastoren-Tochter Aline Barros ist so etwas wie die Céline Dion des Amazonas. Oft handeln ihre Lieder davon, wie Jesus ihr Leben verändert hat.
Bildquelle: picture alliance

Lange hat die Katholische Kirche andere Glaubensbewegungen in Brasilien ignoriert und unterschätzt.

Lange hat die Katholische Kirche andere Glaubensbewegungen in Brasilien ignoriert und unterschätzt.
Bildquelle: iStockphoto.com

Es herrscht ein seltsamer Krieg in São Paulo. Die Frontline verläuft quer über den Largo Sete de Setembro, gleich hinter der Catedral da Sé. Das Feindesland beginnt in der Rua Conde de Sarzedas, direkt auf der anderen Seite des Platzes. Statt mit Waffen kämpfen die verfeindeten Truppen mit T-Shirts, Heiligenbildern und Erbauungsliteratur; ihre Soldaten sind Priester, Prediger und Pop-Stars. Auf dieser Seite der Front halten Marcello Rossi und Odilo Pedro Kardinal Scherer die Truppen zusammen. Sie haben einen mächtigen General: Den Stellvertreter Christi auf Erden, Nachfolger des Apostelfürsten, den Obersten Priester der Weltkirche, Bischof von Rom, Erzbischof und Metropolit der Kirchenprovinz Rom, Souverän des Staates der Vatikanstadt, Diener der Diener Gottes.

Es herrscht Krieg um die Seelen Brasiliens. Es ist ein Krieg ohne Waffen; ein Krieg mit dem Versprechen auf eine bessere Zukunft; ein Krieg der Worte. Mit all ihrer Macht kämpft die katholische Kirche gegen die aufstrebenden Sekten der Charismatiker, gegen Pfingstgemeinden und Freikirchen, gegen Scharlatane und Wunderheiler, Exorzisten und selbsternannte Propheten. Und vor allem kämpft Rom gegen einen andauernden Trend: Von 1980 bis ins Jahr 2000 hat sich die Zahl der Anhänger der Evangelikalen Kirchen laut offizieller Statistik mehr als verdreifacht. Zwar ist Brasilien weltweit mit rund 130 Millionen Katholiken noch immer das Land mit den meisten Katholiken, doch noch vor 30 Jahren waren 90 Prozent aller Brasilianer katholisch, im Jahr 2000 dagegen gerade noch 73,5 Prozent – Tendenz: fallend.

Die katholische Kirche verliert Gläubige

„Lange hat die katholische Kirche diese neue Bewegung schlichtweg ignoriert“, sagt Professor Sérgio Costa vom Lateinamerika-Institut der Freien Universität, der die Entwicklungen aufmerksam verfolgt. Er beobachtet, dass in ganz Lateinamerika die sogenannten Pfingstkirchen der katholischen Kirche die Gläubigen abziehen. Wo diese vor leeren Kirchenbänken predigen, füllen jene ganze Stadien. 156 Millionen Gläubige zählen die Evangelikalen mittlerweile in Lateinamerika, das sind 28 Prozent der Bevölkerung. Zum Vergleich: 1970 waren es gerade einmal 4,4 Prozent. Warum die neuen Glaubensgemeinschaften einen solch enormen Zuwachs haben, darüber ist sich die Forschung uneins. Sicher, nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat die Liturgie viel von ihrem Mythischen verloren. „Die Kirche ist insgesamt in der Wahrnehmung der Menschen kopflastiger geworden, auch durch die Befreiungstheologie der 70er Jahre“, sagt Costa. Doch die Sehnsucht nach transzendentalen Erlebnissen sei bei vielen Menschen in Lateinamerika geblieben.

Jesus prangt auf T-Shirts

In den Kirchen der Pfingstgemeinden knien sie, die Hände zum Gebet in den Himmel gestreckt, murmeln ekstatisch ihre Gebete. Geschichten über Wunderheilungen machen die Runde, Dämonen werden ausgetrieben von Concepción bis Mexiko-Stadt, von Puerto Santa Cruz bis Caracas. Auch der Heilige Geist wird beschworen und die Menschen versichern, dass er herabgestiegen sei; zwar nicht in Gestalt einer Taube und auch nicht unter Feuer und Flammen, aber unter dem Tosen und Geschrei Tausender Gläubiger. Laufen den Katholiken wegen dieser Erscheinungen die Gläubigen weg? Auf der anderen Seite der Front inmitten São Paulos: Rua Conde de Sarzedas. Straßenhändler verkaufen T-Shirts. Statt „Adidas“ oder „Nike“ prangt auf der Brust in Großbuchstaben „JESUS“: Rucksäcke, Jeanshosen und Pullis im Namen des Herrn. Aus den Geschäften plätschert Musik: Aline Barros singt „Casa de Deus“ – „Haus Gottes“. Aline Barros ist so etwas wie die Céline Dion des Amazonas: Dreimal gewann die Pastoren-Tochter den Grammy Latino. Er wird verliehen in ehrwürdigen Hallen wie dem Shrine Auditorium in Los Angeles und dem Madison Square Garden in New York, CBS überträgt live, hohe Quote garantiert, besonders bei den mexikanischen Einwanderern. Barros hat gut drei Millionen Platten verkauft.

Evangelikale haben ihre eigenen Medien

Barros besingt in ihren Liedern die Familie und dass Jesus Christus ihr Leben verändert. Im Musikvideo zu „Pula, Pula“ hüpft sie zwischen blauen, grünen, gelben und orangefarbenen Schaumstoffblumen umher, um sie herum sieben Kindern in gelben Shirts und roten Hosen, die mitsingen und mitspringen, und würde gleich Ronald McDonald auftauchen – er fiele nicht auf. „Pula, Pula“ handelt von der reinigenden Kraft der Gemeinschaft und davon, dass man mit Gott ein Riese sei. Der Text ist kurz und eingängig, die Melodie ein Ohrwurm. „Christliche Rock- und Popmusik ist längst zu einem wichtigen Zweig der brasilianischen Unterhaltungsindustrie geworden“, sagt Professor Costa. Und damit die christlichen Lieder zu Hits werden, wurde eine Reihe von Fernsehsendern und Radiostationen aufgebaut.
Edir Macedo, Gründer der „Igreja Universal do Reino de Deus“, der „Universalkirche vom Reich Gottes“, besitzt mit TV Record das drittgrößte Sendernetzwerk Brasiliens. 1977 gründete der vormalige Lotterieverkäufer aus Rio de Janiero seine Organisation, inzwischen ist die Universalkirche die größte der Neopfingstkirchen in ganz Brasilien: mit eigenen Schulen und Filialen in der ganzen Welt. Der selbsternannte Bischof Macedo lebt hauptsächlich in den USA. Zu seinen Auftritten, die ganze Stadien füllen, lässt er sich mit seinem Privatjet einfliegen. Medienwirksam nimmt er dort Wunderheilungen an Krebs- und Aids-Kranken vor, vorgeblich Lahme können wieder gehen und Blinde sehen und alles kraft des Heiligen Geistes.

Weltliche Steuerhinterziehung im Reich Gottes

Doch momentan ist die Kirche des Reiches Gottes mit sehr weltlichen Dingen beschäftigt: Im Sommer begann ein Prozess gegen die Führer der Gemeinschaft; der Vorwurf: Steuerhinterziehung. Macedo und neun weitere Angeklagte sollen in den vergangenen Jahren umgerechnet mehr als eineinhalb Milliarden Euro an Spendengeldern gewaschen und danach in kircheneigene Unternehmen investiert haben. Laut Gesetz hätten die Spenden jedoch ausschließlich für die Glaubensgemeinschaft selbst verwendet werden dürfen. Seitdem Klage erhoben wurde, spricht TV Record von einem Komplott der Staatsanwaltschaft. Dass gegen Macedo schon 1992 wegen Scharlatanerie und Betrugs ermittelt wurde, erwähnt der Sender freilich nicht. Eine andere Kirche in Brasilien geht mittlerweile sogar auf die Straße: Mehr als eine Million Menschen demonstrierten Anfang November für ein Ende der angeblichen Diskriminierung der „Igreja Renascer em Christo“ – „Kirche der Wiedergeburt Christi“. Auch diese Sekte ist in den Blick der Steuerermittler geraten:Das Gründerehepaar der Gemeinschaft, Sonia und Estevam Hernandes, wurde 2007 bei der Einreise in die Vereinigten Staaten mit mehreren Millionen Dollar Schwarzgeld erwischt. Sie hatten das Geld in Bibeln versteckt und daraufhin fast ein Jahr unter Hausarrest gelebt. Ihr berühmtester Anhänger indes fehlte: Real Madrids brasilianischer Fußballstar Kaká.

pare de sofrer - hör' auf zu leiden

„Im Grunde genommen geht es bei den neu entstandenen Pfingstkirchen in Brasilien um Profit“, sagt Sérgio Costa. „Ihr Ethos basiert auf einem Glauben an einen Gott, der Reichtum verspricht. Um ihn zu erreichen, ist fast alles erlaubt.“ Andere Forscher sprechen von einer „Theologie des Wohlstands“, das Motto vieler Seelenfänger sei „pare de sofrer“ – hör auf zu leiden. Ethische Ansprüche und Moral stören da nur. Wie das Geschäft mit dem Wohlstand läuft, lässt sich jeden Sonntag in den neu erbauten Kirchen der evangelischen Pfingstler beobachten: In Surfklamotten sind die Männer gekommen, die Frauen stark geschminkt, figurbetont gekleidet. Eine Bibel haben fast alle dabei, im Hintergrund leiert eine Orgel vor sich hin. Dann geht das Licht aus, die Show kann beginnen: Spotlight, Jubel, Auftritt des Predigers.

Selbst die Ärmsten spenden

Viele der selbsternannten Pastoren kommen aus der Wirtschaft, haben vorher als Manager in der Wirtschaft gearbeitet, oft im Marketing. Und das zahlt sich aus: „Wer braucht Geld?“, fragt der Pastor. „Ich!“, schreit die Menge. „Lauter!“, befiehlt der Prediger. „Gebet, so wird euch gegeben“, ruft er, während die Menschen mit Geldscheinen in der Luft wedeln. Nun fährt der Prediger seinen Lohn ein: Für ihn erfüllt sich das Versprechen von Reichtum und Wohlstand, denn einen Teil der Einnahmen darf er behalten, der andere Teil muss abgegeben werden an jene, die höher stehen in der Hierarchie seiner Gemeinschaft. Wer kann, spendet am Ende des Gottesdienstes die geforderten 50 Reis – das entspricht etwa 20 Euro. Wer nicht so viel Geld übrig hat, spendet 20 oder 30 Reais, und selbst die Armen Favela- Bewohner, die Menschen in den Brasilianischen Slums, spenden einen oder zwei Reais, weil man ihnen eingeredet hat, der Betrag werde irgendwann zehnfach zurückkommen. „Besonders die armen Bevölkerungsschichten sind empfänglich für die Botschaften der Neopfingstler, die ihre alltäglichen Bedürfnisse unmittelbar ansprechen“, sagt Brasilien- Experte Costa.

Die Prediger der neuen Pfingstkirchen kommen so selbst dorthin, wo staatliche Hilfe die Menschen nicht mehr erreicht: in die Gefängnisse, die Unterwelt der Megastädte und in die entlegensten Dörfer des Amazonabeckens. Und wo sie nicht persönlich erscheinen können, da senden sie ihre Botschaft als Video über die Fernsehkanäle und seit einiger Zeit auch über das Internet. Demografie als Erklärungsmuster für den Erfolg? Es gibt laut Costa noch eine Facette: „Insgesamt nutzen die Neopfingstkirchler ihre Ressourcen gewinnoptimiert“, sagt er. „Im Vergleich zur katholischen Kirche haben sie das bessere Marketing, die besseren Verbreitungsstrukturen und niedrigere Kosten.“ Religionals Wettbewerb?

Künstler im Namen Gottes und des Profits

Einige Katholiken nehmen genau diesen Wettbewerb an, möchten den Grammy Latino in der Kategorie „Bestes christliches Album“ nicht länger den Neopfingstlern überlassen. Einer von Ihnen ist Padre Marcelo Rossi, auch er ein Künstler im Namen des Herrn. Rossi singt, begleitet von Klavier und Gitarre, und klingt dabei ein bisschen wie sein italienischer Namensvetter Vasco Rossi – nur ist die Stimme des Brasilianers weniger verraucht und die Botschaft stärker katholisch: „Sei das Zentrum, sei alles in meinem Herzen, Herr.“ Rossi füllt mittlerweile ganze Fußballstadien, hat alleine im vergangenen Jahr 3,3 Millionen CDs und DVDs abgesetzt und war damit schon zum zweiten Mal hintereinander Topseller des Landes. Der 40-Jährige ist Mitbegründer der katholischen Bewegung „Charismatische Erneuerung“. Die Erlöse aus seinen Konzerten und Plattenverkäufen steckt der katholische Priester in kirchliche Sozialprojekte.

Die Evangelikalen gehen in die Politik

Um den Krieg um die Seelen der Brasilianer zu gewinnen, braucht die katholische Kirche Menschen wie Rossi. Und sie rüstet auch an anderen Stellen auf: Auch die Katholiken aus dem charismatischen Flügel bemühen sich immer mehr um überzeugende Medienauftritte. Doch eines freilich unterscheidet die beiden Kontrahenten: Während Rom nach dem biblischen Wort handelt „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ und nicht unmittelbar in das brasilianische Parteiengefüge eingreift, gründen die Evangelikalen politische Parteien. Mittlerweile haben ihre Abgeordneten ein Fünftel der Sitze des Parlaments erobert – das sind mehr als die größte Partei. Noch handeln sie unkoordiniert und bekämpfen sich manchmal gegenseitig. „Aber es besteht die Gefahr, dass die Evangelikalen in den kommenden Jahren mehr Einfluss auf die Politik Brasiliens nehmen“, sagt Costa. In jüngster Zeit haben sie sich immerhin schon einmal zusammengetan: Als das Strafbuch für Umweltdelikte um den Passus des Lärmschutzes ergänzt werden sollte, schritten die Evangelikalen mit ihren Partien geschlossen ein: Die neuen Bestimmungen hätten an vielen Orten die Gottesdienste der Freikirchen eingeschränkt.

Weitere Informationen

Univ.-Prof. Dr. Sérgio Costa:

Sérgio Costa, geboren 1962 in Belo Horizonte,Brasilien, studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universidade Federal de Minas Gerais, und absolvierte dort im Anschluss auch ein Masterstudium in Soziologie. Danach promovierte er mit Summa cum Laude am Fachbereich Soziologie der Freien Universität, Thema: „Dimensionen der Demokratisierung: Öffentlichkeit, Zivilgesellschaft und lokale Partizipation in Brasilien“. Von Februar 1996 bis April 1997 war er Gastdozent und von April 1997 bis August 1999 Professor für politische Soziologie an der Universidade Federal de Santa Catarina, Brasilien. Von September 1999 bis August 2005 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lateinamerika-Institut (LAI) der Freien Universität und schloss im Juni 2005 das Habilitationsverfahren an der Freien Universität ab mit der Habilitationsschrift „Vom Nordatlantik zum Black Atlantic: Sozialtheorie, Antirassismus, Kosmopolitismus“. Anschließend wurde er zum Forschungsprofessor am CEBRAP – Brasilianischem Zentrum für Analyse und Planung, São Paulo, berufen. Seit Februar 2008 ist er Universitätsprofessor für Soziologie, Schwerpunkt Lateinamerika, am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin und am LAI, seit April 2009 auch Vorsitzender des Institutsrates des Lateinamerika-Instituts.