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Die Gedankenleser

Neurowissenschaftler der Freien Universität untersuchen, wie Sprache, Lesen und Gefühle zusammenhängen.

04.06.2010

Neurowissenschaftler der Freien Universität untersuchen, wie Sprache, Lesen und Gefühle zusammenhängen.

Neurowissenschaftler der Freien Universität untersuchen, wie Sprache, Lesen und Gefühle zusammenhängen.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Während der 90 Minuten im fMRT können die Forscher vom Kontrollraum aus den Probanden direkt ins Gehirn schauen

Während der 90 Minuten im fMRT können die Forscher vom Kontrollraum aus den Probanden direkt ins Gehirn schauen
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Schmalzromane rühren Menschen zu Tränen, Horrorgeschichten rauben ihnen den Schlaf. Lesen kann verschiedenste Emotionen auslösen. Doch empfinden Deutsche bei Lesen ihrer Sprache genauso wie Spanier oder Engländer? Dieser Frage gehen Wissenschaftler des Forschungsprojekts „Mehrsprachigkeit und emotionale Effekte beim Lesen“ nach. 

Mark Twain war nicht nur Schriftsteller, er war auch ein Leser. Einer, der sensibel war für die große Kraft von Worten und die Gefühle, die sie auslösen können.

Mark Twain, die Glühwürmchen und der Blitz

„Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem beinahe richtigen ist erheblich – es ist der Unterschied zwischen einem Glühwürmchen und dem Blitz“, soll er gesagt haben. Wer den Satz auf Englisch liest, dem wird der Sinn schneller deutlich: „The difference between the right word and the almost right word is really a large matter – it‘s the difference between the lightning-bug and the lightning.“ Dieses Bonmot zeigt zwei Dinge über das Lesen: Worte können einander vielleicht ähneln, aber dennoch ganz unterschiedliche Dinge meinen. Und: Je nachdem, in welcher Sprache sie gelesen werden, kann sich ihre Wahrnehmung verändern.

Ob es tatsächlich einen Unterschied macht, ob ein Deutscher das Wort „Angst“ vor Augen hat oder ein Engländer über „Fear“ nachdenkt, das untersuchen derzeit Wissenschaftler des Projekts „Mehrsprachigkeit und emotionale Effekte beim Lesen in unterschiedlichen Sprachen“.

Unter der Leitung des Psychologen und Neurowissenschaftlers Dr. Markus Conrad arbeitet ein interdisziplinäres Team seit zwei Jahren daran, den Gefühlen beim Lesen auf die Spur zu kommen – und herauszufinden, welchen Einfluss die Sprache darauf hat. Fragen, die Conrad schon als Studenten beschäftigten. Damals verbrachte er einige Zeit im Ausland und lernte Französisch und Spanisch. „Ich fand es spannend, dass man über die Sprache nicht nur den Umgang mit einem akademischen Werkzeug lernt, sondern dadurch auch einen ganz anderen Blick auf die Welt bekommt“, beschreibt Conrad seine Erfahrungen.

Auch die Gefühlswelt verändere sich – die eigene emotionale Reaktion und die Wahrnehmung des Gegenübers. „Mir fiel auf, dass es für mich emotional einen großen Unterschied machte, welche Sprache ich gerade spreche. Durch das Lernen dieser Sprachen hatte ich gewissermaßen eine eigene französische oder spanische Teilpersönlichkeit entwickelt.“ Ob es tatsächlich emotionale Unterschiede zwischen den Sprachen gibt und wie sie aussehen, das soll im Projekt mit den Methoden der Leseforschung neurowissenschaftlich untersucht werden.

Wie misst man den emotionalen Wie misst man den emotionalen Gehalt von Wörtern?

Doch wie lässt sich der emotionale Gehalt von Worten wie „Schweigen“, „Hochhaus“ oder „Staubsaugerbeutel“ überhaupt messen? Keine leichte Aufgabe, wie Projektmitarbeiter Hauke Blume einräumt: „Es gibt bei Emotionen einige Probleme – zum Beispiel gibt es keine allgemeinverbindliche Unterscheidung. Wo verlaufen die Grenzen zwischen Freude, Glück und Euphorie? Davon hat jeder eine ganz eigene Vorstellung.“

In der ersten Projektphase waren Conrad und seine Mitarbeiter deshalb zunächst damit beschäftigt, eine Datenbank mit mehreren tausend Wörtern anzulegen. Die Emotionalität der Wörter wurde vor allem hinsichtlich zweier Dimensionen untersucht: zum einen hinsichtlich der Valenz, also darauf, ob das Wort etwas Positives oder Negatives bezeichnet; zum anderen in Bezug auf sein Erregungspotenzial. Dazu mussten Probanden jeweils bewerten, ob ein Wort eher eine positive oder negative Bedeutung hat, ob es eher aufregend wirkt oder beruhigend. „Ein Wort wie Massenmord oder Halsbruch zum Beispiel mag demnach etwas sehr Negatives bedeuten, das auch sehr aufregend ist. Traurigkeit dagegen wäre zwar ebenfalls negativ, aber eher wenig aufregend“, erklärt Markus Conrad. Neben besonders emotional starken Wörtern wie Liebe, Hass, Tod oder Glück sollten auch eher neutrale Wörter eingeschätzt werden – etwa Bleistift, Tisch, Lineal.

Die „Berlin affective word list“ soll wachsen

Schon vor vier Jahren hatte Markus Conrad gemeinsam mit Melissa Vo und dem Psychologie-Professor Arthur Jacobs eine etwa 2000 Wörter umfassende Liste mit solchen Einschätzungsdaten erstellt – die sogenannte Berlin affective word list. Durch den Abgleich mit ähnlichen Listen in englischer und spanischer Sprache wurden jetzt 6.000 Wörter in allen drei Sprachen für die weiteren Untersuchungen zusammengestellt. Und es sollen noch mehr werden: „Wir hoffen, dass wir durch immer umfassendere normative Datenbanken immer spezifischere Effekte emotionalen Gehalts von Wörtern untersuchen können“, sagt Markus Conrad. Mit den Wörterlisten alleine ist es jedoch noch lange nicht getan. Um herauszufinden, wie Lesen und Emotionalität zusammenhängen, nutzt die experimental-psychologische Leseforschung moderne Untersuchungsmethoden der Neurowissenschaft. Denn Lesen ist ein höchst komplexer Vorgang. Zum Beispiel bei folgendem Satz:

LESEN MACHT SPASS, AUSSER ES IST EIN LANGWEILIGER TEXT.

Beim Lesen dieses Satzes bewegt sich der Blick nicht gleichmäßig von links nach rechts über die Buchstaben, sondern er springt, bis zu drei, vier Mal pro Sekunde. Zwischen diesen Sprüngen werden die Buchstaben für einen Sekundenbruchteil fixiert. Während dieser kurzen Zeit verarbeitet das Gehirn unter anderem das, was die Augen in diesem Blickfeld gesehen haben. Selten ist das der ganze Satz, deshalb hüpft der Blick weiter, siebt einzelne wichtige Wörter heraus und lässt andere, unwichtige weg.

Sobald ein Wort fixiert wurde, etwa SPASS, wird der visuelle Reiz an das Gehirn weitergeleitet. In der Seh- Rinde werden die visuellen Informationen isoliert und zu mentalen Buchstaben zusammengefügt.

Kaum eine Sekunde, und der Leser weiß Bescheid

Innerhalb von Sekundenbruchteilen werden dann in einem Teil des Gehirns, das als „visuelles Wortform-Areal“ bezeichnet wird, die Buchstaben des Wortes zu einem neuronalen Schriftbild zusammengefügt. Es dauert keine Sekunde, bis das, was man als Leser mit dem Wort „Spaß“ oder „Langeweile“ verbindet, in das Bewusstsein gelangt – auch wenn sich die Forschung noch nicht genau einigen konnte, wie lange dieser Prozess ganz exakt dauert. Um diese komplexen Vorgänge besser zu verstehen, arbeitet die Forschergruppe vor allem mit der Elektroenzephalografie (EEG) und der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT). „Das EEG hat den Vorteil, dass man zeitlich ziemlich genau erkennen kann, wann im Gehirn etwas passiert. Das fMRT ist zwar zeitlich sehr plump, kann dafür aber neuroanatomisch sehr gut räumlich auflösen und lokalisieren“, erklärt Conrad. Um die Messungen am fMRT kümmert sich der Informatiker und Neurowissenschaftler Hauke Blume.

13 Tonnen Technologie für einen Blick ins Gehirn

Zwei Stockwerke unter dem Büro von Markus Conrad steht das Gerät, das die Bilder aus dem Gehirn überhaupt erst möglich macht. Ein Magnetresonanztomograph mit einer Leistung, die der magnetischen Flussdichte von drei Tesla entspricht. Bevor Probanden sich in dem 13-Tonnen schweren Gerät beim Lesen in den Kopf gucken lassen, müssen sie mehrere Fragebögen ausfüllen. „Benutzen Sie Make-up? Sind Sie tätowiert? Haben Sie einen Herzschrittmacher?“ Was sich vielleicht zunächst etwas absurd anhört, dient vor allem der Sicherheit. Denn das starke Magnetfeld des MRT kann auch die kleinsten Metallteile sehr stark erhitzen. Selbst dann, wenn es sich nur um metallische Zusätze in der Wimperntusche handelt.

Besonders kritisch: Tätowierungen aus Thailand

„Bei Tätowierungen muss man genau fragen, woher das Tatoo stammt“, erklärt Hauke Blume. Besonders kritisch seien solche Tätowierungen, die als Souvenir an den letzten Thailand-Urlaub erinnern: In asiatischen Ländern wurde der Tätowierungstinte in der Vergangenheit oft Metall zugesetzt,  und das könnte im Magnetfeld des MRT zu schweren Verbrennungen führen.

Sind Wolken positiv – oder negativ?

Danach geht es um die wirklich wichtigen Fragen, und die werden dem Probanden über eine spezielle Brille eingeblendet. Nacheinander erscheinen jeweils drei Begriffe in weißer Schrift auf schwarzem Grund. „Welpe – sensitiv – Ostern“ oder „Machtergreifung – Wolke – eilig“. Danach hat die Versuchsperson einige Sekunden Zeit, um zu bewerten ob diese Worte eher positiv oder negativ, eher aufregend oder beruhigend sind.

Spanier und Deutsche sind unterschiedlich emotional beim Lesen

Neunzig Minuten dauert die Lesestunde im fMRT. Die Daten speist Hauke Blume in seinen Rechner, um sie später auszuwerten – mehrere hundert Gigabyte an Daten kommen da schnell zusammen. Und das ist noch lange nicht alles: Insgesamt 40 Testpersonen nehmen an dieser Testreihe teil – im konkreten Fall deutsche Muttersprachler, aber auch Spanier, Engländer und zweisprachige Testpersonen lassen sich im Dienst der Wissenschaft beim Lesen und Fühlen untersuchen. Obwohl in dem Projekt modernste Geräte zum Einsatz kommen, sind sich die Forscher im Klaren darüber, dass das, was sie auf den Bildern und Gehirnströmen sehen, mit Vorsicht zu interpretieren ist: „Mit diesen Methoden kann man immer nur ein Mehr oder Weniger festhalten. Ein fMRT kann sagen, dass innerhalb eines Zeitraums von etwa fünfzehn Sekunden in eine bestimmte Hirnregion mehr Blut fließt als in eine andere. Die Deutung ist dann der nächste Schritt.“

Auch Forschungsergebnisse lösen Emotionen aus

Die bisherigen Daten aus einer aktuellen EEG-Studie des Projekts deuten dennoch auf recht spektakuläre Ergebnisse hin: Während spanische Probanden insbesondere auf positive Worte stärker reagierten als auf neutrale, zeigten die Hirnströme bei deutschen Probanden mehr Reaktionen, wenn es um negative Worte ging. Könnte das Klischee vom schwarzsehenden und -lesenden Deutschen vielleicht nun wissenschaftlich bestätigt werden? Auf diese Frage bleibt Markus Conrad nur ein lächelndes Schulterzucken. „Das wäre fast zu schön, um wahr zu sein.“ Wenn Versuchsergebnisse eine zu klare Sprache sprechen, bleibt Forschern beim Lesen wohl nur eine emotionale Reaktion: die Skepsis.