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Im Proteom gelesen

Wie der Bioinformatiker Tim Conrad Proteine und Hormone im Blut analysiert, um Krankheitsbilder aufzuspüren

04.06.2010

Wie der Bioinformatiker Tim Conrad Proteine und Hormone im Blut analysiert, um Krankheitsbilder aufzuspüren.

Wie der Bioinformatiker Tim Conrad Proteine und Hormone im Blut analysiert, um Krankheitsbilder aufzuspüren.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Das Histogramm des Proteom-Profils ähnelt einem Aktienkurs.

Das Histogramm des Proteom-Profils ähnelt einem Aktienkurs.
Bildquelle: Tim Conrad

Schon weniger als ein kleiner Tropfen Blut reicht Tim Conrad, um Proteine und Hormone im Blut zu analysieren.

Schon weniger als ein kleiner Tropfen Blut reicht Tim Conrad, um Proteine und Hormone im Blut zu analysieren.
Bildquelle: photocase/deinheld www.photocase.de/foto/86294-stock-photo-schwarz-ruecken-finger-vergaenglichkeit-wut-schmerz

Mit Mathematik Krankheiten heilen: auf den ersten Blick vielleicht ungewöhnlich – für Tim Conrad Alltag und wichtige Forschungsrichtung.

Mit Mathematik Krankheiten heilen: auf den ersten Blick vielleicht ungewöhnlich – für Tim Conrad Alltag und wichtige Forschungsrichtung.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Aus den Händen von Klaus Tschira erhielt Tim Conrad den Klaus-Tschira-Preis für verständliche Wissenschaft 2009 – für die dreiseitige, allgemeinverständliche Zusammenfassung seiner Dissertation.

Aus den Händen von Klaus Tschira erhielt Tim Conrad den Klaus-Tschira-Preis für verständliche Wissenschaft 2009 – für die dreiseitige, allgemeinverständliche Zusammenfassung seiner Dissertation.
Bildquelle: Klaus-Tschira-Stiftung

Natürlich hat ihm auch die Playstation geholfen. Ein junger Forscher, der eine Spielkonsole dazu benutzt, um den Krebs zu bekämpfen und nach Fingerabdrücken von Krankheiten im Blut der Patienten zu fahnden, das ist eine unschlagbare Geschichte, nicht nur entlang der Logik medialer Aufmerksamkeitsrituale – und Tim Conrad ist der unschlagbar passende Typ dazu: jung, unkonventionell und verspielt, dazu hoch intelligent, bescheiden und ein echtes Vermittlungstalent. Die Geschichte musste ein medialer Erfolg werden. Sie ist schon ein wissenschaftlicher Erfolg, und demnächst möglicherweise auch ein kommerzieller. 

Doch der Reihe nach: Nach dem Studium der Bioinformatik an der Freien Universität und in Melbourne wandte sich Tim Conrad in seiner Promotion der computergestützten Proteomforschung zu. Als Proteom wird die Gesamtheit aller Proteine in einem Lebewesen bezeichnet. Das menschliche Proteom besteht aus zigtausend verschiedenen Eiweißen in verschiedensten Konzentrationen, darunter auch Hormone und die kleineren Peptide. Um diese vielen Milliarden Moleküle zu analysieren, scheidet Handzählung weitgehend aus: Computerhilfe ist unerlässlich. Doch selbst moderne, leistungsfähige Computer kommen an ihre Grenzen, wenn sie solche Datensätze in kurzer Zeit analysieren müssen. Rund drei Stunden benötigt ein handelsüblicher Rechner für die statistische Auswertung des Proteoms – zu lang für Tim Conrads Zwecke. Dem 31-Jährigen kam nun sein Hang zur Verspieltheit zugute.

Wie Verspieltheit beim Forschen hilft

Gab es da nicht diese neue Spielkonsole, deren Prozessor zwar simpel aufgebaut, dafür aber rasend schnell war? Conrad hatte gelesen, dass amerikanische Unis schon versucht hatten, an den Prozessor zu gelangen und die damals frisch auf den Markt gekommene Playstation 3 aufgeschraubt hatten. Doch die Hardware war gut gesichert, der Ausbau des Prozessors nicht erfolgversprechend. Aber: Der Hersteller erlaubte es, ein alternatives Betriebssystem aufzuspielen. So konnte die Rechenkraft der Spielkonsole auch für andere Aufgaben nutzbar gemacht werden – zum Beispiel für die Proteomanalyse. Bei einem Bier überzeugte Tim Conrad seinen Doktorvater, die 500 Euro seien gut angelegtes Geld – ein ähnlich schnell rechnender Spezialcomputer hätte das Zehn- bis Zwanzigfache gekostet. Die Programmierung des Vektorprozessors – in Conrads Worten ein „strohdoofes, aber tierisch schnelles Arbeitspferd“ – erforderte einiges Umdenken, doch schließlich hatten er und zwei Informatikstudenten der Freien Universität es geschafft, und die Analysealgorithmen liefen auf der Konsole. Die Auswertung dauerte jetzt nur noch 15 Minuten. Und abends berechnete der Prozessor keine Proteome, sondern schwitzte über der Physik einer Fußballsimulation: Tim Conrad und seine Kollegen zockten nach Feierabend beim Bier auf dem Arbeitsgerät.

Proteome und Physik, Fußball und Bier

Die Suche nach den verräterischen Proteom-Spuren im Blut verlief dennoch recht unblutig: Tim Conrad und sein Team bekamen nur die Daten zu sehen. Daten, die in anderen Krankenhäusern bereits erhoben wurden, darunter die zur Freien Universität und Humboldt-Universität gehörende medizinische Fakultät Charité und das Universitätsklinikum Leipzig. Dort hatte man Patienten Blut abgenommen und es mit einem Massenspektrometer analysiert – auf diese Weise entstand ein Datenprofil des Proteoms. Von einem Laser ionisiert, fliegen die im Blut enthaltenen Moleküle durch eine Vakuumröhre. Über die Flugzeit lässt sich das Gewicht ermitteln, und am Ende steht eine Datei, in der zu jedem Teilchengewicht vermerkt ist, wie oft dieses Teilchen gezählt wurde.

Daraus ergibt sich eine Art Histogramm, das ein wenig einem Aktienkurs ähnelt: Entlang einer horizontalen Linie sind die Teilchengewichte vermerkt, die Ausschläge in der Vertikalen zeigen an, wie oft ein solches gezählt wurde. Dieses Proteom-Profil ist – ähnlich dem Genom – bei jedem Menschen einmalig, aber im Gegezählgensatz zu den recht stabilen Genen ist es einer ständigen Veränderung unterworfen: Der Gesundheitszustand, die Lebenssituation, die Ernährung, Medikamente, selbst die Jahreszeiten verändern das Proteom, das Lebensalter sowieso.

Statistik hilft Krankheiten finden

Wie soll man in einem so dynamischen Etwas eine Krankheit finden? „Durch Statistik“, sagt Tim Conrad trocken. Bei einer ausreichend großen Zahl an Proben – meist um die 1000 – mitteln sich die individuellen Unterschiede, sie verstellen dann nicht mehr den Blick. Allerdings ist es illusorisch anzunehmen, ein einzelnes Protein weise durch seinen besonders hohen oder niedrigen Wert auf eine Krankheit hin. Die Proteomforscher prüfen Kombinationen von vielen verschiedenen Merkmalen in den Datensätzen, die mehrere Millionen Signale enthalten. Das erhöht den Aufwand bei der Auswertung und ist ohne Computer nicht denkbar, ermöglicht aber ganz neue Einblicke gegenüber der klassischen Labormedizin, bei der der Hausarzt 30 bis 40 Parameter vom Blutzucker bis zum Cholesterin bekommt und aus diesen Daten auf wichtige Krankheiten schließen muss. Tim Conrad versuchte in seiner Doktorarbeit nun, einen Fingerabdruck bestimmter Krankheiten im Proteom zu finden: Kombinationen aus Merkmalen, die nur bei Kranken zu finden sind, bei Gesunden jedoch nicht. Weil es dazu schon einige Datensätze gab, konzentrierte er sich zunächst auf Hoden- und Bauchspeicheldrüsenkrebs – auch, weil es für diese noch keine einfachen, schnellen Tests gibt. Und es gelang: Die Algorithmen fanden mithilfe der ermittelten Fingerabdrücke zuverlässig die Proteomprofile der betroffenen Patienten heraus. Dazu war es nicht einmal unbedingt nötig zu wissen, welches Protein oder Peptid sich genau hinter den auffälligen Werten verbarg.

Kombinierte Werte als Fingerabdruck der Krankheit

Wichtig war allein die Kombination bestimmter Werte oder Wertetendenzen – der Fingerabdruck der Krankheit. „Allerdings darf man sich das Testergebnis nicht als schlichtes ,ja‘ oder ,nein‘ vorstellen, das würde der Ungenauigkeit biologischer Daten auch gar nicht gerecht“, sagt Conrad. Der Algorithmus legt daher in Zweifelsfällen auch den Schluss nahe, dass anhand der vorliegenden Daten keine Entscheidungen getroffen werden können, und er verrät, ob das gefundene Krankheitsprofil stark oder schwach ausgeprägt ist. Am Proteom forschen weltweit viele Wissenschaftler. Manche schränken die Datenflut ein, indem sie nur einen Teil des Spektrums betrachten. Andere konzentrieren sich auf bestimmte Molekülgruppen, die schon bei der Blutentnahme herausgefiltert werden. Selbst jene, die wie Tim Conrad mit dem möglichst kompletten Datensatz arbeiten, schauen nur auf einen Ausschnitt, etwa auf besonders starke oder besonders geringe Ausschläge im Profil. Tim Conrad nutzte einen anderen Ansatz. Er wagte sich – gewappnet mit den Methoden der Statisik – in die Niederungen des Rauschens.

Störgeräusche in der Physik

Unter Rauschen versteht die Physik Störgeräusche, die das eigentliche Signal überlagern – wie Nebengeräusche im Restaurant, die es schwer machen, einem Gespräch zu folgen. In der Proteomanalyse heißt das, sich auf jene Proteine und Hormone zu konzentrieren, deren kleinste Schwankungen größte Auswirkungen haben können. Um diese zu ermitteln, musste Tim Conrad hochsensible Algorithmen schreiben, die solche kleinsten Schwankungen mithilfe der Statistik filterten. „Beating the noise“ – dem Rauschen ein Schnippchen schlagen – lautete folgerichtig auch ein Fachartikel des Forschers zum Thema. Es könnte auch die Überschrift zu seiner Forschungsarbeit sein. „Obwohl meine Methode eine deutlich höhere Erkennungsrate liefert als herkömmliche Verfahren, bietet sie keine absolute Sicherheit“, schränkt Conrad ein, „aber die Profile weisen einen diagnostischen Pfad. Der Arzt kann dann bei unklarem Beschwerdebild gezielter suchen.“ Ein weiterer, oft entscheidender Vorteil: Im Proteom sind krebsartige Veränderungen sehr früh nachzuweisen – lange, bevor der Tumor mit anderen Labormethoden oder gar dem geschulten Auge erkennbar wird. So könnte die Proteomanalyse auch in der Früherkennung sinnvoll sein. Doch das Verfahren ist in der Praxis wegen höherer Kosten nicht immer die bessere Wahl: Manche Krebsart lässt sich mit einem wenige Euro teuren Immuno-Assay nachweisen – mit Proteomanalyse kostet der Nachweis zwischen 50 und 100 Euro.

Eine Datenbank mit Krankheitsprofilen aufbauen

Einer von Tim Conrads Träumen ist es, durch Erweiterung der Proteomanalyse Stück für Stück eine Datenbank mit Krankheitsprofilen aufzubauen. Weil Daten im Gegensatz zu Blutproben nicht altern, könnte man die vorhandenen Datensätze immer wieder auf neu gewonnene Krankheitsprofile prüfen. „Wenn wir in einigen Jahren 30, 40 Krankheiten erkennen können, wäre das ein großer Fortschritt, wenn es irgendwann einmal einige hundert sind, wäre es super“, sagt er mit Begeisterung. Dass es irgendwann möglich sein werde, mit einer Proteomauswertung quasi den kompletten Gesundheitsstatus eines Menschen zu ermitteln, hält Conrad dennoch für unmöglich. Eine Reihe von Faktoren limitiert die Aussagefähigkeit der Analyse: Zum einen lassen sich damit nur Krankheiten finden, die sich im Blut niederschlagen oder Krankheiten in vom Blut durchflossenen Organen. Zum anderen lässt sich mit derzeitigen Methoden gar nicht das gesamte Proteom in einem Datensatz aufschlüsseln – einige Molekülgruppen tauchen im Datenprofil nicht auf. Für manche Krankheiten gibt es zudem schon heute schnellere oder bessere Nachweismethoden. Die Zukunft der Diagnostik sieht der Bioinformatiker daher eher in der Kombination von klassischer Labor, Genund Proteomdiagnostik.

„Klartext“-Preis der Klaus-Tschira-Stiftung

Zwei Jahre ist Tim Conrads Doktorarbeit mittlerweile alt. Weil sie nicht nur inhaltlich brillant war, sondern der junge Forscher auch ein Vermittlungstalent ist, wurde er 2009 mit dem „Klartext“-Preis der Klaus-Tschira- Stiftung geehrt – für eine dreiseitige, allgemein verständliche Zusammenfassung seiner Arbeit. Natürlich musste die Playstation mit aufs Siegerfoto. Inzwischen ist Conrad Nachwuchsgruppenleiter für „Computational Proteomics“ am Institut für Mathematik der Freien Universität und hat eine internationale Gruppe motivierter Nachwuchsforscher um sich geschart. Gemeinsam arbeiten sie daran, die Rauschschwelle noch weiter herabzusetzen, um noch tiefer ins Proteom eindringen zu können. In einem Unterprojekt wird geprüft, ob die entwickelte Methode marktfähig ist. Dann könnte eine Firma daraus werden. Als Geschäftsführer der aus der Freien Universität heraus gegründeten Firma „inbion GmbH“, einer Beratungsagentur für Startups aus der Bioinformatik, kann Tim Conrad auf einige Expertise in diesem Segment verweisen. „Ich bin aber nicht geeignet, ein solches Projekt anzuführen und auf den Markt zu bringen“, schränkt er gleich selbst ein. Conrad, der schon als Kind entschlossen war, Forscher zu werden, will diese Aufgabe anderen überlassen. Als Erfinder und Berater will er sich gern einbringen, seine Erfüllung findet er aber in der universitären Forschung und ihren vielfältigen Aufgaben, derer er sich annehmen könnte. Neben einer kontinuierlichen Verbesserung der Datenauswertung verspricht sich Conrad wesentlich bessere Erkenntnisse in der Diagnose von Krankheiten durch das Einbeziehen weiterer Datenquellen wie dem Genom.

Falls er dann mal gar nicht weiterkommt, steht immer noch die ausgediente Playstation für eine Runde Fußball im Regal. Sie hat ja schon mehrfach bei der Suche nach Lösungen geholfen.