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Poetik der Besessenheit

Zur Fußballfähigkeit der Literatur

04.06.2010

Passen Fußball und Literatur zusammen? Ist Fußball literatur-tauglich - und ist die Literatur fußball-fähig?

Passen Fußball und Literatur zusammen? Ist Fußball literatur-tauglich - und ist die Literatur fußball-fähig?
Bildquelle: photocase/Roodini www.photocase.de/foto/78076-stock-photo-schule-buch-fussball-lernen-studium-papier

Fußball ist das bedeutendste Phänomen unserer Alltagskultur. Nicht nur gemessen an der Zahl seiner Anhänger sucht er seinesgleichen, sondern auch in der Intensität ästhetischer Freuden und leidenschaftlicher Erfahrungen, die sich mit ihm verbinden. Wenn die Aufgabe der Literatur darin besteht, die Wirklichkeit künstlerisch zu Modellen zu formen, liegt es nahe, dass sie in ihm einen Gegenstand findet, der sie herausfordert. Und dennoch scheint ihre Beziehung zu ihm eine prekäre zu sein. In Deutschland zumindest ist sie immer wieder als Problem dargestellt worden: Dem Fußball wird die Literaturfähigkeit abgesprochen − und der Literatur die Fußballfähigkeit. Welche Vorstellungen über die Haltung der Schriftsteller zu diesem Sport befinden sich in Umlauf? Wie verhält sich die deutschsprachige Literatur zum Fußball − und wie im Vergleich die lateinamerikanische? 

Das Verhältnis der Literatur zum Fußball wird in Deutschland dreifach problematisiert: als grundsätzliche Unvereinbarkeit, als nationale Eigenheit und als Nachwirkung des „Dritten Reiches“.Hypothese Unvereinbarkeit: Sperrt sich der Fußball gegen Poetisierung? Haben Künstler und Literaten mit ihm generell ein Problem? Der Anthropologe Helmuth Plessner beklagte schon in den 50er Jahren eine „Sportfremdheit unter den Intellektuellen alten Schlages“. Der Literaturwissenschaftler Karl Riha bemerkte, dass „zwischen Traditionalisten und Modernisten bei einem solchen Vorbehalt […] gar kein so großer Unterschied“ bestehe. Und er fragte im Hinblick auf Poesie: „Warum sperrt sich unsere literarische Vorstellung dagegen, dass ein solches Thema speziell von Lyrikern aufgegriffen wird?“ Vierzig Jahre nach Plessner konnte der Journalist und Buchautor Dirk Schümer immer noch feststellen: „Die Literatur und die Kunst überhaupt haben sich schwer getan, vom Fußball zu erzählen.“ Allzu „hochmütig“ hätten sie ihn „ignoriert“, „nicht ernst genommen“, „nicht verstanden“ und allenfalls „gönnerhaft“ abgehandelt. Sein Kollege Jürg Altwegg sieht nicht nur mangelnde Bereitschaft, sondern fundamentales Unvermögen: „Am Unterfangen, dem Fußball mit den Mitteln der Literatur gerecht zu werden, können die Dichter offenbar nur scheitern.“ Sie übten deshalb „Verzicht, den Fußball als Epos, Schauspiel, Poesie zu gestalten“.

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann unterstellt kategorisch die „Literaturunfähigkeit des runden Leders“. Allenthalben scheint ein Konsens zu herrschen: Fußball ist Unkultur, eine Gegenwelt der Kunst, die Antithese des Literarischen. Für diese Unvereinbarkeit werden weitreichende Gründe angeführt:

Die Literaturunfähigkeit des runden Leders

Der Literaturwissenschaftler Mario Leis sieht eine unvergleichliche Andersheit des Spiels, dessen „Komplexitäten nicht vollends in die Literatur übertragen“ werden können. Dirk Schümer formuliert einen schönen performativen Selbstwiderspruch: „Über Fußball kann man nicht schreiben. Fußball ist selbst Literatur.“ Er sei nun einmal „eine Gattung an sich“, meint Altwegg. Die „Ästhetisierung des Ästhetischen“ müsse „mißlingen“, findet Liessmann – und fügt ein prinzipielles Argument hinzu: Der aggressive Einsatz des Fußes („Treten“) sei primitiv und „kulturlos“, „jenseits der Kraft von Literatur“. Diese Überlegung steht im Widerspruch zur These des Soziologen Norbert Elias, demzufolge „das Fußballspiel“ als geregelte kollektive Handlung „ein Symptom einer relativ hohen Zivilisationsstufe“ sei. Die Erklärung der Unvereinbarkeit ist entweder eine zu große Analogie: Fußball sei eigentlich seinerseits ein Kunstwerk, das nicht in ein anderes übersetzt werden könne; oder eine unüberwindliche Differenz: Fußball sei dermaßen anti-kulturell, dass er in literarischen Formen einfach nicht stattfinden könne.

Hypothese Sonderweg: Hatten deutsche Intellektuelle ein besonders schwieriges Verhältnis zum Fußball? Unter dem programmatischen Titel „Wie die Dichter leiden“ schreibt Helmut Böttiger 1993 in seinem Buch Kein Mann, kein Schuß, kein Tor: „Der Widerspruch zwischen Fußball und Kultur hat in Deutschland eine lange Geschichte.“ Böttiger spricht von einem spezifisch deutschen „Abstand“, einem „Riß“, einer „Kluft“ zwischen dem Spiel und der Kunst. Annäherungen hätten entweder nur zeitweise stattgefunden: „Die wenigen Versuche, […] die Verbindung […] herzustellen, blieben auf die späten sechziger und frühen siebziger Jahre begrenzt“. Oder sie seien an der Peripherie unternommen worden: von Juden wie Franz Kafka und Friedrich Torberg und in der Wiener Bohème vor dem Nationalsozialismus.

In Schlußball geht Böttiger 2006 einen Schritt weiter. Hier ist bereits im Klappentext von einem „deutschen Sonderweg“ die Rede. „Der bürgerliche Intellektuelle und das Volk stehen sich fremd gegenüber. Es hat etwas mit dem bekannten deutschen Sonderweg zu tun.“ Der „spezifisch deutsche Abgrund“ scheint immer deutlicher wahrgenommen zu werden. „Fußball und Literatur: das waren in Deutschland immer größtmögliche Gegensätze.“

Bürgerliche Intellektuelle und das Volk stehen sich fremd gegenüber

So „von oben herab“, wie Wolfgang Koeppen zum Beispiel, „konnte man lange Zeit nur in Deutschland über den Fußball schreiben.“ „Es war in der deutschsprachigen Kultur generell ein Problem, daß das Bürgertum vom Alltagsgeschehen abgekoppelt war.“ Erst seit der Wiedervereinigung macht Böttiger Anzeichen einer Entkrampfung aus. Vergleichsweise spät finde die deutsche Literatur endlich „Anschluß an die internationale Entwicklung“. Auch diese These ist topisch. „Es sind vor allem die bedeutenden deutschsprachigen Schriftsteller, die dem  runden Leder aus dem Weg gehen“, heißt es zum Beispiel bei Mario Leis. Unter der Überschrift „Das unfähige Leder“ konnte der Publizist Rainer Moritz, der selbst als Schiedsrichter auf dem Spielfeld gestanden hatte, allerhöchstens „dürftige“ Beispiele aus der deutschen Dichtungsgeschichte behandeln. Dirk Schümer pointiert: „In Deutschland wurde Fußball nur im kulturellen Abseits gespielt.“ Die Unfähigkeit, sich mit ihm auseinanderzusetzen, wird zum Symptom einer allgemeineren Unfähigkeit: Schümer kombiniert, „daß die deutschen Schriftsteller über ihre Gesellschaft nichts Wesentliches mehr aussagen konnten, weil sie vom Fußball keine Ahnung hatten“.

Hypothese Verdrängung. Aus der Hypothese vom Sonderweg lassen sich noch weitere Konsequenzen ziehen: War der Massensport nach seiner Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten suspekt? Wurde er aufgrund der historischen Erfahrung und dem Unvermögen, mit ihr umzugehen, von literarischer Darstellung ausgespart?

Die doppelte These von Luftkrieg und Literatur

Im Hinblick auf ein anderes Thema, das heranzuziehen zunächst frivol erscheinen mag, hat der Schriftsteller W. G. Sebald in seinen Vorlesungen über Luftkrieg und Literatur eine vieldiskutierte doppelte These aufgestellt: Die Zerstörung ihrer Städte durch die alliierten Bombardements hätten deutsche Schriftsteller nach dem Krieg verdrängt; und wo sie den Versuch unternahmen, sich mit ihr zu befassen, hätten sie dies zumeist auf unangemessene Weise getan. Haben deutsche Autoren aber nicht nur über die Erfahrung der Luftangriffe – ebenso wie über Vernichtungskrieg und Schoa – den Mantel des Schweigens gelegt, sondern auch über das wichtigste Phänomen ihrer Alltagskultur? Und zwar aus dem gleichen Grund, nämlich aus Unfähigkeit, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen? Wurde auch der Fußball als verdächtiger Massensport aus dem literarischen Gedächtnis getilgt? Bestand ein Erzähl-Tabu, dessen Alternative das künstlerische Versagen war?

So einleuchtend die genannten Annahmen auch erscheinen mögen – die Thesen der Unvereinbarkeit, des Sonderwegs und der Verdrängung – es gibt gute Gründe, sie in Frage zu stellen und das Verhältnis von Fußball und Literatur zu entspektakularisieren. Und zwar auf zweierlei Weise: Sowohl die Besonderheit des in Frage stehenden Problems als auch das Problem selbst sind zu relativieren.

Die Umstände, die ein fruchtbares Verhältnis der Literatur zum Fußball angeblich behindern, sind keineswegs ausschließlich oder in besonderem Maße Probleme des Fußballs, des Fußballs in Deutschland oder des Fußballs in Deutschland nach 1945. So wurde nicht nur am Fußball „Anstoß“ genommen, und zwar schon seit langem. Der frühchristliche Spieleverächter Tertullian erklärte im zweiten Jahrhundert Sportveranstaltungen aller Art für verwerflich, nicht allein aus theologischem Fundamentalismus, sondern auch aus Motiven, die denen moderner Sportkritiker nahekommen: aus Vorbehalt gegen das Publikum als primitive Masse, aus Argwohn gegen seine sinnlose Verausgabung und aus moralischer Abwehr ungezügelter Begeisterung (furor circi, vanitas xysti).

Die Beschwerde über ein literarisches Defizit war nicht nur in Deutschland zu vernehmen. So zitiert Nick Hornby einen englischen Fan aus der Saison 1976/77: „Das Spiel hat nicht die Literatur, die es verdient.“ Dem Erzähler in Fever Pitch, dem international wohl erfolgreichsten Fußball-Roman, will eine Freundin in der Spielzeit 1972/73 auf keinen Fall abnehmen, dass er einen feministischen Roman gelesen hatte und sich dennoch für Mannschaftssport begeisterte: „Wie konnte ich das Buch gelesen haben und nach Highbury“ „gegangen sein?“ (Highbury ist das Stadion der Londoner Fußballmannschaft Arsenal). Der Widerspruch zwischen Intellektualität und Fußball war sogar in dessen ‚Mutterland’ zu haben.

Und auch anderswo gab es gute Gründe, ihm zu misstrauen. Der spanische Schriftsteller Javier Marías erklärt (1994): „Vor nur zwanzig Jahren gab es keinen Intellektuellen, der es gewagt hätte, sich öffentlich zum Fußball zu bekennen. Der Fußball hatte einen schweren Stand, er galt als rechts wenn nicht gar franquistisch, als eine Art weltliches Opium für das Volk“. In einer berühmten Reportage über den „Fußballkrieg“ zwischen Honduras und El Salvador hatte der polnische Reiseschriftsteller Ryszard Kapuścinski 1969 festgestellt: „In ganz Lateinamerika erfüllen die Stadien eine doppelte Rolle: In Friedenszeiten werden dort Spiele ausgetragen, in Krisenzeiten verwandeln sie sich in Konzentrationslager.“ Kapuścinski weist darauf hin, dass Niederlagen Regierungen zu Fall bringen und Siege Diktaturen festigen können – etwa die Kunststücke der brasilianischen Nationalmannschaft, der Selecão.

Fußballliteratur in der Renaissance

Auf der anderen Seite gab es längst eine Fußball-Literatur, bereits im europäischen Mittelalter. Als Symbol der Welt und Objekt der Satire hat der Kunsthistoriker Horst Bredekamp das Calcio-Motiv in italienischen Sonetten der Renaissance untersucht. Ein Gegenstand ist von seiner Darstellung in der Literatur weder ausgeschlossen, falls er selbst als Kunstform zu verstehen wäre, noch wenn er ganz unkünstlerisch der Alltagskultur zugehört.

Sogar die deutsche Literaturgeschichte ist durchaus voll von Texten, die vom Fußball handeln: von Karl Valentin und Friedrich Torberg über Ödön von Horváth, Heinrich Böll und Günter Grass, Franz Mon, Ror Wolf und Eckhard Henscheid bis zu Thomas Brussig und Elfriede Jelinek. Autoren, die sich – wie Joachim Ringelnatz – satirisch mit ihm auseinandersetzten, trugen gleichwohl zu seiner Literarisierung bei. Die Tatsache, dass Literatur kritisch mit einem Phänomen umgeht, disqualifiziert nicht ihren Zugang zu ihm.

Letztlich hat gerade die Instrumentalisierung des Fußballs durch Politik, Ideologie und Diktatur viele Intellektuelle in Lateinamerika – ebenso wie in Deutschland, vor und nach 1945 – dazu herausgefordert, „diese Äußerungsform nicht in den Händen der Macht zu belassen“, wie der Literaturwissenschaftler Julio Peñate Rivero bemerkte. Hier wie dort ist der Generalverdacht im Schwinden begriffen.

So gesteht Jürg Altwegg durchaus zu, dass es seit dem Ende der sechziger Jahre einen „kulturellen Umbruch“ gegeben habe: „Der Fußball hat Einzug in das deutsche Denken gehalten.“ Einschränkend bezieht er diese Entwicklung allerdings auf den „Kulturjournalismus“ der „Fußballfeuilletons“. Fußball und hohe Literatur seien nach wie vor Gegensätze. In der Tat jedoch haben sich keineswegs ‚nur’ Journalisten und Akademiker, sondern auch zahllose Schriftsteller sehr wohl mit dem Fußball auseinandergesetzt, vor allem europäische und lateinamerikanische: im Spanischen neben Javier Marías zum Beispiel Manuel Vázquez Montalbán, Miguel Delibes oder Julio Llamazares.

Dass das Interesse am Fußball unter Intellektuellen und Schriftstellern ansteigen mag, dass alltagskulturelle Gegenstände verstärkt in die neuere Literatur eingehen, ist eigentlich nichts Sensationelles. Es liegt in der Logik einer Erweiterung des Kultur-Begriffs und des cultural turn der Geisteswissenschaften. Der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit führt die zunehmende Begeisterung seit dem Zusammenbruch des Ostblocks auf den „Wegfall der Utopien“ zurück, die der Sport zu ersetzen hat. Dessen ansteigende kulturelle und auch literarische Bedeutung ist nicht zuletzt auf seine fortschreitende Mediatisierung zurückzuführen, die ihm Zielgruppen öffnet, welche sich für regelmäßige Stadionbesuche nicht gewinnen ließen.

Die Versuchung, die eigene Begeisterung – noch dazu als Intellektueller – originell und dissident zu finden und den Fußball, indem man ihn zum Grenzphänomen des Ästhetischen verrätselt und für anti-literarisch erklärt, zu exotisieren und interessant zu machen, sollten wir überprüfen und lieber von der Literatur selbst ausgehen. Wie verhalten sich literarische Texte zum Fußball konkret?

Die Annahme, Schriftsteller − deutsche besonders, und nach 1945 erst recht − könnten mit dem Fußball nichts anfangen, wird gerne mit einem Hinweis auf den wohl berühmtesten deutschsprachigen Text illustriert, der als anspruchsvolle und auch politische Fußball-Literatur in Frage kommt.

Die Angst der Fußballforschung vor Peter Handke

Peter Handkes Erzählung Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970), deren Titel zu einer stehenden Wendung wurde, ist ein Schlüsseltext für das Verständnis der Beziehung von Fußball und Literatur. Um die Literaturunfähigkeit des Fußballs behaupten zu können, muss diesem Text die Fußballunfähigkeit nachgewiesen werden. Handkes Ansatz sei „schon vom Grundgefühl der Hauptfigur her falsch“, moniert beispielsweise Jürg Altwegg. Dirk Schümer rügt eine „ungemeine Schludrigkeit und Ahnungslosigkeit des Autors […]. Denn natürlich ist es nicht der Torwart, sondern der Schütze, der beim Elfmeter Angst verspürt.“ Konrad Paul Liessmann verallgemeinert: „Solches Mißverständnis markiert das Verhältnis von Literatur und Fußball überhaupt.“ Rainer Moritz sieht Handke als typischen Fall fußballferner Schriftstellerei, das „bekannteste Mißverständnis dieser Art“. Für Helmut Böttiger „dreht sich die Handlung um alles andere als Fußball.“ Die literaturwissenschaftliche Forschung bezieht sich auf Probleme der Sprache und der Psychologie sowie die Erschließung von Intertexten.

Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. Januar 1968

Dass der Torwart vor einem Elfmeter keine Angst haben müsste, weiß Peter Handke jedoch mindestens so gut wie seine Kritiker. Von einer einschlägigen Beschäftigung des Schriftstellers zeugen 1965 und 1969 bereits sein Prosastück „Die Welt im Fußball“ und sein Gedicht „Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968“. In Die Angst des Tormanns beim Elfmeter spielt ein „Elfmeter“, den ein Tormann zu halten hätte, in der Handlung tatsächlich keine Rolle. Und auf ihn könnte sich die Furcht (vor dem Elfmeter) unter normalen Bedingungen auch kaum beziehen. Die Angst hingegen, die der Titel ankündigt („beim Elfmeter“), hat einen anderen Auslöser. Sie besitzt eine größere Tragweite, die durch den Fußball zu begreifen ist: Die Elfmetersituation wird als Lebenssituation ausgedeutet.

Die Angst des Tormanns beim Elfmeter hat mit Fußball zugleich weniger und mehr zu tun, als man auf den ersten Blick annehmen könnte. Der Fußball ist das unterschätzte Leitmotiv der Erzählung. Bereits das Eingangszitat setzt es an prominenter Stelle und dabei weniger eindeutig ein, als es zunächst scheinen mag: „Der Tormann sah zu, wie der Ball über die Linie rollte…‘“ Ungeklärt bleibt hier, genau genommen, ob es sich um ein Tor handelt oder der Ball über eine andere Linie rollt, etwa ins Seitenaus; des weiteren ob es sich um ein Tor handeln würde, das gegen den Titelhelden erzielt wird oder vielleicht auf der anderen Seite durch die eigene Mannschaft; und schließlich sogar, ob der Tormann überhaupt am Spiel teilnimmt oder lediglich Zuschauer ist – wie es in der letzten Szene der Fall sein wird, in der allein ein Elfmeter zur Darstellung kommt. Bei Handkes Fußball-Motiven lohnt es sich jedenfalls, sehr genau hinzuschauen.

Schon im ersten Satz wird der Fußball angesprochen: „Dem Monteur Josef Bloch, der früher ein bekannter Tormann gewesen war, wurde, als er sich am Vormittag zur Arbeit meldete, mitgeteilt, dass er entlassen sei.“ Der zweite Satz macht deutlich, worin Blochs Problem besteht: „Jedenfalls legte Bloch die Tatsache, daß bei seinem Erscheinen in der Tür der Bauhütte, wo sich die Arbeiter gerade aufhielten, nur der Polier von der Jause aufschaute, als eine solche Mitteilung aus und verließ das Baugelände.“

Handkes Tormann ist ein Paranoiker

Handkes Tormann ist Paranoiker. Die Erzählung ist das Protokoll einer Form von Wahnsinn: des Verfolgungswahns. Dieser hat Auswirkungen auf die Wahrnehmung, das Verhalten und die Sprache. Der Protagonist misst allen möglichen Details Bedeutungen bei, die er zwanghaft auf sich bezieht und auf die reagieren zu müssen er sich gezwungen glaubt. Ohne äußeren Grund tötet er eine Frau, der er kurz zuvor erst begegnet ist; er hinterlässt Spuren am Tatort, die ihn verraten und dazu führen werden, dass er auf der Flucht an der Grenze festgenommen wird.

In Wim Wenders’ Verfilmung von 1971 ist der Protagonist kein ehemaliger, sondern ein aktiver Torwart, der am Beginn nach einem vermeintlichen Abseitstreffer vom Platz gestellt wird. Warum aber ist es wichtig, dass Handkes Figur „früher ein bekannter Tormann gewesen war“? Weshalb bedarf eine psychologische Studie, die auf der Handlung eines Kriminalfalls beruht, dieser Beziehung zum Fußball? Josef Bloch, der Gejagte, macht am Ende den Vorschlag, das Experiment einer Blickfixierung zu unternehmen und das Spiel im Hinblick auf den Torhüter zu verfolgen: „nicht die Stürmer zu beobachten, sondern den Tormann, auf dessen Tor die Stürmer mit dem Ball zuliefen.“ Die Rolle des Torhüters, die den Zuschauern gewöhnlich entgeht, besteht darin, den kompletten Spielverlauf auf sich gerichtet verstehen zu müssen, nämlich alle gegnerischen Spielzüge als Angriffe zu lesen, denen er ausgesetzt ist, und ihren eigentlichen Zweck in der feindlichen Absicht zu sehen, ihn zu überwinden und den Ball in sein Tor zu schießen.

Wenn man das Motiv fußballerisch ernst nimmt, hat Handkes Tormann immer Angst –nicht nur vor einem Elfmeter auf das eigene Tor, sondern im Extremfall sogar bei einem Elfmeter auf der gegenüberliegenden Seite. Dieses Motiv bildet den Ausgangspunkt für die Darstellung einer Paranoia, einer verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit.

„Der Tormann“, der Bloch ist, ist ein Tor, ein Verrückter

Handke bezeichnet seine Figur nicht von ungefähr weder mit den generischen Begriffen „Torwart“ noch „Torhüter“, sondern mit dem existenzielleren Wort „Tormann“. Seine Figur, der Mann Bloch, ist ein Tor, ein Verrückter. Die Erzählung schließt mit einem Strafstoß, dessen Zuschauer der Titelheld ist, so dass er hier Gelegenheit hat, die allegorische Spielsituation zu kommentieren: „‚Der Tormann überlegt, in welche Ecke der andere schießen wird‘, sagte Bloch. ‚Wenn er den Schützen kennt, weiß er, welche Ecke er sich in der Regel aussucht. Möglicherweise rechnet aber auch der Elfmeterschütze damit, daß der Tormann sich das überlegt. Also überlegt sich der Tormann weiter, daß der Ball heute einmal in die andere Ecke kommt. Wie aber, wenn der Schütze noch immer mit dem Tormann mitdenkt und nun doch in die übliche Ecke schießen will? Und so weiter, und so weiter.‘“ Ein solcher regressus ad infinitum ist alptraumhaft, obsessiv und tendenziell (selbst)zerstörerisch.

Die Elfmetersituation löst einen Interpretationszwang aus. Den Schützen begünstige, meint Bloch, ein Reflex seines Gegenüber: „‚Wenn der Schütze anläuft, deutet unwillkürlich der Tormann, kurz bevor der Ball abgeschossen wird, schon mit dem Körper die Richtung an, in die er sich werfen wird, und der Schütze kann ruhig in die andere Richtung schießen‘“. Der Torwart verrät sich, indem er seinem Gegner ein Zeichen anbietet, das dieser lesen kann. Das Krankhafte besteht darin, dass Handkes Figur sowohl die Deutbarkeit als auch die Deutungsleistung der Beteiligten überschätzt. Die Konstellation löst eine Besessenheit aus, die sein ganzes Leben und die gesamte Erzählung bestimmt. In diesem Sinne ist auch der letzte Satz zu verstehen: „Der Schütze lief plötzlich an.

Der Tormann ist exponiert, zentral und egozentrisch zugleich

Der Tormann, der einen grellgelben Pullover anhatte, blieb völlig unbeweglich stehen, und der Elfmeterschütze schoß ihm den Ball in die Hände.“ Nur wer keine Zeichen produziert, die gedeutet werden können, und wer den eigenen Deutungszwang stillzustellen vermag, kommt ungeschlagen davon. In Wenders’ Verfilmung wird der Elfmeter aktiv, durch eine seitliche Parade gehalten. Der Tormann ist eine exponierte Figur, zentral und exzentrisch zugleich. Er gibt sich am ehesten der Lächerlichkeit preis. Sogar weibliche Bekanntschaften gestehen ihm: „dann stellten sie sich hinter das Tor der auswärtigen Mannschaft und verspotteten den Tormann, damit er nervös würde. Die meisten Tormänner hätten O-Beine.“ Er bietet sich an als Sündenbock in einem Ritual.  Der Tormann ist ein Grenzgänger, sein symbolischer Ort – beim Elfmeter – die Torlinie: die Grenze zwischen Spielfeld und Außenbereich. Fällt ein Tor, muss er, um den Ball aus dem Netz zu bergen, das Spielfeld verlassen, als würde er ausgeschlossen. Dabei begibt er sich, wie es das Ziel von Handkes flüchtigem Mörder ist, heraus aus einem Strafraum – und kann doch nicht entkommen.

Das Fußballspiel wird zur Existenzialmetapher. Und zu einem Kriminalfall. Als Bloch in der Zeitung liest, dass die Polizei „eine heiße Spur verfolgte“, da „Kritzeleien“ ihn verraten haben, und zwar ausgerechnet die Notiz eines Spielernamens, fällt ihm eine Spielsituation ein – deren Erinnerung mit dem Versuch einer Ausrede, einer Abwehr einsetzt: „‚Er war eben zu lange unbeschäftigt gewesen.‘“ Offenbar handelte es sich um ein traumatisches Tor: „‚Vom Schuß überrascht, hatte er den Ball durch die Beine rollen lassen‘“ − durch seine bereits eingeführten „O-Beine“. Und auch im übrigen entspricht diese Situation jener, welche die „Friseurmädchen“ als demütigend beschrieben hatten, da sie sich „hinter das Tor“ stellten und den Torwart „verspotteten“, „damit er nervös würde“. Denn bei dem Tor, das plötzlich in Blochs Erinnerung auftaucht, gab es ebenfalls besondere Beobachter in seinem Rücken, daher „hatte er an die Fotografen gedacht, die ihn hinter dem Tor irritierten.“

Der „Tunnel“ als größtmögliche Erniedrigung

Bei diesem unerwarteten Tor, das mit dem Mord in Verbindung gerät, kann es sich auf keinen Fall um einen Elfmeter handeln, sondern allein um einen Treffer aus dem Spiel heraus, welcher der Titelfigur als sogenannter Tunnel durch die Beine widerfährt, das heißt: als größtmögliche Erniedrigung. Ausgerechnet diese Erinnerung geht ihm durch den Kopf, als er an seine Tat denken muss, den spontanen Mord an einer Frau, mit der er geschlafen hatte. Tötete er sie als Kompensation für dieses sexuell konnotierte Frustrationserlebnis? Blochs Gedanken sind jedenfalls durch einfache Anführungszeichen als die mindestens von ihm vorgestellten Worte anderer ausgewiesen. Dies galt bereits für das vorangestellte Zitat, mit dem sie auf diese Weise formal in Verbindung treten, so dass die Erzählung von vornherein auf das traumatische Tor, das mit der Mordtat gedanklich zusammenfällt, ausgerichtet worden ist. „‚Der Tormann sah zu, wie der Ball über die Linie rollte…‘“ Gleichwohl muss es sich bei der Spielszene, die hier epigraphisch skizziert worden ist, um ein anderes Tor handeln, zwar ebenfalls um ein Feldtor, bei dem der Torwart den Ball über die Linie rollen sieht, was beim Elfmeter kaum vorkommen kann, aber nicht um eines, bei dem er „getunnelt“ wird, denn in diesem Fall dürfte er nicht mehr die Zeit gehabt haben, sich umzudrehen und mitanzusehen, wie hinter ihm das Tor fällt. Es sei denn der Torwart nimmt – in schizophrener Weise – die Position eines Zuschauers ein, der sein Missgeschick von außen betrachtet. Die Beschreibungen stehen in der dritten Person, wie ein Sportbericht. Bloch sieht sich mit den Augen der Anderen, er fühlt sich kommentiert, verfolgt und verurteilt. So gesehen ist es kein Zufall, dass Medien eine verhängnisvolle Rolle spielen: die Pressefotographen hinter dem Tor, die Zeitung am Tatort, der Bericht in der dritten Person in einfachen Anführungszeichen.

Die paranoide Denkstruktur verändert Blochs Wahrnehmung

Die paranoide Denkstruktur hat Folgen für Blochs Wahrnehmung der Welt, sein Verhältnis zu Menschen, das Verständnis der Sprache. Diese Problematik reflektiert er auf seine Weise: anhand des Fußballs. Wie kann man von einem Spiel berichten, wenn man – torwarthaft – alles deuten will? Bloch unternimmt einen Versuch: „wenn er von einem indirekten Freistoß erzählte, beschrieb er nicht nur, was ein indirekter Freistoß sei, sondern erklärte überhaupt, während die Friseurmädchen auf die Fortsetzung der Erzählung warteten, ihnen die Freistoßregeln; und sogar, wenn er  eine Ecke erwähnte, die ein Schiedsrichter gegeben habe, glaubte er, ihnen die Erklärung, dass es sich dabei nicht um die Ecke eines Raums handle, geradezu schuldig zu sein. Je länger er sprach, desto weniger natürlich kam Bloch vor, was er redete. Allmählich schien ihm gar jedes Wort einer Erklärung zu bedürfen.“ Mit diesen Sätzen, die eine Hofmannsthalsche Sprachkrise oder eine dekonstruktivistische Irritation beschreiben, thematisiert Handke, dem seine Kritiker Ahnungslosigkeit unterstellen, zugleich das Verhältnis der Literatur zum Fußball – beziehungsweise ihre Schwierigkeiten mit seiner Inszenierung.

Zwanzig Szenen und ein Leitmotiv

Handkes 105 Seiten umfassende Erzählung ist mit zahlreichen Fußball-Motiven durchsetzt, die mit den zentralen Themen und mit allen wichtigen Momenten der Handlung verknüpft sind. In zwanzig Passagen, die – wenn man sich nicht für Fußball interessiert – überlesen werden könnten, die den Text jedoch als zusammenhängende Sequenz durchziehen, spielt der Fußball eine auf den ersten Blick zufällige, auf den zweiten jedoch wesentliche Rolle.

(1) Im Hotel kann der Titelheld einem Gespräch in englischer Sprache folgen, weil er als Spieler in den USA gewesen war. Seine Fähigkeiten, insbesondere sein Sprachverständnis ist durch den Beruf geprägt.

(2) Bloch besucht ein Stadion und denkt zurück an seine aktive Zeit. Nach dem Ende seiner Karriere werden Defizite deutlich. Er wird nicht mehr „erkannt“. Er erinnert sich, dass er ein „schlechter Flutlichttormann“ war. Er benimmt sich ungewöhnlich: „Er nahm einen Stehplatz, setzte sich dann aber […]; daß ihm die Zuschauer vorne die Sicht verstellten, störte ihn nicht.“ „Er […] ging vor dem Schlußpfiff “. Die Auffälligkeit des Verhaltens tritt beim Fußball zutage.

(3) Nach dem Spiel geht er in eine Sportlerkneipe. Der Wirt ist nach Abschluss seiner Laufbahn „verschollen“, was Blochs eigenes Verschwinden nach dem Mord vorwegnimmt. An den Wänden hängen „Fotos und Unterschriften der Fußballspieler“, für die Bloch sich interessiert. Durch sie werden Bild und Text als scheinbar transparente Zeichensysteme ins Spiel gebracht, die ihn im Verlauf der Erzählung so verwirren sollen, obwohl das Autogramm auf der Porträt-Postkarte eines Spielers Authentizität und Eindeutigkeit verbürgen müsste.

(4) Der frühere Tormann liest die Sportseite in einer Zeitung – genau genommen „den Sportteil und die Gerichtsberichte“, was die Verbindung des Fußballthemas mit der sich entwickelnden Kriminalhandlung andeutet.

(5) Bloch begegnet einem Bekannten, der ihn als Schiedsrichterassistenten zu einem Spiel mitnimmt. Die Requisiten, die er tausendmal gesehen hatte, hält er zunächst für „Scherzartikel“. Er ist nicht mehr imstande, zwischen ernster und spaßhafter, buchstäblicher und ironischer Bedeutung zu unterscheiden. Seine Verunsicherung über den Zeichencharakter der Dinge macht sich bemerkbar.

(6) Er sieht Sport im Fernsehen – und tut so, „als ob ihn das alles nichts anginge“. Das heißt: Ausgerechnet hierbei übt er, sich indifferent zu verhalten und nicht auf alle Eindrücke zwanghaft zu reagieren.

(7) Er spricht mit der Kino-Kassiererin über einen „Fußballer namens Stumm“. Kurz darauf wird er sie erwürgen und für immer zum Verstummen bringen. Der Name des Spielers barg die Gefahr einer Verwirrung, nämlich mit der buchstäblichen Bedeutung des Wortes (als Verb oder als Adjektiv). Dass Bloch ihn ins Gespräch bringt und sogar, wie um sich seiner zu vergewissern, ganz unnötigerweise aufschreibt, wird ihm zum Verhängnis werden.

(8) Auf der Flucht versucht Bloch zunächst, sein Radio loszuwerden, und versetzt dann seine Trophäen. Er vollzieht den Ausverkauf seiner Vergangenheit und damit indirekt seiner Identität, indem er fußballerische Objekte in Tauschmittel verwandelt.

(9) Im Bus spielt er mit schmutzigen Münzen, die bei der Platzwahl verwendet worden sind. Auch hier treten verschiedene Bedeutungen eines Gegenstandes auseinander: ökonomische, symbolische, pragmatische, assoziative. Wie bei der Seitenwahl, der ersten Entscheidungssituation im Spiel, wird alles willkürlich oder zufällig: „Kopf oder Zahl!“, sagt Bloch zu einer Reisebekanntschaft.

(10) Seine Gewohnheit, Postkarten zu schreiben, stammt aus der Zeit seiner internationalen Partien, als man  „Ansichtskarten mit den Unterschriften aller Spieler an die Zeitungen hatte schicken müssen“. Nicht nur als Zeichendeuter, sondern auch als Schriftproduzent ist Bloch bestimmt durch seine Erfahrung im Fußball.

(11) Seine Kopfschmerzen bringt er mit dem Auftreffen eines „regenschwere[n]“ Balls in Verbindung. Das Motiv des Leidens im Kopf, im übertragenen Sinn: seiner Geisteskrankheit, hängt mit dem Fußball zusammen, was umso auffälliger ist, als der Torwart kaum am Kopfballtraining teilgenommen haben dürfte.

(12) Der flüchtige Mörder unterhält sich mit zwei Friseusen in einer Kneipe – über Fußball. Auf die Frage, „was er sei“, antwortet er, „er sei ein Fußballtormann gewesen“. Er identifiziert sich also über seine Vergangenheit im Sport, wobei deutlich wird, dass er für einen aktiven Profi inzwischen zu alt ist. Die Mädchen beschreiben die Rolle, die der Torwart spielt, und den Spott, dem er sich aussetzt. Wie Odysseus seine legendäre Narbe identifizieren Bloch seine Verletzungen: Er war „gegen den Torpfosten geprallt“ und hatte sich „dabei die Zunge gespalten“, was bedeutet, dass er seine geistige Gesundheit gefährdete und zugleich seine Sprache an Eindeutigkeit einbüßte. Anhand der Schwierigkeit, von einem Fußballspiel sinnvoll erzählen zu können, reflektiert er bei dieser Gelegenheit sein Sprachproblem.

(13) Als er in der Zeitung von dem Mord gelesen hat, erinnert sich der Täter an ein Tor, das er einmal kassiert hatte (ein Feldtor, keinen Elfmeter). Die entscheidende Tat und eine traumatisch erlebte und plötzlich erinnerte Erfahrung werden miteinander kurzgeschlossen.

(14) Ein Freund, den er anruft, befindet sich „in einem Trainingslager“. Vom aktiven Fußball, das heißt von dem Feld, auf dem seine Pathologie noch in einem sinnvollen Zusammenhang stand, ist er selbst ausgeschlossen, während es sich bei seinem Freund entweder um einen nach wie vor aktiven, jüngeren Sportler handeln muss oder um einen ehemaligen Kollegen, dem es gelungen ist, als Trainer im Geschäft zu bleiben und den Fußball produktiv in sein weiteres Leben zu integrieren.

(15) Im Gespräch mit einem Briefträger, einem Nachrichtenüberbringer, denkt Bloch, wie zuwider ihm „Wortspielereien“ wie die „von Sportreportern“ sind. Erneut wird sein Problem am Fußball verdeutlicht, hier: an der Sprache des Fußballs.

(16) Die Sprache des Fußballs erhält aber auch eine therapeutische Funktion: „Er beschrieb sich die Vorgänge, als könnte er sie sich dadurch erst vorstellen, wie ein Rundfunkreporter dem Publikum. Nach einiger Zeit half es.“

(17) Am Fluchtort kommt der arbeitslose Fußballer an einem Sportplatz vorbei. Wie hartnäckig seine Faszination für das Spiel ist, wird hier deutlich. (Und über das Bild des feuchten Balls wird das Motiv seiner Kopfschmerzen aufgenommen.)

(18) Im Gespräch mit einer Kneipenpächterin vergleicht Bloch deren Bluse mit einem Trikot („gestreift wie ein Fußballdreß“). Auch sein Verhältnis zu Frauen ist vom Fußball gesteuert. Die Fußball-Wahrnehmung erweist sich zunehmend als die eines Besessenen.

(19) Schließlich stellt sich heraus, dass ein Indiz, das ihn verrät, die Notiz des Namens „Stumm“ ist. Der Fußball ist auch insofern mit dem Mord verbunden, als er den Täter zu erkennen gibt, da dieser unwillkürlich den Namen eines Spielers am Tatort hinterlassen hat.

(20) Die Erzählung endet mit einem weiteren Besuch eines Fußballspiels, in dessen Verlauf die Titelfigur Beobachtungen anstellt: über den Tormann und über den Elfmeter. Die Erzählung schließt mit einer Schlüsselszene.

Indirekte Anspielung aus den Ball

Ist der Fußball als Leitmotiv erst einmal ernst genommen, werden zahlreiche weitere Motive als indirekte Anspielungen lesbar: Ein Auto hat „Flanken“; beim Spaziergang wechselt Bloch wie im Training zwischen „Vorwärtslauf “ und „Rückwärtslauf“; wenn eine Kuchenschachtel vom Tisch zu fallen droht, hätte er sie in Torwartmanier „auffangen können“. Ein Zöllner im Grenzgebiet beschreibt seine Jagd auf Schmuggler in einer Weise, die den Leser in die Position eines Abwehrspielers beim gegnerischen Angriff – oder in die eines Torhüters beim Elfmeter versetzt:

Freilich sind wir hier ziemlich unterbeschäftigt […]. So läßt die Angespanntheit nach, man wird müde und kann sich nicht mehr konzentrieren. Und wenn dann doch einmal etwas passiert, reagiert man nicht einmal. […] Wenn dann einer einem in den Weg kommt, weiß man nicht einmal, wie man ihn fassen soll. Man steht von vornherein falsch, und wenn man einmal richtig steht, verläßt man sich darauf, daß der Kollege neben einem ihn kriegen wird […]. Wenn man sich gegenübersteht […], ist es wichtig, dem andern in die Augen zu sehen. Bevor er losläuft, deuten die Augen die Richtung an, in die er laufen wird. Zur gleichen Zeit muß man aber auch seine Beine beobachten. […] In die Richtung, in die das Standbein zeigt, wird er dann davonlaufen wollen. Will der andre einen aber täuschen und nicht in diese Richtung laufen, so wird er, gerade bevor er losläuft, das Standbein wechseln müssen […]. Man kann immer nur reagieren.

Handkes Text verleitet seine Leser zu einer eigenen Deutungs-Paranoia: zu einer Fixierung auf fußballerische Motive, die irgendwann abgebrochen werden muss. 

Auch eine historische Andeutung fehlt nicht

Letzten Endes fehlt sogar eine historische Anspielung nicht. Denn der Name von Handkes Figur, Josef Bloch, macht diese als Juden lesbar. Nicht nur sind Vorname und Nachname jeweils jüdischen Ursprungs. Sie assoziieren zudem die beiden Namen aus Franz Kafkas Der Proceß (während Kafkas „Türhüterparabel“ ohnehin in den Sinn kommt): Josef (K.) und (Kaufmann) Block; sowie nicht zuletzt den des Schriftstellers Ernst Bloch. Der Vorname Joseph war, wie der Historiker und Sprachwissenschaftler Dietz Bering in seiner Studie Der Name als Stigma zeigte, ein durch Umbenennung häufig abgelegter „Fluchtname“; der Nachname Bloch bezeichnete im Polnischen (Wloch) einen aus Frankreich vertriebenen Juden („Welschen“). Dass Handkes Figur durch ihre Torwartrolle als Außenseiter gezeichnet wird, der sich einer Verfolgung ausgesetzt sieht und nach einem Verbrechen versucht, über die Grenze aus Deutschland beziehungsweise Österreich zu entfliehen, gibt der Erzählung eine unheimliche Dimension. Der Fußball wird vor dem Hintergrund deutscher Geschichte keineswegs verdrängt, sondern auf irritierende Weise eingesetzt.

Eine komplexe Beziehung der Literatur zum Fußball, wie sie an Peter Handkes Die Angst des Tormanns beim Elfmeter zu erkennen ist, lässt sich auch in zahlreichen weiteren Texten betrachten. So geht es in Friedrich Christian Delius‘ Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde (1994), indem vom Fußball die Rede ist, mindestens ebenso um Adoleszenz und Adenauerzeit, um Religion und Wiederbewaffnung, um kollektive Identität und den Jubel der deutschen Einheit.

Lateinamerikanische Variationen

Eine vergleichbar intensive und vielseitige Behandlung erfuhr der Fußball in den Arbeiten lateinamerikanischer Autoren. Mario Benedettis Kurzgeschichte „Der Rasen“ („El césped“, 1990), zum Beispiel, handelt ebenfalls von einem Torwart. Aber Benedetti verbindet dieses Motiv mit einem ganz anderen Thema als Handke. Ihm geht es um Träume und Verzweiflung, um greifbar nahen Erfolg und plötzliches Versagen, um Freundschaft und Selbstmord. Welche Rolle spielt es, dass die Figur ein uruguayischer Torhüter ist? Dass dieser die Aussicht hat, einen Vertrag bei einem europäischen Profi-Verein zu erhalten? Dass diese Chance in einem einzigen Spiel, in einer einzigen Aktion zunichte gemacht wird? Und dass der Spieler der gegnerischen Mannschaft, der den unseligen Ball ins Tor schießt, sein bester Freund ist? Der sprichwörtliche „Torwartfehler“ steht für eine öffentliche Blamage, ein folgenschweres Missgeschick, einen Augenblick, der eine Karriere beenden, einen Ruf zerstören, ein Selbstwertgefühl ruinieren kann. Der „Rasen“ des Spielfeldes, der ein Schauplatz des Triumphes hätte sein sollen, verwandelt sich am Ende in das Gras des Armenfriedhofs, unter dem der Unglückliche bestattet wird. Auch hier geht es um Fußball. Und um Leben und Tod. Anhand des Spiels wird eine Geschichte erzählt, deren Bedeutung weit darüber hinausreicht.

Fußball ist keine verschiebbare Kulisse, kein folkloristisches Kolorit

Bei Arbeiten wie denen von Handke, Delius und Benedetti handelt es sich nicht um Fußball-Literatur, die sich in vordergründiger Beschreibung des Sports erschöpfen würde. Selbstverständlich kann es nicht darum gehen, das Spiel eins zu eins abzubilden. Damit begnügt sich nicht einmal eine Live-Reportage im Hörfunk. Ebenso wenig ist der Fußball austauschbares Detail, verschiebbare Kulisse, folkloristisches Kolorit – oder intellektuelle Koketterie. Denn an ihm wird etwas deutlich, das ohne ihn nicht sichtbar würde: etwas, das ihn transzendiert. Die entscheidenden Fragen lauten: Wie wendet die Literatur ihren Gegenstand ins Paradigmatische? Und wie reagiert sie auf ihn künstlerisch? Benedetti beispielsweise ließ sich poetisch anregen, indem er zwischen erster und dritter Person wechselt, zwischen der Perspektive der Spieler und dem Reportagestil der Beobachter. El fútbol a sol y sombra (Fußball bei Licht und Schatten, 1995), vom uruguayischen Schriftsteller Eduardo Galeano, ist eine kunstvolle Studie über Fußball und zugleich ein Buch der Geschichte, eine Sammlung von Mythen, ein Essay zur Kultur Uruguays und eine Selbstbefragung Lateinamerikas. In seiner episodischen Form ist es parallel angelegt zu Galeanos monumentaler Serie poetischer Miniaturen aus der Historie des Kontinents: Memoria del fuego (Erinnerung an das Feuer, 1982/1984/1986). In seiner politischen und kulturkritischen Dimension, in der Perspektivierung auf den aus Europa importierten Football, ergänzt es seine Geschichte des Kolonialismus und Neokolonialismus: Las venas abiertas de América Latina (Die offenen Adern Lateinamerikas, 1971).

Fußball steht für die Mechanismen der Korruption

Die Erzählung „El extremo fantasma“ („Das Außengespenst“, 1995) des Mexikaners Juan Villoro handelt von einem früheren Flügelstürmer, der seinen ersten Trainerposten bei einem Zweitligaverein im Abseits der mexikanischen Provinz antritt. Dort sieht er sich Bestechungsversuchen und politischem Druck ausgesetzt. Er scheitert, und seine Mannschaft verliert das entscheidende Spiel. Auch Villoros Text thematisiert anhand des Fußballs stellvertretend beziehungsweise metaphorisch etwas, für das dieser als Exempel dient: die Mechanismen der Korruption und die Abseitigkeit der Peripherie.

Der Paraguayer Augusto Roa Bastos inszeniert in „El crack“ („Der Crack“, 1995) das Leben eines ungewöhnlichen Fußballers. Ein hässlicher und liebenswert verrückter Spieler verblüfft als Virtuose am Ball. Die Verteidiger verletzen ihn tödlich, aber mysteriöserweise kehrt er aus dem Krankenhaus zurück, um ein letztes Mal eine Begegnung zu entscheiden. Der Außenseiter, der wilde Gaucho-Fußballer, wird zu einer poetischen Verkörperung des Lateinamerikaners. Indem sie an der Kunst dieses fabelhaften Athleten entfaltet wird, verbindet sich die Form des Magischen Realismus mit der Ästhetik des Spiels, welches seinerseits die Regeln der Realität außer Kraft zu setzen vermag.

So verdichtet Alfredo Bryce Echenique in „Pasalacqua y la libertad“ („Pasalacqua und die Freiheit“, 1995) die Kindheitserinnerungen seines Helden im Bild eines durch die Luft fliegenden Spielers. Der Fußball ermöglicht eine Reise in die Vergangenheit. Indem er die Phantasie herausfordert, leistet er eine Initiation zur Poesie. Der chilenische Schriftsteller und Diplomat Antonio Skármeta, um ein letztes Beispiel zu nennen, erzählt in „La composición“ („Der Schulaufsatz“, 1998) von den Gefahren, denen ein Heranwachsender unter der Diktatur Augusto Pinochets ausgesetzt war.

Die Gefahren in der Diktatur Pinochets

Der junge Pedro träumt davon, einen richtigen Lederfußball zu besitzen. Als er mit seinen Kumpels Fußball spielt, beobachtet er, wie der Vater eines Freundes vom Militär abgeholt wird, weil er ein „Linker“ und ein Gegner des Diktators sei. Pedro fragt seinen Vater, was das zu bedeuten habe und ob er ebenfalls ein „Linker“ sei, was dieser bejaht. Als wenig später ein Vertreter des Militärs in der Schule die Kinder auffordert, an einem Aufsatzwettbewerb teilzunehmen und „dem General“ zu erzählen, was ihre Eltern nach der Arbeit tun, worüber sie sprechen, welche Sender sie einschalten, nimmt Pedro teil – in der Hoffnung, einen Lederball zu gewinnen. Da Skármeta vorgeführt hat, wie versessen der Junge auf einen solchen Ball und wie fasziniert er von dem Begriff „Linker“ ist und davon, dass seine Eltern regelmäßig einen schlecht empfangenen Radiosender hören, der „über ihr Land“ spricht, müssen die Leser damit rechnen, dass das Kind in seiner Gutgläubigkeit die Eltern verraten und der Verfolgung ausliefern wird. Wenn Skármeta am Ende den kurzen Aufsatz wiedergibt, den Pedro eingereicht hat, besteht die Pointe darin, dass dieser keinerlei verfängliche Informationen enthält, sondern schlicht den fußballerischen Alltag im Viertel schildert. Was zu befürchten war, ist nicht eingetreten. Die Liebe zum Fußball ist Pedros Familie nicht zum Verhängnis geworden, sondern im Gegenteil: Sie hat sie gerettet. Indem sie vom Fußball handelt, setzt sich Pedros Geschichte – wie Skármetas Text – mit dem Terror in Chile auseinander. Und zugleich handelt es sich um eine ironische Selbstreflexion: Fußball-Literatur kann eine intelligente Ausflucht sein, die gerade als solche politisch ist.

Josef Bloch und Moby Dick

Wo Fußball im Zentrum der Populärkultur steht, hat er Eingang in die Literatur gefunden: in Deutschland und Österreich, in Uruguay oder Chile. Er eignet sich zur Gestaltung existenzieller wie politischer Themen. Er lässt sich vielseitig einsetzen, aneignen, verwandeln. Der vermeintliche Gegensatz zwischen Alltag und Poesie ist keiner. Endspiele, Elfmeter, Torwartfehler – das Spiel stellt Motive bereit, in denen Schriftsteller ihre Geschichten verdichten. In ihnen nehmen ewige Themen zeitgenössische Gestalt an: Kampf, Sieg und Niederlage; Passion, Freude und Verzweiflung; Aufstieg, Überhebung und Untergang; Verfolgung, Angst und Erinnerung.

Vielleicht hat weniger die Literatur ein Problem mit dem Fußball als die Literaturwissenschaft. In zahlreichen Texten spielt der Fußball jedenfalls eine wichtige, wenn auch nicht notwendigerweise vordergründige Rolle, nämlich als ästhetischer Gegenstand oder als künstlerisches Modell. Seine Darstellung weist weit über das Spiel hinaus. Moby Dick ist nicht nur ein Buch über Walfang, aber auch keines, in dem dieser eine beliebige Zutat wäre.