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Zwischen Konflikt und Kompromiss

Kirche in der ehemaligen DDR

10.12.2009

Kirche in der ehemaligen DDR.

Die „Kapelle der Versöhnung“ an der Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße ist die Stätte der Gottesdienste der Evangelischen Versöhnungsgemeinde.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Der Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzende des Staatsrates der DDR, Erich Honecker, empfing am 6. März 1978 in Berlin den Vorstand der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR.

Der Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzende des Staatsrates der DDR, Erich Honecker, empfing am 6. März 1978 in Berlin den Vorstand der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR.
Bildquelle: Bundesarchiv

Vor der „Kapelle der Versöhnung“ knien zwei Frauen aus Bronze, die sich innig umarmen. Dieses Kunstwerk wurde der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße geschenkt.

Vor der „Kapelle der Versöhnung“ knien zwei Frauen aus Bronze, die sich innig umarmen. Dieses Kunstwerk wurde der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße geschenkt.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Das Verhältnis der DDR-Führung gegenüber der Religion und den Kirchen war von Beginn an schwierig und angespannt. Die Staatsideologie der DDR postulierte ein Verschwinden von Religion auf dem Weg zum Kommunismus, und die Kirchen waren allein schon deswegen ideologische Gegner. Auf welche schmalen Grad Kirchen zwischen Anpassung und Konfrontation wandeln mussten, weiß der Theologe und Historiker Michael Kubina, der 1984 aus der ehemaligen DDR ausreiste. Im Interview beschreibt er die Rolle der SED, wie sich die Kirchen über die Jahre arrangieren mussten, und warum Kirche für ihn ein Stück Heimat bedeutet.

Warum hatte die DDR solch ein massives Problem mit der Kirche. Was befürchtete der Staat von ihr?

Kubina: Schon ganz zu Beginn waren Kirche und Glauben für Kommunisten stockreaktionäre Phänomene, ein Relikt aus der Vergangenheit. Man war sich sicher, das würde in kürzester Frist überwunden sein. Je stärker dann die DDR an den Aufbau des Sozialismus ging, desto mehr wurden Christen und Kirche auch zu einer ideologischen Konkurrenz.

Wie zeigte sich dieses Konkurrenzdenken im Alltag?

Kubina: Die erste große Auseinandersetzung war der Kampf um die Junge Gemeinde. Da wurde erstmals klar, worum es ging: um die Jugend. Wenn die Rentner der DDR noch bis zu ihrem Tode Christen geblieben wären, hätte das die DDR wenig interessiert. 1953 flogen alle, die sich zur Jungen Gemeinde bekannten, zunächst von den erweiterten Oberschulen. Es genügte, um jedem klarzumachen, was es bedeutete, sich zur Kirche zu bekennen.

Das war eine Zeit, in der die Junge Gemeinde als „Tarnorganisation des CIA“ denunziert wurde und das Regime mit großem Aufwand Jugendweihen einführte, um der christlichen Konfirmation etwas entgegenzusetzen. Dieser Furor war im Kern also ein Kampf um die Köpfe?

Kubina: Natürlich, dem Regime war doch klar, dass es die Jugend brauchte, um den Sozialismus aufzubauen. Die Kirche war im Grunde der einzige Konkurrent darin. Die bürgerlichen Parteien waren längst gleichgeschaltet. fundiert: Warum ließ die DDR in ihrer Verfassung dann überhaupt Religionsfreiheit zu? Kubina: Die sowjetischen Besatzer hofften noch, ihren Einfluss auf ganz Deutschland ausdehnen zu können. Dafür haben sie auf Kompatibilität zum Westen geachtet. Sie gingen davon aus, dass die Amerikaner nicht auf Dauer in Europa bleiben würden, also schufen sie Instrumente, mit denen sie nach deren Rückzug Einfluss auf den Westen nehmen könnten.

Wie verhielt sich die Kirchenleitung in dieser konfrontativen Phase?

Kubina: Das entwickelte sich: In den 1950er Jahren war die deutsche Teilung noch nicht akzeptiert, auch die DDR strebte die Wiedervereinigung an, die Kirche war noch gesamtdeutsch organisiert. Sie hat den Weg der DDR in den Kommunismus nicht akzeptiert. Ihre Perspektive war: Wir haben eine Diktatur, die von der sowjetischen Besatzungsmacht gestützt ist. Sie ist illegitim, aber das wird sich mit der Zeit wieder ändern.

Diese erste Phase verlief verhältnismäßig konfrontativ ab.

Kubina: Der Mauerbau setzte dann das Umdenken in Gang. Im Westen entstand mit der neuen Ostpolitik die Erkenntnis, dass das Zurückdrängen der kommunistischen Herrschaft nicht einfach sein würde und man in Gesprächen eine schrittweise Änderung erreichen müsste. Eine ähnliche Ahnung hatten auch die Kirchen. In den 1960er Jahren begannen Überlegungen, sich auf dieses System einzustellen - weil klar wurde, dass es nicht von heute auf morgen zu beseitigen ist. Die SED hat darauf gedrängt, dass die ostdeutschen Landeskirchen aus der Evangelischen Kirche Deutschlands austreten, was sie 1969 taten. Sie schlossen sich – zum Unmut der SED – allerdings gleich zu einem neuen „Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR“ zusammen.

Die Ostdeutschen Kirchen brachen ihre Lebensader in den Westen ab. Wie wurde das begründet?

Kubina: Mit der allgemeinen historischen Entwicklung. Die Wiedervereinigung wurde immer unwahrscheinlicher, da durfte man schon fragen, ob es Sinn ergibt, Strukturen aufrecht zu erhalten, die der Staat, in dem man lebt, nicht akzeptiert. Die westlichen Landeskirchen lebten zudem in völlig anderen Verhältnissen als die östlichen.

1971 hat Bischof Albrecht Schönherr dann gesagt: „Wir wollen Kirche nicht neben, sondern im Sozialismus sein“. War die Kirche des Kämpfens müde?

Kubina: Schönherr hat nicht für die Kirche insgesamt gesprochen, aber er hat eine wichtige Strömung repräsentiert. Die SED verfolgte seit den 1950ern eine Differenzierungsstrategie. Sie teilte Kirchenvertreter in verschiedene Kategorien ein: „Progressiv“ hieß „pro kommunistisch“, als „realistisch“ galten solche, die sagten, wir müssen mit dem, was wir vorfinden, sinnvoll umgehen. Zu den „Reaktionären“ gehörte, wer das System nicht akzeptierte, sich nicht integrierte. Schönherr war zwischen „Realisten“ und „Progressiven“ zu verorten – Gruppen, die zu dieser Zeit stärker wurden. Der Schock des Mauerbaus spielte auch eine Rolle. „Kirche im Sozialismus“ war aber nicht als sozialistische Kirche gemeint.

Gewann die Kirche durch die Annäherung Freiräume? Oder war sie nun stärker der Kontrolle des Systems ausgesetzt?

Kubina: Beides. Die Verhältnisse für Christen in der DDR in den 1970er Jahren waren nicht mehr vergleichbar mit denen in den 1950er Jahren. Was sich aber kaum geändert hatte, war die Frage, welche Chancen christliche Kinder auf eine erweiterte Schulbildung oder gar Hochschulbildung hatten. Aber die Atmosphäre wurde offener.

Hier sprechen Sie aus Erfahrung. Sie sind schon als Jugendlicher in der DDR wegen enger Kirchenbindung in Schwierigkeiten geraten.

Kubina: Wenn man wie ich nicht in der FDJ war und keine Jugendweihe hatte, gab es keine Chance, an einer staatlichen Schule Abitur zu machen. Im Grunde lag es aber nicht nur daran, dass ich mich als oppositionell begriff. Nach dem Abitur wäre als nächstes die Frage des Wehrdienstes gekommen. Es kamen immer neue Unterwerfungsrituale, denen man sich unterziehen musste. Da half es nicht, eine Hürde zu nehmen, weil gleich die nächste kam.

Viele Jugendliche haben nach Kompromissen gesucht, waren in FDJ und Junger Gemeinde, machten Jugendweihe und Konfirmation. Für Sie schloss sich das aus?

Kubina: Ja, denn eines von beidem konnte nur ein Lippenbekenntnis sein. Das eigentliche Problem für mich war: Es waren reine Unterwerfungsrituale. Der Staat hat von niemandem in der FDJ erwartet, dass er sich dauernd ehrlichen Herzens zu deren Zielen bekennt, und gleiches galt für die Jugendweihe.

Zeitgleich mit dem Einlenken der Kirche in den 1970ern, dachte auch die DDR-Führung um. Hatte sie begriffen, dass sie mit ihrem Kampf gegen die Kirchen diesen eher Menschen zutreibt?

Kubina: Die SED hatte Anfang der 1950er Jahre geglaubt, dass Religion mit den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen schnell absterben würde. Das passierte aber nicht. Während Kirche in den 1950ern als ein ideologisches Konkurrenzproblem wahrgenommen wurde, erkannte man nun, dass man sich mit der Institution befassen musste. Zunächst hatte die SED es noch mit Unterwanderung versucht, das ging völlig daneben. Nun wollte sie es von oben versuchen – indem sie in den Kirchenleitungen jene Kräfte stärkte, die bei ihr als „progressiv“ oder „realistisch“ galten.

Durchaus auch mit einigem Erfolg?

Kubina: Das war nicht schwer, man konnte Privilegien gewähren und Zugeständnisse machen: Es begann beim Pfarrer, dessen Kinder doch Abitur machen konnten. So ließen sich Leute gefügig machen und der Staat zeigte: Wenn ihr auf uns zukommt, könnt ihr davon profitieren. Dass der Erfolg nicht in vollem Maße von der SED ausgekostet werden konnte, lag weniger an den Kirchen und deren Widerstand, sondern daran, dass andere Probleme bedeutender wurden.

Wie erfolgreich unterwanderte die Staatssicherheit die Kirche?

Kubina: Die Staatssicherheit hatte viele Informanten auch in den Führungskreisen der Kirche. Umstrittener ist die Frage, wie effektiv diese Informanten im Sinne des Stasi waren und was ihre Motivation war. Sie haben es der SED jedenfalls leichter gemacht, kirchenpolitische Entwicklungen einzuschätzen. Andererseits beanspruchen viele von ihnen für sich, damit auch Prozesse beeinflusst zu haben. Das lässt sich alles aber nicht nachprüfen.

Das heißt aber auch, dass Kirchenleute korrumpierbar waren.

Kubina: Grundsätzlich ist ein Christ genau so korrumpierbar wie jeder andere Mensch auch. Problematischer war, dass sich die Kirche in der DDR auf das Geschichtsmodell der SED einließ und anerkannte, dass der Kommunismus ein Gesellschaftsmodell war, das sich immer weiter ausbreitete. 

Nicht jeder fand sich ab. Pfarrer Oskar Brüsewitz verbrannte sich 1976 öffentlich aus Protest gegen die Militarisierung der DDR-Jugend. Im Westen wurde das als radikale Systemkritik aufgefasst, im Osten wurde Brüsewitz als „psychopathische Persönlichkeit“ denunziert. Lag die Wahrheit in der Mitte?

Kubina: Pfarrer Brüsewitz war eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Was er tat, war Regimekritik. Seine Gründe waren rational nachvollziehbar, nicht die Tat eines Verrückten. Der SED blieb gar nichts anderes übrig, als ihn zu diffamieren. Er hatte ausgefallene Ideen, und die Partei pickte sich das heraus, um ihn als psychisch gestört hinzustellen. Ich sehe ihn eher als einen sehr energiegeladenen, ideenreichen Menschen, der versucht hat, etwas zu bewegen. Da ist er natürlich sehr schnell an Grenzen gestoßen. 

Wie hat die DDR-Kirche reagiert – vom Entsetzen abgesehen?

Kubina: Bischof Schönherr sah den Kurs, den er beschritt, gefährdet. Er fürchtete, dass die Entwicklung zurückgeworfen wird, wenn die Haltung von Brüsewitz als die Haltung der Kirche verstanden wird. Deshalb sahen Leute wie Schönherr ihre Hauptaufgabe darin, Schadensbegrenzung zu betreiben, während andere sagten, Brüsewitz muss für uns Anlass sein, zu schauen, wo wir uns zu sehr davon entfernt haben, was Kirche sein muss und was unsere Aufgabe in der Gesellschaft ist. Das war aber die Minderheit.

Blieb die Tat folgenlos, was die Kirchenpolitik anging?

Kubina: Ja. Zwei Jahre später, am 6. März 1978, fand das berühmte Treffen von Kirchenvertretern mit Erich Honecker statt. Es zeigte, dass man diese kurze Krise überwunden hatte. Und es war ein sehr umstrittenes Treffen, mit dem sich einerseits große Hoffnungen verbanden, weil sich die SED erstmals öffentlich auf die Institution Kirche einließ. Das war im Grunde eine Bestandsgarantie, es machte klar, der Staat und die SED akzeptieren Christen als Mitglieder dieser Gesellschaft. Andererseits wurde es auch immer als Höhepunkt der Anpassungspolitik der Kirche gesehen.

Setzte sich die Auseinandersetzung über den Kirchenkurs bis an die Basis durch oder wurde eher in der Leitung und an den Fakultäten gestritten?

Kubina: Die evangelische Kirche ist ja eine relativ demokratische Einrichtung, da gibt es immer Auseinandersetzungen. Man hatte zunächst die Hoffnung, dass sich die Dinge an der Basis verbessern. Da gab es aber schnell Rückschläge, vor allem die Einführung des Wehrkundeunterrichts, den viele Christen als Affront empfanden. Es ist infolge der Annäherung sicher für niemanden schlechter geworden, die Situation war „entkriminalisiert“. Es war in Ordnung, Christ zu sein, wenn man sich integrierte. Viele Oppositionelle in der Kirche empfanden es aber als Gesichtsverlust, sie verloren ein Stück Rückhalt im eigenen Haus.

Im Grunde entblößte sich die SED in ihrem Wüten gegen den kirchlichen Pazifismus, denn Friedensbewahrung war auch ein sozialistisches Ziel.

Kubina: Der Aufnäher gegen die Militarisierung, den wir massenhaft trugen, bekam schnell eine Doppelbedeutung. Er sagte nicht nur: „Wir wollen Frieden!“, sondern auch: „Wir sind Opposition!“. Da er fast zeitgleich zur polnischen Solidarnosc-Bewegung aufkam, hatte die DDR-Spitze vor ähnlichen Aufständen auf ihrem Gebiet Angst und ist entsprechend deutlich dagegen vorgegangen.

Hat der Annäherungskurs dennoch Freiräume eröffnet, die in der Wende 1989 hilfreich waren?

Kubina: Die Kirche gewann durch ihre Annäherungspolitik Möglichkeiten, die sie sonst nicht gehabt hätte, bremste aber auch Entwicklungen. Bei der „Schwerterzu- Pflugscharen“-Bewegung hat sie auf Druck des Staates einen unnötigen Rückzieher gemacht und gehemmt, was schon im Gange war. Ob der Staat auch ohne kirchliche Einwilligung in der Lage gewesen wäre, diese Bewegung noch zu bremsen, wissen wir nicht.

Was hat die Kirche bewogen, „Schwerter-zu- Pflugscharen“ im Schreck vor dem eigenen Erfolg zurückzufahren?

Kubina: Die Sorge vor der Eskalation, gerade mit Blick auf Polen, wo der Staat hart gegen Solidarnosc durchgriff. Die Angelegenheit war der Kirche entglitten, und sie hatte Verantwortung dafür, denn sie hatte die Aufnäher verbreitet. Es sind Leute wegen des Aufnähers von den Schulen und Universitäten geflogen. Viele trugen ihn ja im Vertrauen darauf, dass die Kirche hinter ihnen steht. 

Wie entscheidend war die Kirche für die friedliche Revolution?

Kubina: Der Mauerfall selbst hat mit der Kirche nicht viel zu tun. Man darf auch fragen, ob der Zusammenbruch der DDR mit der Kirche viel zu tun hatte – es gab unzählige Faktoren dabei. Aber wie sich die friedliche Revolution konkret vollzog, ist ohne Kirche und Christen nicht denkbar. Die gesellschaftliche Relevanz der Oppositionsgruppen aus dem Kirchenumfeld sollte man dabei nicht überbewerten. Sie hatten zunächst wenig Rückhalt in der Bevölkerung. Das änderte sich erst im Sommer 1989, so dass die Kirche dann großen Einfluss darauf hatte, dass es im Herbst sehr friedlich ablief.

Man könnte etwas provokant sagen, die Kirche habe damals lediglich einen Schutzraum geboten – räumlich wie geistig. Religiöse Inhalte waren nicht so maßgeblich.

Kubina: Es ist ja auch nicht die Aufgabe der Kirche, Opposition zu sein. Sie hat sich da, wo sie sich der Opposition öffnete, auch als Schutzraum begriffen, ohne sich mit allen Inhalten zu identifizieren. Die Gesellschaft bot diesen Raum nicht, daher ist die Kirche eingesprungen. Sie war politisch keine einheitliche Kraft, aber eine Schule der Demokratie. Revolution war nie ihr Ziel.

Die SED hatte Erfolg damit, Religion zurückzudrängen: 1950 waren 85 Prozent der DDR-Bürger in der Kirche, 1989 nur noch 25 Prozent. Trotzdem gilt die Kirche als ein Wegbereiter der Wende – wie geht das zusammen?

Kubina: Aktive Minderheiten können immer viel bewegen. Wer in den 1980ern noch in der Kirche war, war nicht aus Tradition darin, sondern weil er sich bewusst dafür entschied. Das ist eine andere Qualität als bei einer Volkskirche, der jeder aus Gewohnheit angehört. Der Erfolg der SED bei der Entkirchlichung des Ostens ist auch nur mittelbar auf ihre Kirchenpolitik zurückzuführen, er ist mehr das Resultat der Entbürgerlichung.

Obwohl sie ein Motor der Wende war, hat die Kirche im Osten nach der Wende keinen Einfluss gewinnen können. Ist das die tragische Geschichte einer Institution, die ihre Schuldigkeit getan hat?

Kubina: Noch ist nicht aller Tage Abend. Prozesse der Entkirchlichung wirken langfristig und unterschwellig. Es war daher nicht zu erwarten, dass das nach der Wende ganz plötzlich kippt. Allein aus Dank in die Kirche einzutreten, wäre ja auch wenig sinnvoll gewesen.

Wie ist es bei Ihnen? Hat sich Ihr Kirchenengagement nach der Ausreise 1984 intensiviert?

Kubina: Nein. Trotzdem bin ich nicht nur formal Kirchenmitglied, auch wenn Kirche in meinem Alltag keine große Rolle mehr spielt. Der Schnitt kam mit dem Gang in den Westen, weil ich hier keine Kontakte in die Kirche hatte und sie auch nicht suchte. In der DDR gab Kirche mir den Raum, mich frei zu entwickeln – dafür brauche ich hier keinen Schutzraum mehr. Trotzdem ist Kirche etwas wie Heimat für mich, mit all den Facetten, die Heimat so hat.

Weitere Informationen

Dr. Michael Kubina:

Michael Kubina, geboren 1958 in Brandenburg an der Havel, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und arbeitet in einem interdisziplinären Projekt zur Geschichte der Berliner Mauer. Er absolvierte zunächst eine Lehre als Heizungsinstallateur. 1980 machte er Abitur am Kirchlichen Oberseminar Potsdam-Hermannswerder und studierte anschließend am Sprachenkonvikt in Ost- Berlin Theologie. Nach seiner Ausreise aus der DDR 1984 studierte er bis 1991 Osteuropäische Geschichte, Slawistik und Politik an der Freien Universität, an der er 2000 auch promovierte. 1992 bis 2002 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität, arbeitete u.a. für den Stolpe-Untersuchungsausschuss des Brandenburger Landtages und die Bundestagsenquetekommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Bis 2005 war er Projektleiter am Bundesarchiv. Er ist Redakteur der ZdF, Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat.