Springe direkt zu Inhalt

Sei stark, kenne deine Schwächen

Der Glaube an den Studienerfolg: Warum Zweifeln ans Ziel führt – und zu viel Zuversicht schadet

08.12.2009

Er ist Experte für schwierige Fälle: Wenn die Abschlussprüfung naht und Panik ausbricht, wenn Monate nach Beginn der Diplomarbeit noch keine Seite gefüllt ist, wenn das Studium zur Qual wird und der Glaube an den Abschluss schwindet, dann weiß Hans-Werner Rückert Rat. Der Psychologe und Leiter der „Zentraleinrichtung Studienberatung und Psychologische Beratung“ der Freien Universität Berlin erklärt, welche Wege aus dem Motivationsloch führen und wie es gelingt, die Schaffenskrise zu überwinden. Und er verrät, warum Skepsis mehr bringt als blindes Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit.

Herr Rückert, wenige Menschen haben so viele verzweifelte Studenten kennengelernt wie Sie: Seit 15 Jahren leiten Sie die „Zentraleinrichtung Studienberatung und Psychologische Beratung“. Wie geben Sie denen, die zu Ihnen kommen, den Glauben daran zurück, dass sie es schaffen können?

Hans-Werner Rückert: Darum geht es nicht unbedingt. Wir wollen den Leuten nicht einhämmern: Du bist ein Tiger, du schaffst es, reiß’ den Erfolg an dich! Das halte ich für völligen Unsinn. Es geht darum, das Selbstbild und die Wirklichkeit durch eigenes Handeln in Einklang zu bringen; ehrlich zu sich selbst zu sein und sich zu fragen: Warum studiere ich? Ist mein Ziel realistisch? Studiere ich das Richtige? Macht mir das Spaß? Entwickle ich mich weiter? Welche Alternativen habe ich?

Aber es hilft schon, an den eigenen Erfolg zu glauben?

Rückert: Natürlich erleichtert es den Studienabschluss, wenn man daran glaubt, dass es klappen kann. Kontraproduktiv droht es zu werden, wenn das ein naiver Glaube ist, der nicht hinterfragt wird. Wer sich unreflektiert darauf verlässt, dass alles schon irgendwie funktionieren wird, der erlebt mitunter böse Überraschungen.

Was kann das sein?

Rückert: Rückschläge, schlechte Noten, verpatzte Prüfungen, das Gefühl, nicht dazuzugehören – wenn es einfach nicht so läuft, wie man sich das vorgestellt hat. Ein Beispiel: Durch die NC-Beschränkung haben wir in vielen Fächern an der Freien Universität sehr gute, intellektuell sehr leistungsfähige Studenten. In manchen Fächern gibt es eine Auslese derjenigen, die schulisch sehr erfolgreich unterwegs waren, mit einem Abiturschnitt von 1,4 oder besser. Einige von denen treffen nun zum ersten Mal auf Leute, die genauso schlau sind – oder noch schlauer. Das kann die Selbstwahrnehmung erschüttern. Zumal ganz andere fachliche Anforderungen auftauchen: Einser-Schüler, die keine Probleme in Schul-Mathe hatten, geraten auf einmal ins Straucheln, wenn sie Mathematik studieren. Oder jene Deutsch-Leistungskurs-Schüler, die überrascht merken, dass ein Altgermanistik-Studium mehr erfordert als passioniertes Lesen von Romanen. Der Gedanke ans Scheitern kam bei denen bislang gar nicht vor. Und nun bekommen sie für eine Hausarbeit plötzlich die Note 2,7. Da geraten einige ins Nachdenken, manche stürzt das in eine Krise.

Es kann aber auch gut gehen?

Rückert: Natürlich. Die Hälfte aller Studienanfänger sagt, sie habe einen seit Langem feststehenden Berufswunsch, eine Art Berufung. Es kann einen über das Studium hinwegtragen, mit Gewissheit zu fühlen, dass man unbedingt Pharmazeut oder Chemiker werden will. Schwierig wird es, wenn Kosten-Nutzen-Erwägungen überwiegen, etwa: Als Ingenieur oder Betriebswirt habe ich tolle Berufsaussichten, das Fach selbst interessiert mich aber kaum – ich beame mich quasi durchs Studium. Das funktioniert selten.

Angenommen, es geht schief. Wie findet man aus der Verzweiflung heraus?

Rückert: Die Krise akzeptieren. Lernen, dass es okay ist, wenn es nicht immer voran oder aufwärts geht. Der gradlinige Weg muss nicht der beste sein. Bei denen, die nie nachgedacht und sich hinterfragt haben, ist das manchmal schon schwierig. Es ist eine Bürde, aber natürlich auch eine Chance, wenn sich der Kinderglaube in Luft auflöst. Für viele ist es die erste Krise ihres Lebens. Vielleicht haben sie vorher einmal ein bisschen Liebeskummer gehabt oder sich mehr oder weniger konfliktreich von den Eltern gelöst. Aber dass ihre Leistung nicht genügt, kennen viele nicht.

Das Akzeptieren allein hilft?

Rückert: Es ermöglicht einen neuen Blick – und das ist manchmal gar nicht so leicht. Das Schlimme an der Krise ist ja, dass sie sich lausig anfühlt; Selbstzweifel und Versagensängste nagen an den Betroffenen. Das Selbstwertgefühl geht auf Talfahrt. Man muss lernen: Das kann passieren, es ist kein Beinbruch, und man kann es überwinden. Bei den meisten richtet es das Leben selbst. Freunde und Familie spenden Trost, bieten Unterstützung an und verbreiten die Botschaft: Du bist nicht der Einzige, dem das passiert. 

Wie arbeiten Sie mit denen, die nicht von ihren Freunden aufgefangen werden?

Rückert: Wir schauen uns drei Dinge an: die Persönlichkeit, die Motivation und die Aufgaben, vor denen jemand steht. Nehmen wir beispielsweise ein klassisches Problem: Jemand beginnt eine Dissertation, schiebt aber die Arbeit vor sich her, monatelang, manchmal jahrelang. Dann kommen die Selbstzweifel, die Angst vor dem betreuenden Professor, die Unmöglichkeit, sein Tun vor sich selbst zu rechtfertigen – man gerät in schweres Fahrwasser. Wir wollen in der Beratung herausfinden, was die ursprüngliche Motivation für die Dissertation war. Wollte jemand vielleicht nur die Arbeitslosigkeit vermeiden? Bei der persönlichen Entwicklung schauen wir, ob vielleicht eine innere Entfremdung eingetreten ist: Hat sich jemand verändert und kann mit dem Thema einfach nichts mehr anfangen? Am einfachsten ist es, wenn jemandem nur das Handwerkszeug fehlt, um die Aufgaben zu erledigen. Dann hilft manchmal ein Forschungsaufenthalt, ein Methodentraining oder eine Umarbeitung der Gliederung.

Bei Motivationsproblemen oder persönlichen Schwierigkeiten gestaltet es sich schwieriger?

Rückert: Eindeutig ja. Zum Beispiel, wenn die Motivation sehr weit weg liegt, also in der Zukunft. Wir überlegen gemeinsam, wie sich die Motivation auf die tägliche Arbeitsplanung herunterbrechen lässt. Was will ich an einem Tag, in einer Woche, in einem Monat erreicht haben? Was ist realistisch? Bei der persönlichen Entwicklung schauen wir, welchen Stellenwert das Projekt in der Lebensplanung hat. Gibt es überhaupt eine Lebensplanung? Oder ist die Krise ein Zeichen dafür, dass man sich darüber Gedanken machen sollte? 

Wie lassen sich schwere Krisen vermeiden?

Rückert: Ganz vermeiden lassen sie sich kaum, sie gehören zum Leben. Die Bewältigung von Krisen trägt zur Entwicklung der Persönlichkeit bei, in diesem Punkt sind sich Entwicklungspsycholgen einig. 

Dann anders gefragt: Wie lässt es sich lernen, Krisen für sich zu nutzen?

Rückert: Grundsätzlich halte ich ein selbstkritisches Herangehen für aussichtsreicher als eine blinde Überzeugung von der eigenen Größe. Deshalb würde ich raten: Ziehen Sie die Möglichkeit des Scheiterns von vornherein in Betracht, entwickeln Sie Alternativpläne! Und vor allem: Sprechen Sie mit Freunden und Kollegen über Ihre Pläne, unterziehen Sie Ihre Vorhaben einem Realitäts-Check. Als akademischer Einzelkämpfer am Schreibtisch verliert man schnell den Bezug zur Wirklichkeit. Wer nie mit anderen über Lernfortschritte und Berufspläne spricht, weiß nicht, ob er wirklich gut vorbereitet ist – und dann kommt das böse Erwachen am Tag der Prüfung. 

Was meinen Sie mit Realitäts-Check?

Rückert: Ich habe als Negativbeispiel eine Frau vor Augen, die uns in der Beratung erzählte, sie wolle eigentlich Kriminalpolizistin werden. Ihre Eltern wollten aber, dass sie Jura studiert. Also hat sie eine Art Kompromiss gemacht: Ich studiere erst, dann gehe ich zur Polizei. Aber sie hat nie überlegt oder recherchiert, ob und wie sie auf welcher Ebene als Juristin überhaupt bei der Polizei einsteigen kann, ob dieser Plan sinnvoll ist. Man sollte seine Vorhaben auf Realisierbarkeit überprüfen. 

Angenommen, ein Student steckt schon mitten in seiner Diplom- oder Master-Arbeit, verzweifelt aber jeden Tag daran. Er will unbedingt diesen Abschluss, kommt aber nicht voran. Was kann er tun?

Rückert: Das ist schwer pauschal zu beantworten. Aber auch hier würde ein Plan B die Situation entkrampfen. Die Einstellung „Wenn das eine nicht klappt, mache ich etwas anderes“ kann sehr motivierend wirken. Ohne Alternativplan ist das wie ein Aufstieg auf den Mount Everest ohne Sauerstoffgerät. Und es hilft, sich selbst gegenüber Rechenschaft abzulegen – etwa durch ein Lerntagebuch. Dokumentieren Sie Ihre Fortschritte. Dann wird man mit der Nase darauf gestoßen, wenn es nicht vorangeht. Oder Sie dokumentieren Ihr Aufschiebe- Verhalten: Immer wenn sich beim Schreiben das Gehirn meldet mit dem Wunsch nach Badreinigung oder Kaffeepause, wird das notiert – und auf später verschoben. Das Aufschreiben des ablenkenden Impulses stärkt das Bewusstsein, es erleichtert die Selbststeuerung. Außerdem kann man sich für das Durchhalten belohnen statt für die Flucht. Wer Hunger bekommt, aber noch keine Zeile geschrieben hat, kann sich vornehmen: Noch eine Stunde, dann esse ich. Das Gehirn lernt, dass nicht Ablenkung belohnt wird, sondern Arbeit. 

Es gibt Erfolgstrainer, die behaupten: Du musst dir das größtmögliche Ziel setzen und fest daran glauben, um überhaupt etwas zu erreichen.

Rückert: Das halte ich für Volksverdummung. Natürlich muss ich eine Überzeugung aufbauen, dass ich eine Chance habe, den Marathon zu schaffen, sonst fange ich nicht mit dem Training an. Aber es hilft nicht, mich jeden Morgen vor den Spiegel zu stellen und mir nur zu suggerieren: Du schaffst den Marathon! Das bereitet mich in keiner Weise auf den Wadenkrampf bei Kilometer 32 vor. Wenn ich nur über Autosuggestion arbeite, habe ich keine Handlungsalternativen eingeübt, was ich tun will, sobald Schwierigkeiten auftreten. Dann bekomme ich Angst, werde panisch und im schlimmsten Fall handlungsunfähig. Autosuggestion, die Methode Coué, ist etwas aus dem 19. Jahrhundert.

Was empfehlen Sie stattdessen?

Rückert: Ich überlege mir vorher, dass es toll wäre, den Marathon zu schaffen und dass es wahrscheinlich auch klappen wird, wenn ich ausreichend trainiere. Ich motiviere mich mit Vorstellungsübungen, in denen ich das gute Gefühl, im Ziel angekommen zu sein, hochkommen lasse. Ich denke aber auch an die Schwierigkeiten, die auftreten können, vielleicht die Verhärtung des Wadenmuskels bei Kilometer 32. Ich erkundige mich, was gegen akute Krämpfe hilft. Ich bereite mich auf Schwierigkeiten vor – nicht, um eine Prophezeiung zu erzeugen, die sich selbst erfüllt. Sondern um handlungsfähig zu bleiben, wenn es eng wird. Das ist das gleiche Prinzip, mit dem Piloten nicht einfach nur lernen, sich vor dem Start zu sagen: „Es wird bestimmt ein toller Flug!“, sondern im Simulator üben, was zu tun ist, wenn Probleme auftauchen.

Weitere Informationen

Dipl.-Psych. Hans-Werner Rückert:

Hans-Werner Rückert studierte Psychologie an der Universität Kiel, absolvierte abgeschlossene Weiterbildungen in Gesprächspsychotherapie, Rational-Emotiver Therapie und Psychoanalyse. Er ist Klinischer Psychologe (BDP), Supervisor (BDP) und approbierter Psychologischer Psychotherapeut. Seit 1994 leitet er die Zentraleinrichtung Studienberatung und Psychologische Beratung der Freien Universität. Die Arbeitsschwerpunkte liegen dabei unter anderem auf Beratung und Psychotherapie von Studierenden; Procrastination; Weiterentwicklung des Studienberatungssystems, Weiterbildung von Studien- und Psychologischen Beratern. Außerdem ist er Lehrtherapeut und Supervisor der Berliner Akademie für Psychotherapie. Für die Jahre 2010 – 2013 wurde Rückert zum Präsidenten von FEDORA, des Forum Européen de l’Orientation Académique/European Forum on Student Guidance gewählt, einer Vereinigung von Beraterinnen und Beratern an europäischen Hochschulen.