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Bestseller gegen den Glauben

Die „Neuen Atheisten“ zwischen Ablehnung und Zustimmung

08.12.2009

Wäre Sigmund Freud ein „Neuer Atheist“, wenn er heute lebte?

Wäre Sigmund Freud ein „Neuer Atheist“, wenn er heute lebte?
Bildquelle: Jon Worth / British Humanist Association

Dawkins plädiert dafür, nach dem Vorbild der Evangelikalen Lobbygruppen zu bilden, um die Politik im eignen Sinne beeinflussen zu können.

Dawkins plädiert dafür, nach dem Vorbild der Evangelikalen Lobbygruppen zu bilden, um die Politik im eignen Sinne beeinflussen zu können.
Bildquelle: Jon Worth / British Humanist Association

Peter Sloterdijk veröffentlichte zeitgleich mit den „Neuen Atheisten“ religionskritische Schriften, die aber bei Weitem nicht für so viel Furore sorgten.

Peter Sloterdijk veröffentlichte zeitgleich mit den „Neuen Atheisten“ religionskritische Schriften, die aber bei Weitem nicht für so viel Furore sorgten.
Bildquelle: www.petersloterdijk.net

Ob die britische Buskampagne mit den Bannern „There is probably no God“, ob religionskritische Bestseller, ein atheistisches Kinderbuch, dessen Verbot diskutiert wurde, oder der satirische Film „Religulous“ – (eine Wortschöpfung im Englischen aus „religion“ und „redicoulous“, also lächerlich) in der letzten Zeit waren vermehrt Stimmen zu vernehmen, die religiöse Glaubensüberzeugungen kritisieren. Nach Jahren der medialen Abstinenz erfreut sich atheistische Religionskritik einer verstärkten öffentlichen Aufmerksamkeit. Im Rampenlicht stehen die vier sogenannten Neuen Atheisten.

Die Plätze reichten nicht aus: Nachdem das Publikum im Hörsaal schon auf den Aufgängen stand, musste ein zweiter Saal geöffnet werden. Mit diesem Andrang hatten die Veranstalter wohl kaum gerechnet, als sie im Oktober 2007 den britischen Biologen Richard Dawkins in die Hörsaalruine der Berliner Charité einluden. Die Vorstellung seines religionskritischen Buches Der Gotteswahn wurde zum Publikumsmagneten. Zu guter Letzt wichen die Zuhörer auf die Ausstellungssäle des benachbarten Medizinhistorischen Museums aus: Dort standen sie zwischen anatomischen Feucht- und Trockenpräparaten und den technischen Errungenschaften der modernen Medizingeschichte und lauschten andächtig über Lautsprecher dem Plädoyer Dawkins‘ gegen den Glauben an Gott, gegen jede Form von Religion und insbesondere gegen den Kreationismus. Es schien, als ob Richard Dawkins mit diesem Thema in Berlin – manchmal lapidar tituliert als Hauptstadt des Atheismus – ein Heimspiel gehabt hatte. Sein Werk wurde zum Bestseller auf dem deutschen Büchermarkt, er gastierte im deutschen Fernsehen bei Johannes B. Kerner und Sandra Maischberger.

Religionskritik als Publikumsmagnet

In seinem Buch Der Gotteswahn argumentiert Dawkins, dass jede Form des Glaubens an Gott irrational sei und dass Religionen schwerwiegend negative Effekte auf die Gesellschaft hätten. Mit naturwissenschaftlichen und philosophischen Argumenten versucht er nichts weniger als eine Beweisführung gegen die Existenz Gottes. Dabei teilt er gegen religiöse Hardliner ebenso aus wie gegen religiös-moderate Kräfte: Diesen wirft er vor, den Fundamentalisten einen Deckmantel zu geben, indem sie darauf beharrten, dass religiöser Glaube per se etwas Gutes und Schützenswertes sei, welches zu tolerieren sei und nicht kritisiert werden dürfe. Die Reaktionen kamen prompt: In der deutschen Öffentlichkeit wurde eine heftige, emotional aufgeladene Kontroverse rund um sein Buch geführt. Kritiker wie der protestantische Theologe Friedrich Wilhelm Graf bezeichneten Dawkins als „biologistischen Hassprediger“. Andere, wie der atheistische Religionskritiker Joachim Kahl, warfen ihm mangelnde religionsgeschichtliche Kenntnisse vor, Selbstüberschätzung und Arroganz.

In Deutschland wurde allerdings weniger wahrgenommen, dass Dawkins‘ religionskritische Schrift kein Einzelfall war: Im englischsprachigen Raum, in dem sein Buch zuerst publiziert worden war, kam es während der zweiten Amtszeit des US-amerikanischen Präsidenten George W. Bush regelrecht zu einer Staffelübergabe von religionskritischen Büchern auf den Bestsellerlisten: Den Auftakt machte 2004 der Neurobiologe Sam Harris mit The End of Faith (dt.: Das Ende des Glaubens, 2007). Zwei Jahre später kam – fast zeitgleich mit dem Werk von Richard Dawkins – das Buch Breaking the Spell: Religion as a Natural Phenomenon (dt. Den Bann brechen: Religion als natürliches Phänomen, 2008) des bekannten Philosophen und Kognitionsforschers Daniel Dennett in die Buchläden. Ein Jahr darauf veröffentlichte schließlich Christopher Hitchens, Journalist und bekannter Provokateur der englischsprachigen Medienwelt sein religionskritisches Pendant unter dem zugespitzten Titel God is not Great. How Religion Poisons Everything (dt.: Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet, 2007). Wie Dawkins’ Buch lösten diese religionskritischen Bestseller ein breites Medienecho aus, sei es in den Printmedien, im Internet oder im Fernsehen. Alle namhaften US-amerikanischen Tageszeitungen und Zeitschriften führten Interviews mit den vier Autoren oder widmeten ihnen Artikel, darunter auch umfangreiche Leitartikel und Titelbilder. Die zeitliche Ballung an religionskritischen Schriften und ihre inhaltlichen Parallelen veranlasste Zeitungskommentatoren dazu, dieses Phänomen unter dem griffigen Label „Neuer Atheismus“ zusammenzufassen. Die Bücher fanden ihren Widerhall auch in den Universitäten, in denen die Auseinandersetzung mit den Thesen und Argumenten dieser vier sogenannten Neuen Atheisten äußerst leidenschaftlich geführt wurde. Interessant hierbei ist, dass die Kritik nicht nur von theologischer Seite geäußert wurde, also von den akademischen Vertretern der Religionen. Gleichermaßen positionierten sich Historiker und Philosophen, die sich zudem häufig selbst als atheistisch und religionskritisch charakterisierten. Auf welchen Resonanzboden die Schriften der Autoren Harris, Dennett, Dawkins und Hitchens fielen, zeigt bereits die enorme Masse an skeptischen Besprechungen: Die Anzahl der Bücher ihrer Kritiker übersteigt allein in den USA die der „Neuen Atheisten“ um ein Fünfzehnfaches.

Alter Wein in neuen Schläuchen?

Bei der Rezeption dieser vier religionskritischen Bücher wurde oft gefragt, ob die „Neuen Atheisten“ nicht nur alten Wein in neuen Schläuchen anböten. Ironischerweise hatten die Autoren diesen Titel nie für sich selbst in Anspruch genommen. So häufig das griffige Label auch verwendet wurde – es blieb eine Fremdbezeichnung. Harris, Dennett, Dawkins und Hitchens charakterisieren sich selbst als Atheisten, als Ungläubige, als Gottlose, als säkulare Humanisten oder als sogenannte Brights – als „Neuer Atheist“ bezeichnet sich keiner von ihnen. Vor diesem Hintergrund ließe sich mit Recht fragen, ob die Charakterisierung der Autoren als „Neue Atheisten“, verbunden mit dem Vorwurf, hier finde sich gar nichts Neues, in erster Linie ein rhetorischer Trick sei. Religionskritische Stimmen sind weder in der Gegenwart eine Neuigkeit noch sind sie eine Ausnahme in der Religionsgeschichte – sie sind vielmehr der Regelfall. Dabei muss aber einerseits unterschieden werden zwischen inner- und interreligiöser Kritik und andererseits einer atheistischen Religionskritik, die von außen an Religionen herangetragen wird. Innerhalb der Religionsgemeinschaften war und ist die Frage nach den zentralen Glaubensinhalten präsent und bietet immer wieder Anlass für leidenschaftliche Diskussionen und scharfe Kritik. Unterschiedliche Antworten auf diese Frage führen zu religiöser Binnendifferenzierung oder sogar zu Spaltungen. Die protestantische Reformation ist im westlichen Kontext wohl das prominenteste Beispiel. Auch zu erinnern ist an den Buddhismus als kritische Antwort auf den Hinduismus. In diesem Sinne lässt sich die gesamte Religionsgeschichte als kontinuierliche Kritik zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften verstehen. Hierbei allerdings wird der Rahmen der Religion nicht gesprengt. Religionskritik bedeutet somit nicht zwangsläufig eine prinzipielle Ablehnung von Religion.

Anders verhält es sich hingegen bei der atheistischen Religionskritik. Atheismus, abgeleitet vom griechischen átheos, „gottlos“, ist die Verneinung der Existenz Gottes oder der Götter – und damit der entscheidenden Grundlage der meisten Religionen. Umstritten ist freilich, von welchem Zeitpunkt an überhaupt von einer explizit atheistischen Religionskritik gesprochen werden kann: Einigen Auffassungen zufolge ist Atheismus ein sehr spätes und sehr vereinzeltes Produkt des Zeitalters der Aufklärung; andere hingegen gehen davon aus, dass es bereits in der Antike einen Atheismus gab. Sicher finden aber lässt sich eine radikale atheistische Religionskritik bei Paul Henri Thiry d’Holbach (Le christianisme dévoilé, 1761; Système de la nature, 1770). 

Die Thesen der „Neuen Atheisten“

Von diesem explizit sich als Atheisten verstehenden Denker, ist – um nur einige herausragende Vertreter atheistischer Religionskritik zu nennen – über Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Jean-Paul Sartre und Bertrand Russell eine Kontinuität atheistischer Religionskritik bis in die Gegenwart zu den sogenannten „Neuen Atheisten“ zu erkennen. Angesichts der zahlreichen Gegenschriften und der starken medialen Rezeption lässt sich fragen, welche religionskritischen Argumente, Thesen und Formulierungen Harris, Dennett, Dawkins und Hitchens anbieten. In ihren vier Büchern lassen sich neben Unterschieden auch breite inhaltliche Übereinstimmungen finden: Ausgehend von einem naturalistischen Weltbild lehnen sie religiöse Aussagen und Ansprüche weitestgehend ab. Das betrifft vor allem die Frage nach der Existenz Gottes beziehungsweise von Göttern. Die bekennenden Gottlosen geben hier erwartungsgemäß eine negative Antwort. Aber nicht nur bei der Gottesfrage sagen Religionen ihrer Meinung nach schlicht die Unwahrheit. Mit dem Blick auf religiöse Erzählungen in der Bibel oder im Koran bezweifeln sie die Auferstehung Jesu oder die Jungfräulichkeit Marias ebenso wie den Himmelsritt des Propheten Mohammed. Für sie handelt es sich hierbei durchweg um Mythen, fern jeder historischen Überprüfbarkeit. Aber die Fragen nach religiöser Wahrheit sind für die „Neuen Atheisten“ nicht so entscheidend wie die Gefährlichkeit von Religion. Immer wieder weisen sie darauf hin, dass Religionen riskant seien, sie die Gesellschaft „vergiften“ (Hitchens) und gerade im Hinblick auf die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA die zentrale Gefahr für das friedliche Zusammenleben auf unserem Planeten bedeuten. Einige wenige Schlagworte hierfür sind: Religion als Hauptgrund von Konflikten und Kriegen, Religion als Grund für die Unterdrückung weiblicher Sexualität und von Homosexualität, Religion als „Kindesmissbrauch“ (Dawkins). Mit diesen starken Verweisen stellen sie sich all jenen entgegen, die in der Religion etwas Positives für den Zusammenhalt der Gesellschaft beziehungsweise in ihr die alleinige Quelle von Moral und Werten sehen.

Auch wenn sie Religion grundsätzlich und umfassend ablehnen und in ihr keine Funktion für die Gesellschaft erkennen mögen: Sie sind mit dem simplen Umstand konfrontiert, dass es überall auf der Welt und zu allen Zeiten Religionen gegeben hat und gibt. Wie wird dieses Problem argumentativ gelöst? Häufig anzutreffen sind Überlegungen zur Entstehung des Phänomens Religion. Die Götter als Ursprung der Religion scheiden für sie freilich aus. So bleibt die Betrachtung der Religion als ein „natürliches Phänomen“ (Dennett), das – beispielsweise als Nebenprodukt anderer evolutionärer Mechanismen – im Zuge der menschlichen Evolution entstanden ist. 

Offener Atheismus und politische Forderungen

Häufig zu finden sind Aufforderungen an atheistische Leser, sich zu einem offenen oder verbindlichen Atheismus zu bekennen, sich in Analogie zur Schwulenbewegung öffentlich zu outen. Vor dem Hintergrund, dass eine überwältigende Mehrheit der US-Bürger angibt, keinen Atheisten in das Weiße Haus wählen zu wollen, entfaltet dieser Coming-out-Appell eine besonders polarisierende Sprengkraft. Diese Aufforderungen sind – was häufig übersehen wird – vor allem im Hinblick auf die US-amerikanische Gesellschaft zu verstehen: Alle vier „Neuen Atheisten“ betonen, sie hätten ihre Bücher für ein US-amerikanisches Publikum verfasst – und das nicht so sehr als wissenschaftliche Abhandlung, sondern als gesellschaftspolitisches Pamphlet. Dawkins plädiert sogar dafür, atheistische Lobbygruppen nach dem Vorbild von Evangelikalen zu bilden, um die Politik beeinflussen zu können. Interessant ist in diesem Kontext, dass alle der „Neuen Atheisten“ sich auf die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika berufen, in der die Trennung von Staat und Religion festgeschrieben ist. Sie warnen vehement vor dem Einfluss christlicher Lobbygruppen auf die Politik von Präsident George W. Bush und sahen darin einen Bruch der Verfassung. In dieser Hinsicht greifen die vier Bücher das US-amerikanische Selbstverständnis als einer Christian Nation an – ein Eigenbild, dass gerade zur Zeit der Präsidentschaft von George W. Bush vermehrt öffentlich diskutiert wurde.

Aber bei den vier Protagonisten bleibt es nicht bei Appellen und Warnungen. Es sind deutliche Tendenzen zu beobachten, sich politisch zu organisieren und auf diese Weise gesellschaftlichen Einfluss zu erlangen und zur Verbreitung atheistischer Ideen beizutragen: Dieses Ziel verfolgen zum Beispiel die 2006 von Dawkins gegründete Richard Dawkins Foundation for Reason and Science und die von Harris 2008 ins Leben gerufene Stiftung The Reason Project. Aber auch die offensiven öffentlichen Auftritte sind in diesem Sinne zu bewerten, sei es einzeln als Talkshow-Gäste oder gemeinsam in einem Video, dass die vier „Neuen Atheisten“ buchstäblich beim Kamingespräch zum Thema „Gott und die Welt“ zeigt – und unter dem Titel The Four Horsemen erschienen ist. Eine offensichtliche Anspielung auf die vier apokalyptischen Reiter, die in der christlichen Johannes- Offenbahrung das Ende der Welt einleiten.

Mehr Medienecho in den USA

Der Zuschnitt der Bücher auf US-amerikanische Gegebenheiten wirft die Frage auf, warum Dawkins – und in geringerem Maße seinen drei Kollegen – in Deutschland solche Wellen der Aufmerksamkeit entgegenschlugen. Denn zeitgleich zu den Übersetzungen der „Neuen Atheisten“ kamen religionskritische Schriften deutschsprachiger Autoren auf den Büchermarkt: Ulrich Beck und Peter Sloterdijk sind hier ebenso zu nennen wie der Journalist Robert Misik mit seinem Buch Gott behüte! Warum wir die Religion aus der Politik raushalten müssen und Michael Schmidt-Salomon, Autor des atheistischen Kinderbuches Wo bitte geht‘s zu Gott? fragte das kleine Ferkel, welches das Bundesfamilienministerium wegen angeblichen Antisemitismus’ auf die Liste jugendgefährdender Medien setzen lassen wollte. Wie die Reaktionen auf Dawkins’ Bestseller zeigen die hitzigen Debatten, die dieser letztlich abgelehnte Verbotsantrag entfachte, ein Stimmungsbild einer Gesellschaft, die mit grundlegenden Fragen konfrontiert wird: Wie soll das adäquate Verhältnis zwischen Glauben und Wissen, zwischen Religion und Politik aussehen? Welche Bedeutung haben Religionsgemeinschaften für das Gemeinwohl? Und: Wie weit darf Kritik gehen? Darf es in einer offenen Gesellschaft Bereiche geben, die der Kritik entzogen bleiben?

Weitere Informationen

DFG-Projekt: Die „Rückkehr der Religionen“ und die Rückkehr der Religionskritik – Der „Neue Atheismus“ in der deutschen und US-amerikanischen Gegenwartskultur:

In ihrem Projekt richten die Religionswissenschaftler Thomas Zenk und Ulf Plessentin unter der Leitung von Professor Hartmut Zinser ihren Blick vor allem auf die prominentesten Vertreter des sogenannten Neuen Atheismus – Richard Dawkins, Sam Harris, Christopher Hitchens und Daniel Dennett. Die „Neuen Atheisten“ berufen sich in ihren religionskritischen Bestsellern auf ein naturalistisches und wissenschaftliches Weltbild, lehnen Religionen weitgehend ab und betreiben eine aktive politische Umsetzung ihrer Ideen. Im Rahmen einer qualitativen Untersuchung werden die theoretischen sowie politischen Grundlagen, Ursachen und Ziele der „Neuen Atheisten“ ebenso untersucht wie die Reaktionen ihrer Kritiker und die Berichterstattung über die Kontroverse. Gerade der Blick auf die Medien und der Vergleich zwischen der Rezeption der „Neuen Atheisten“ in Deutschland und den USA versprechen, einen interessanten Beitrag für die gegenwartsbezogene Analyse des Stellenwerts religiöser Überzeugungen zu liefern.