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Der unterhaltsame Mord

Was eine Gattung am Leben erhält, die vom Tod erzählt

04.06.2010

Was eine Gattung am Leben erhält, die vom Tod erzählt.

Was eine Gattung am Leben erhält, die vom Tod erzählt.
Bildquelle: photocase/kallejipp www.photocase.de/foto/164868-stock-photo-mensch-blau-dunkel-erwachsene-angst-maskulin

Seit Jahren ein Dauerbrenner im Ersten: Der Tatort – hier mit dem Pathologen Professor Karl-Friedrich Boerne (gespielt von Jan Josef Liefers, l.) und dem Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl), die als Team in Münster für den WDR ermitteln.

Seit Jahren ein Dauerbrenner im Ersten: Der Tatort – hier mit dem Pathologen Professor Karl-Friedrich Boerne (gespielt von Jan Josef Liefers, l.) und dem Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl), die als Team in Münster für den WDR ermitteln.
Bildquelle: WDR/Stephan Rabold

Schiller will nach dem Vorbild der „Erfahrungs-Seelenkundler“’ mit seiner Erzählung einen Blick in die Seele des Täters werfen.

Schiller will nach dem Vorbild der „Erfahrungs-Seelenkundler“’ mit seiner Erzählung einen Blick in die Seele des Täters werfen.
Bildquelle: xeno.org

Der Kommissar Wallander (Krister Henriksson) wie er in der ARD zu sehen ist. Er ermittelt in der schwedischen Stadt Ystad und ist die fiktive Hauptfigur der meisten Mankell-Kriminalromane.

Der Kommissar Wallander (Krister Henriksson) wie er in der ARD zu sehen ist. Er ermittelt in der schwedischen Stadt Ystad und ist die fiktive Hauptfigur der meisten Mankell-Kriminalromane.
Bildquelle: ARD Degeto/Yellow Bird/Nille Leander

Henning Mankell gehört zu den erfolgreichsten Krimiautoren, nicht nur in Schweden. Der von ihm erfundene Kommissar ist Kurt Wallander.

Henning Mankell gehört zu den erfolgreichsten Krimiautoren, nicht nur in Schweden. Der von ihm erfundene Kommissar ist Kurt Wallander.
Bildquelle: Lina Ikse Bergmann www.henningmankell.com

Krimis haben Hochkonjunktur, sie erobern die Bestsellerlisten, sie füllen die Regale in den Buchhandlungen – und die Sendezeiten im Fernsehen. Warum aber ist dieses Genre so erfolgreich? Was macht es für Leser und Zuschauer so attraktiv? Und seit wann ist es überhaupt eine literarische Gattung? Der Philologe Richard Brittnacher weiß es, und er erklärt in seinem Artikel diesen Erfolg; angefangen von Goethe über Agatha Christie bis zu Henning Mankell.

Seit 40 Jahren beschert die ARD ihren Zuschauern fast wöchentlich den Mord zum Sonntag. Samstags schickt das ZDF Frauen mit klangvoll alliterierenden Namen wie Bella Block oder Rosa Roth auf Mörderjagd. Freitags heften sich zähe Ermittler und im Dienst ergraute Beamte, Der Alte oder Der Kommissar, an die Fersen der Verbrecher. Fast täglich gibt es, meist zu später Stunde, in den dritten Programmen Wiederholungen älterer Tatorte. Die Mehrzahl der vor allem in den USA eingekauften Serien sind Krimis, die erfolgreichste: Law and Order. Sie brachte es schon auf 20 Staffeln und 400 Einzelfolgen.

Besonders beliebt sind auch grausame und bizarre Morde in Schweden, die schwermütigen Kommissaren schlaflose Nächte bereiten. Kaum ein Abend im deutschen Fernsehen also ohne Mord, ohne Totschlag. Auch im Buchhandel bewähren sich Krimis als zuverlässige Long- und Bestseller: Monatlich erscheinen fast 30 neue Titel, etwa ein Viertel aller literarischen Neuerscheinungen sind Krimis. Filme und Romane handeln die ganze Bandbreite des Verbrechens ab: vom Trickbetrug über den Bankraub bis hin zur Königsdisziplin, dem Mord – Letzterer seit einigen Jahren gern auch in Serie. Ein Viertel der Leser bezeichnet sich selbst als mehr oder minder passionierter Krimi-Leser – mit steigendem Bildungsgrad nimmt der Prozentsatz sogar zu. Der Mord, in der Realität eine eher unappetitliche Angelegenheiten, scheint in der medialen Dauerpräsenz seinen Schrecken weitgehend verloren zu haben – und bestätigt so eine seit Aristoteles bekannte Vermutung, wonach wir in der Nachahmung zu genießen vermögen, was in der Wirklichkeit missfällt.

Der mörderische Erfolg hat viele Väter. Daher lässt sich die einfache Frage nach dem Grund der beispiellosen Erfolgsgeschichte des Krimis nicht einfach beantworten. Nicht einmal über einen Initialtext, der als Startschuss für die Karriere dieses literarischen Genres infrage käme, herrscht Einigkeit. Im Gegenteil: Die vielfältigen literarischen und nationalen Traditionen haben ganz unterschiedliche Spielarten des Erzählens vom Verbrechen hervorgebracht: Kriminalroman, Detektivstory oder Thriller. Nach einer Beobachtung des deutschen Literaturhistorikers Richard Alewyn erzählt der Kriminalroman die Geschichte eines Verbrechens, die Detektivstory die Geschichte seiner Auflösung – eine zwar nicht immer trennscharfe, aber durchaus brauchbare Formel. 

Seit Ende des 18. Jahrhunderts gibt es im deutschen Sprachraum Kriminalgeschichten

Kriminalgeschichten – wenn auch keine Kriminalromane – gibt es im deutschen Sprachraum seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert: Gottlieb August Meißner, ein fleißiger Autor der Spätaufklärung, hat sie dem Publikum zu Dutzenden vorgelegt. Die Skizzen Meißners handeln durchweg von Menschen, die eine unglückselige Folge von Begebenheiten auf die schiefe Bahn und zuletzt aufs Schafott bringt. Sie dokumentieren damit auch die Ängste eines Zeitalters des Umbruchs, in dem sich bis dahin verbindliche Sicherheiten auflösten. Im modernen Zeitalter wandelte sich die Nemesis der Antike in eine zwingende Verkettung fataler Umstände. Die häufig so paradoxen wie umständlichen Titel Meißners – etwa: Blutschänder, Mordbrenner und Mörder zugleich, den Gesetzen nach, und doch ein Jüngling von edler Seele – zeigen vor allem eines: Jeder kann zum Mörder werden.

In dieses eher wehleidige als kritische Erzählen vom Verbrechen brachte Friedrich Schiller 1786 mit seiner Erzählung vom Verbrecher aus Infamie einen neuen Ton, indem er die soziologisch präzise Autopsie einer Verbrecherlaufbahn und ihrer sozialen und psychischen Ursachen vorlegte. Das Zusammenspiel von Armut, äußerer Hässlichkeit, menschlicher Niedertracht und behördlicher Ignoranz treibt Christian Wolf, den Anti- Helden dieser Geschichte, in einer Spirale aus vorenthaltener und später mit Gewalt ertrotzter Anerkennung immer weiter ins gesellschaftliche Abseits.

Schiller beschreibt die fortschreitende Abweichung von der Norm

Schiller hat seine Erzählung mit einigen grundsätzlichen Überlegungen eingeleitet, die vom anthropologischen Reichtum und vom polemisch kritischen Impetus des Aufklärungszeitalters zeugen: Er will nach dem Vorbild der „Erfahrungs-Seelenkundler“ mit seiner Erzählung einen Blick in die Seele des Täters werfen. Er will nicht nur sehen, wie er die Handlung begeht, sondern auch, wie er den Vorsatz zur Tat fasst; mit dem kritischen Blick des Aufklärers fasst er auch die veränderlichen Strukturen der Gesellschaft ins Auge, die sich in der Gestalt von trostlosen Außenseitern wie Christian Wolf ihre eigenen Verbrecher selbst ausgebrütet hat. Wenn Christian Wolf am Ende der Geschichte sich der Gerechtigkeit ausliefert, als er einsehen muss, auch unter den Ausgestoßenen keinen Frieden finden zu können, rechtfertigt dies nicht nachträglich die Gesellschaft, die ihn verstoßen hat. Sie zeigt stattdessen die Überlegenheit eines unantastbaren Sittengesetzes, das sogar noch in der Brust des Mörders wirkt. Schande über eine Gesellschaft, die einen wie Christian Wolf nicht vor sich selbst hat retten können! Schillers Erzählung setzt nicht wegen ihres vielleicht etwas naiven Idealismus einen Trend, sondern wegen der Konsequenz, mit der sie das fortschreitende Abweichen von gesellschaftlichen Normen durch ihren Protagonisten beschreibt, das ihn Zug um Zug ins Verderben führt – während sein Schicksal durch angemessene Maßnahmen der Jurisdiktion hätte gewendet werden können.

Die Kriminalgeschichten der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts stehen häufig in der Nachfolge Schillers und lassen sich als Fallgeschichten lesen, die unerbittlich die fatalen Folgen falscher Entscheidungen demonstrieren: Der Verbrecher ist der Spieler, der die Partie seines Lebens verloren hat. Einer gesellschaftskritischen Literatur kann sein Schicksal immerhin als lehrreiches soziologisches Exempel dienen: „Die Leichenöffnung des Lasters“, so schrieb Schiller in der Einleitung seiner Erzählung, „unterrichtet vielleicht die Menschheit und, es ist möglich, auch die Gerechtigkeit.“ Indem Schiller institutionelle Fehler anklagt, die sich korrigieren lassen, und an die anthropologische Würde des Menschen erinnert, die sich auch unter widrigsten Umständen bewährt, stellt er seine Erzählung in den Dienst sozialer Prophylaxe: Die Einsicht in die Entstehung der Gewalt verhindert künftige Verbrechen. Mit Hinweisen dieser Art auf die soziale Relevanz der Dichtung vom Verbrechen ist immer wieder dem Vorwurf widersprochen worden, Kriminalliteratur lasse sich auf die sensationslüsternen Erwartungen des dritten und vierten Standes ein. Einem weniger kritischen Leser vermittelt die Geschichte vom Verbrecher Christian Wolf immerhin noch die erbauliche Botschaft, dass Unrecht nicht lange gedeiht – der Kriminalroman bewährt sich somit auch als staatstragendes Genre. Und wenn er vom schlussendlichen Sieg der Gerechtigkeit erzählt, mindert er auch die Ängste eines desorientierten Zeitalters, indem er mit den Mitteln der Erzählung jene Sicherheiten herstellt, die alltäglich empfindlich fehlen.

Ganz anders stellt sich der literarische Umgang mit dem Verbrechen in der englischen und amerikanischen Tradition dar. Um die These vorwegzunehmen: Der angelsächsische Kriminalroman sucht nach einem Schuldigen, die deutsche Kriminalnovelle fragt nach der Schuld. Im Zentrum der Detektivstory stehen nicht Täter und infame Logik des sozialen Ausschlusses, sondern der Ermittler, der den Hergang einer Tat rekonstruiert und den Schuldigen überführt.

Die in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts erschienenen Erzählungen des Amerikaners Edgar Allan Poe gelten als erste Detektivstorys im modernen Wortsinn, die Tausenden von Szenarien in der goldenen Ära des britischen Krimis im ersten Drittel des 20. Jahrhundert als Vorbild dienen sollten.

So lässt Poe den ebenso exzentrischen wie intelligenten Außenseiter Auguste Dupin in Fällen aushelfen, in denen die schwerfällige Polizei mit ihrem Latein am Ende ist, etwa im Fall des Doppelmordes in der Rue Morgue (The Murders in the Rue Morgue, 1841).

Der Mörder war der – Affe

Unartikulierte Schreie und zwei bestialisch zugerichtete Frauenleichen, die eine in einen Kaminschacht gezwängt, die andere mit durchschnittener Kehle, stellen die Polizei, die kein Motiv für diesen Mord zu finden mag, vor ein unlösbares Rätsel. Dupin besichtigt den Tatort, bezieht alle Informationen in seine Analyse des Falles ein und gelangt in einer lückenlosen Indizienkette zu einer Schlussfolgerung, die kaum phantastischer sein könnte und sich doch den biederen Kombinationen der Polizei gegenüber als die zutreffende erweist: Es kann sich nur um die Tat eines panisch gewordenen Tieres handeln, nämlich eines seinem Besitzer entlaufenen Orang Utans aus Borneo.

Diesem Idealtypus der von Poe begründeten angelsächsischen Kriminalgeschichte, der Exposition eines hochverdichteten artistischen Rätsels und seiner nicht minder artistischen Dekonstruktion, sind jene Romane und Erzählungen besonders nahe gekommen, die wir mit den Namen von Arthur Conan Doyle, Gilbert Keith Chesterton, Agatha Christie oder Dorothy Sayers verbinden. In vielfältigen Variationen reproduzieren sie zuverlässig das gleiche Schema: In einer Welt ohne Krieg und ohne Probleme, mit viel Geld und einer so beiläufig wie selbstverständlich bejahten sozialen Hierarchie, in der ländliche Ruhe, englische Rasenbleiche und Fünf-Uhr-Tee den Rhythmus des Leben bestimmen, bringt ein Todesfall Abwechslung. Eine reiche Erbtante etwa wird tot aufgefunden, nicht selten im Lehnsessel in der von innen verschlossenen Bibliothek. Blut ist kaum geflossen, der Spitzenkragen sitzt auch nach dem Tod noch tadellos. Die Polizei tritt auf der Stelle, bis ein spleeniger Detektiv seinen Auftritt hat, Zeugen, Personal und Hinterbliebene verhört und durch Deduktion und Kombinatorik schließlich das Geheimnis löst und den Täter überführt. Vor dem Mord war die Welt in schönster Ordnung, das rätselhafte Verbrechen stellt einen Frevel dar, der indes die Intelligenz stärker beleidigt als die Moral. Nach dem Auftritt des Detektivs, der mit überlegener Intelligenz die aus den Fugen geratene Rationalität wieder einrenkt, ist die Welt zu guter Letzt wieder in Ordnung. So tröstet der Krimi in Fallgeschichten von beschädigter und versöhnter Rationalität über die alltägliche Erfahrung der Kontingenz hinweg. Mystery ist nicht zufällig der Gattungsbegriff dieser Variante des Kriminalromans. In ihm ist das Interesse an der perfekten „Verrätselung“ des Mordes so dominant, dass literarische Ansprüche nicht nur das Nachsehen haben, sondern als störend empfunden werden.

20 Regeln für einen erfolgreichen Kriminalroman

S. S. van Dine, Autor der Detektivromane um den snobistischen Meisterdetektiv Philo Vance, der 1928 eine Betriebsanleitung für den erfolgreichen Bau von Kriminalgeschichten verfasste, verlangte daher auch in der 16. von insgesamt 20 Regeln: „Ein Detektivroman sollte keine langen beschreibenden Passagen, kein literarisches Verweilen bei Nebensächlichkeiten, keine subtilen Charakteranalysen, kein intensives Bemühen um ‚Atmosphäre’ enthalten.“ Daher erscheint der Kriminalroman, wie van Dine ihn sich wünscht und wie ihn Agatha Christie und andere geschrieben haben, oft genug nicht als Exempel einer literarischen Gattung, sondern eher als Denksportaufgabe, ein ausgeklügeltes Experiment, in dem Detektiv und Leser im Zusammenspiel von Regeln und Variationen den zugrunde liegenden Algorhythmus zu finden haben. Solche poetologisch kurzgetrimmten „Whodunit- Romane“, die sich ganz auf die Frage nach dem Täter konzentrieren, leiden nicht selten an ihrer eigentümlichen Weltlosigkeit. Als artistische Gebilde ohne größeren literarischen Anspruch scheinen sie eher für Tüftler erdacht als für Leser geschrieben – und liefern allenfalls beiläufig Einblicke in soziale Kontexte. Die epische Welt van Dines und seinesgleichen lässt die erzählerischen Errungenschaften des realistischen Romans hinter sich, ohne zu den Innovationen der klassischen Moderne aufzuschließen: Im Morden nach Schema F bleibt das Schema, wie oft es auch variiert werden mag, doch als narrative Blaupause intakt. Zudem leugnet die Verschlüsselung des Mordes zu einem vertrackten Diagramm den sozialen Ursprung der Gewalt: An dem aseptischen Mord, wie er in der Detektivstory dargestellt wird, haftet die Brutalität des Delikts allenfalls noch in Spurenelementen.

Blutleer, exzentrisch und verhaltensauffällig, die Armchair-Detektive

So blutleer wie die Morde sind auch die „Armchair-Detektive“ dieser literarischen Tradition, die zur Lösung des Rätsels nicht einmal den geliebten Sessel verlassen müssen. Ihr oft exzentrischer Habitus, als „verhaltensauffällig“ noch milde diagnostiziert, dient nicht nur der Exklusivierung der Detektive, die mit der Welt der Verdächtigen nichts gemein haben dürfen. Sie ist auch das Korrelat ihrer fehlenden ästhetischen Vitalität. Sie sind pedantische Denkmaschinen und Kombinationskünstler, die eher eine störende Größe aus einer Gleichung nehmen, als dass sie den für einen Mord verantwortlichen Täter identifizieren. Von vergleichbarer Leblosigkeit sind zuletzt auch die Täter dieser Romane, keine rachsüchtigen Mörder oder in die Enge getriebenen Totschläger, sondern Erbschleicher mit guten Manieren und in der Regel nur ideelle Versuchskaninchen der Delinquenz.

Zur „Hardboiled-Variante“ des Kriminalromans, die Dashiell Hammett in einer Reihe von Romanen in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhundertst etablierte, hat Raymond Chandler mit seinem berühmten Essay The simple art of Murder (1944) die poetische Programmatik geliefert. Hier findet das Verbrechen wieder zurück in die Realität: Morde werden nicht auf idyllischen Landsitzen begangen, sondern im Dschungel der Großstadt, nicht von gelangweilten Snobs, sondern von Berufsverbrechern, die Messer und Pistole benutzen, nicht das Gift tropischer Zierfische. Diese literaturpolitische „Frontbegradigung“ lässt auch die Gestalt des Detektivs nicht unberührt – kein gelangweilter Intellektueller mehr, der Kostproben einer atemberaubenden Kombinationsgabe liefert, sondern ein Unternehmer, der seinen Klienten Scharfsinn und Körperkraft gegen Bezahlung zur Verfügung stellt.

Als Repräsentant einer kühlen Sachlichkeit in der Anonymität der Großstadt, gekleidet mit dem Trenchcoat, dem Staubmantel aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs, und als Zeuge der großen Depression, ist Chandlers Detektiv Philip Marlowe durch keine Sentimentalität zu erschüttern.

Der neue Detektiv ist unsentimental – bis er auf den Vamp trifft

Aber in der verführerischen Frau begegnet ihm, dem Nachfahren des American Adam aus der Wildnis des Westens, den es nun in die Großstadt verschlagen hat, ein Gegner, dem er in seiner Unschuld kaum gewachsen ist. Die Frau, die zu Beginn des Romans – und in den nach Hunderten zu zählenden Filmen der schwarzen Ära – im Büro des Helden sitzt und ihn um Beistand bittet, reaktiviert das alte Motiv der Damsell in Distress, die an die Ritterlichkeit des Helden appelliert. Freilich gehört es zur eigentümlich homosozialen Matrix des amerikanischen Romans, dass die hilfesuchende Frau sich bald als verführerischer Vamp erweist, die den Helden einwickelt, hintergeht, missbraucht, verrät – und deshalb am Ende die verdiente Strafe erleidet. Mickey Spillane, der literarische Rüpel unter den Autoren der Hardboiled- School, ließ in seinem berühmten, auch heute noch in seiner schnörkellosen Brutalität verstörenden Lynchkrimi I the Jury von 1946 seinen Helden Mike Hammer am Ende des Romans das blonde Gift, das ihn erst angeheuert und dann hintergangen hat, selbst hinrichten. Mit einer Kugel in der Brust haucht sie noch, zu Boden sinkend: „Wie konntest Du nur?“ Er: „Es war ganz leicht.“

Der „Hardboiled-Krimi“ bringt wieder Ernst und Abenteuer ins Glasperlenspiel des Verbrechens. In Chandlers Philip Marlowe, in Ross McDonalds Lew Archer oder im smarten Spenser, dem Detektiv des Anfang 2010 verstorbenen Robert B. Parker, begegnet der identifikationswillige Leser einem nonkonformistischen Alter Ego, dem h3, silent guy der amerikanischen Kultur, der mit Mutterwitz, abgebrühter Intelligenz, physischer Belastbarkeit und einer unbestechlichen Moral literarisch das angeschlagene Vertrauen in die Condition Humaine wiederherstellt. In einer Welt, die zunehmend undurchsichtiger wird, in der die scheinbar zuverlässigen moralischen Standards konsequent durchlöchert werden, liefern die tough guys mit ihren wise cracks, die auch in Situationen existenzieller Ohnmacht sprachliche und intellektuelle Überlegenheit kommunizieren, immer noch zuverlässige Identifikationsfiguren.

Profiler und Bluttropfen-Analytiker kümmern sich jetzt um die Opfer

Seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts lässt sich eine weitere Trendwende im literarischen Gewerbe des Verbrechens beobachten: Nach der deutschen Kriminalnovelle mit ihrer Akzentuierung des sozial bedingten Verbrechens, der britischen Variante mit der Frage nach dem Täter und der amerikanischen mit der Konzentration auf den Helden, rückt das bislang übersehene Opfer ins Zentrum der Aufmerksamkeit. In den derzeit populärsten Varianten suchen Profiler in Serienmörderkrimis oder ausgebuffte Spurensicherungs-Experten und Bluttropfen- Analytiker in forensischen Krimis zwar weiter nach Tätern, aber sie tun es im Grunde im Auftrag der Opfer. Wound Culture, eine seit den siebziger Jahren populär gewordene Metapher sozialer Selbst-Thematisierung, liefert dem neuen Krimi auch seine neue moralische Orientierung: Die Leiche, die nach dem Gesetz des Genres am Beginn von Film oder Roman aufgefunden wird, ist nun in der Regel brutal zugerichtet, vergewaltigt, gefoltert, gehäutet oder kastriert. Anders als in der piekfeinen britischen Tradition, die keine Gewalt kennt, oder der hemdsärmeligen amerikanischen Variante, die sich auf die zerbeulten Visagen einiger Ganoven beschränkt, beobachtet der neue Kriminalroman, teilweise in hysterischer Dramatisierung, eine kranke Gesellschaft, die den Kampf gegen die Drogen verloren gegeben hat, in der organisiertes Verbrechen und Armutsmigration die Parameter der Brutalität neu austariert haben.

Zuverlässig muss der vom Bestsellerautor Henning Mankell erfundene schwedische Kommissar Wallander angesichts besonders brutal ausgeführter Verbrechen stöhnen: „In was für einer Welt leben wir eigentlich?“ Der Erfolg des Krimis ist an die Krise der grands reçits gebunden: Er respondiert in exemplarischen Geschichten der Erfahrung fehlender Gerechtigkeit, er versöhnt eine beschädigte Ordnung, er stellt eine verletzte Rationalität wieder her, er findet für die Sehnsucht nach Tapferkeit und Integrität in einer unheroisch gewordenen Welt plastische Bilder und liefert auch der Erfahrung sozialer Ratlosigkeit einprägsame Metaphern. Der Krimi ist ein Instrument, „mit dem die Gesellschaft sich selbst beobachten kann – gerade auch dort, wo sie sich immer weniger versteht“, wie der Essener Literaturwissenschaftler Jochen Vogt einmal sagte. Wenn nicht alle Hinweise täuschen, wird die Popularität des Krimis in den nächsten Jahrzehnten dann wohl weiter steigen.