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Lukas und der Frosch

Wie Kinder und Jugendliche mit dem seltenen Williams-Syndrom erzählend Gefühle ausdrücken

23.11.2011

Eine Bildergeschichte ist wichtig für die Studie am Exzellenzcluster Languages of Emotion.

Eine Bildergeschichte ist wichtig für die Studie am Exzellenzcluster Languages of Emotion.
Bildquelle: schiffner / photocase.com www.photocase.de/foto/169088-stock-photo-ferne-tier-freiheit-klein-ruecken-horizont

Wenn man Lukas dabei zuschaut, wie er eine Bildergeschichte betrachtet, sieht man vor allem eines: seinen wuscheligen braunen Haarschopf. Lukas scheint in die Seiten des Buches hineinzukriechen, sein Zeigefinger folgt den Abbildungen. Doch auch wenn der 13-Jährige sichtlich Spaß hat – gemütliches Schmökern sieht anders aus. Am Esstisch im Haus seiner Eltern in der Nähe von Bonn unterzieht er sich einem wissenschaftlichen Test und wird dabei von der Patholinguistin Tanja Tagoe beobachtet. Lukas ist eines von 15 Kindern mit Williams-Syndrom, die die Wissenschaftlerin im Rahmen ihrer Doktorarbeit am Exzellenzcluster „Languages of Emotion“ (LoE) der Freien Universität Berlin untersucht.

Das Williams-Syndrom – auch Williams-Beuren-Syndrom genannt, weil es 1961 zeitgleich von den Herzspezialisten Williams und Beuren beschrieben wurde – bezeichnet einen Gendefekt, der bei 8.000 Geburten einmal vorkommt. Er ist so selten, dass Kinder- und Hausärzte auf diese Diagnose oft gar nicht kommen. Auch nach Lukas’ Geburt dauerte es ein Jahr, bis die Kardiologen in der Kinderklinik das Syndrom aufgrund seines fehlentwickelten Herzens diagnostizierten.

Die Verengung der Herzschlagader ist nur eines der körperlichen Symptome, mit denen sich Lukas und seine Eltern seitdem beschäftigen müssen. Wachstum und motorische Entwicklung sind bei Kindern und Jugendlichen mit Williams-Syndrom verlangsamt, ihre Zähne sind besonders empfindlich. Sie haben eine charakteristische Gesichtsform mit einem großen Mund, einer knubbeligen Nase und schwer wirkenden Augenlidern. Deshalb war früher in der Fachliteratur oftmals von „Elfen“ und „Kobolden“ die Rede.

Tanja Tagoe beschäftigt sich mit dem Williams-Syndrom, weil die Kinder und Jugendlichen besondere Schwächen und Stärken zeigen. Einerseits haben sie eine Lern- oder geistige Behinderung. So können sie beispielsweise nur schlecht rechnen, auch ihre räumliche Wahrnehmung ist beeinträchtigt. Andererseits können sie gut sprechen und sich ausdrücken. Kinder mit Williams- Syndrom haben einen großen Wortschatz, merken sich beispielsweise exotische Tiernamen sehr gut und beherrschen Redewendungen und Phrasen – und Small Talk: Ihre Fähigkeit, ungezwungen über dies und jenes auch mit wenig vertrauten Menschen sprechen zu können, wurde in der Forschung zum Williams- Syndrom lange als „Cocktail-Party-Sprache“ bezeichnet. Besonders auffällig ist das freundliche, aufgeschlossene Wesen der Kinder. Unbefangen gehen sie auf Fremde zu.

Lukas mag Menschen, Musik und Metallica

Auch Lukas spricht im Supermarkt oftmals Unbekannte an, erzählt seine Mutter: „Das führt manchmal zu Irritationen, weil er natürlich sofort von Metallica erzählt.“ Die Rockband ist zur Zeit Lukas‘ Leidenschaft. Mit seinem Vater war er kürzlich auf einem Metallica-Konzert in Gelsenkirchen. Schon im Kindergarten hat er Musik für sich entdeckt. Inzwischen spielt er Schlagzeug und E-Gitarre nach Gehör, denn Notenlesen kann er nicht. Die ungewöhnliche Kombination von sprachlichen Fähigkeiten, offenem Sozialverhalten und fallweiser Musikalität auf der einen Seite sowie kognitiven Defiziten auf der anderen Seite hat zahlreiche Wissenschaftler fasziniert.

Ursache des Syndroms ist ein Gendefekt

Seit gut 20 Jahren weiß man, dass das Syndrom durch den Verlust eines Abschnitts des Chromosoms 7 verursacht wird. Alle Betroffenen haben also eine fast identische genetische Abweichung. Für Wissenschaftler bietet das die einzigartige Möglichkeit zu erforschen, wie Genetik, geistige Fähigkeiten und Verhalten zusammenhängen. Wegen des großen wissenschaftlichen Interesses haben einige der Kinder, die Tanja Tagoe getestet hat, schon vorher an wissenschaftlichen Studien teilgenommen. Ein Mädchen erklärte ihr stolz nach dem Test: „Ich bin ein Profi!“

Tanja Tagoe will im Rahmen ihrer Doktorarbeit herausfinden, wie Kinder und Jugendliche von ihren Gefühlen erzählen. Betreut wird sie dabei von Gisela Klann-Delius. Die Professorin für Linguistik gehört zu den Initiatoren des Exzellenzclusters „Languages of Emotion“ der Freien Universität Berlin und leitet dessen Graduiertenschule. Tanja Tagoe entschied sich nach ihrem Studium für die interdisziplinäre Doktorandenausbildung am LoE. Bereits während ihres Studiums galt ihr besonderes Interesse dem Spracherwerb und Sprachentwicklungsstörungen – etwa solchen, die ohne andere Entwicklungsauffälligkeiten auftreten oder auch Sprachentwicklungsstörungen, etwa bei bestehenden psychiatrischen Diagnosen.

In ihrer Dissertation vertritt sie die Hypothese, dass am Williams-Syndrom Leidende eher Emotionen ausdrücken, als dass sie Gedankengänge nachvollziehen können. Und sie vermutet, dass die Betroffenen ihre Emotionen lebhafter zum Ausdruck bringen als Kinder ohne den spezifischen Gendefekt. Die Doktorandin interessiert außerdem, wie gut durch das Williams-Syndrom beeinträchtigte Kinder Gefühle anderer erkennen und nachempfinden können, also wie empathisch sie sind. Und sie interessiert, ob sie über eine sogenannte „Theory of Mind“ verfügen. Darunter wird die Fähigkeit verstanden, nachzuvollziehen, was ein anderer denkt.

Der Test: Nacherzählung einer Geschichte

Lukas nimmt zum ersten Mal an einem wissenschaftlichen Test teil. Er hat sich das Buch, das er nacherzählen soll, vorher einmal angeschaut. Wenn er die Bildergeschichte nacherzählt, die von einem Jungen handelt, der mit seinen Freunden Hund und Frosch angeln geht, fällt auf, dass er mit Ausrufen wie „Autsch!“ und „Eijeijei!“ ganz nah bei den Figuren und deren Gefühlen ist, ihre Absichten und Pläne aber nicht so gut wiedergeben kann. Zuhause liest ihm seine Mutter häufig vor, neben der Musik gefallen ihm Geschichten. Gerade haben Mutter und Sohn gemeinsam im Kinder- und Jugendtheater „Ronja Räubertochter“ von Astrid Lindgren angeschaut und vorher das Buch gelesen.

Das Buch „A boy, a dog, a frog, and a friend“ ist ein amerikanischer Kinderbuchklassiker von Mercer und Marianna Mayer aus den 1970er Jahren. Nur in Zeichnungen wird von einem Jungen, einem Hund und einem Frosch erzählt, die zusammen Angeln gehen und dabei durch allerlei dramatische Verwicklungen einen neuen Freund finden: Eine Schildkröte beißt an und zieht so fest, dass der Junge ins Wasser fällt, sie schnappt sich den Schwanz des Hundes und als der sie endlich abschütteln kann, treibt sie wie tot auf dem Wasser. Doch als der Junge ein Grab für sie aushebt, wacht sie wieder auf und die drei alten Freunde haben einen neuen Freund gefunden.

Das Buch wird in der Sprachwissenschaft schon seit einiger Zeit als Stimulus-Material in Studien verwendet. Und es eignet sich auch für die große Altersspanne der Kinder – mit und ohne Williams-Syndrom. Die Teilnehmer der Gruppe mit Gendefekt sind zwischen sieben und 17 Jahren alt, die doppelt so große Kontrollgruppe der unauffällig „entwickelten“ Kinder und Jugendlichen zwischen drei und 17. Wegen der Lernschwierigkeiten bei Kindern mit Williams-Syndrom unterscheidet Tanja Tagoe zwischen dem chronologischen und dem mentalen Lebensalter. Das mentale Lebensalter gibt den aktuellen geistigen Entwicklungsstand wieder, während mit dem chronologischen Alter das tatsächliche Alter gemeint ist, also die Jahre seit der Geburt. Beim 13-jährigen Lukas liegt das mentale Alter bei knapp sechs Jahren.

Kinder in Forschung kaum berücksichtigt

Tanja Tagoe empfindet die Arbeit mit Kindern und Heranwachsenden als besondere Herausforderung. Lange habe man bei der Untersuchung des Williams- Syndroms vor allem Erwachsene erforscht. Dieser Fokus habe zu einer eher statischen Sichtweise des menschlichen Gehirns beigetragen und andere wichtige Aspekte vernachlässigt, sagt sie: „Aber gerade der Blick auf die Entwicklungsschritte, die die Kinder zurückgelegen, hat in den vergangenen Jahren zu spannenden Erkenntnissen geführt.“ Man ging lange Zeit davon aus, dass sich Fähigkeiten und Defizite bei Kindern mit Williams-Syndrom unabhängig voneinander entwickeln, es also einerseits besondere Sprachfähigkeiten oder Musikalität und andererseits kognitive Schwierigkeiten, also Schwierigkeiten beim Rechnen oder bei der räumlichen Wahrnehmung gibt. Heute gehen die Wissenschaftler von einer stärkeren Vernetzung der Bereiche aus und auch von einer grundsätzlich anderen Sprachentwicklung als bei „genetisch unauffälligen“ Kindern.

Zurück zu Lukas. Nicht alle lösen die gestellte Aufgabe, die gezeigte Bildergeschichte nachzuerzählen, so wie er: Der 13-Jährige taucht in die Geschichte ein und erzählt sie mit viel emotionalem Engagement. „Hilfe, ich komm hier nicht mehr raus!“ ruft Lukas laut, wenn der Junge ins Wasser fällt. „Oh Mann!“

Immer wieder muss Tanja Tagoe die Kinder in ihrer Untersuchungsgruppe zur Konzentration anhalten. Denn die quirligen Kinder mit dem Williams-Syndrom schweifen gerne ab. So habe ein zehnjähriges Mädchen der Gruppe die Geschichte und die darin geschilderten Gefühle zum Anlass genommen, frei zu assoziieren, erzählt die Linguistin. Tanja Tagoe selbst bleibt in der Testsituation zurückhaltend, sie hilft allenfalls beim Umblättern einer Seite oder fragt, was als nächstes passiert.

Jede Testsituation wird gefilmt und ausgewertet. Die Nacherzählungen müssen zunächst transkribiert werden, um sie dann kodieren und statistisch erfassen zu können. Auch die Prosodie, die Sprachmelodie, soll nachträglich mit einem Computerprogramm ausgewertet werden. Bei Lukas fallen die starken Schwankungen zwischen tief und hoch seiner Stimme auf. Auch hört man die rheinische Klangfärbung heraus, mit der auch seine Mutter spricht. Seine raue, manchmal etwas kieksige Stimme ist zum Teil auf das Syndrom zurückzuführen, zum Teil auf den einsetzenden Stimmbruch.

Bundesweit nach Testpersonen gesucht

Weil das Syndrom so selten ist, musste Tanja Tagoe bundesweit nach geeigneten Testpersonen suchen. Sie hat jedes Kind zu Hause besucht. Der ungezwungene und positive Umgang der Familien mit dem Syndrom hat sie sehr beeindruckt, obwohl bis zur richtigen Diagnose oftmals lange Jahre der Ungewissheit und des Leidens verstrichen sind. Für die Doktorandin beginnt nun die Phase der Auswertung der Aufnahmen, die sie mit einem Forschungsaufenthalt in einer der führenden Arbeitsgruppen zum Williams-Syndrom – bei Annette Karmiloff-Smith am Birbeck College der University of London – verbinden will.

Der große Enthusiasmus und die interessierte, freundliche Art, mit der die am Williams-Syndrom leidenden Kinder an der Studie teilgenommen haben, hat Tanja Tagoes Blick auf diese und andere Krankheiten verändert. Die besondere Perspektive auf die Welt der Kinder und Jugendlichen mit Williams-Syndrom fasziniert sie. In Lukas‘ Familie gehört die Wahrnehmung einer anderen Perspektive schon lange zum Alltag. Lukas hat einen Blick für die „Kleinigkeiten im Alltag, die einem sonst entgehen“ – oder wie seine Mutter sagt: „Bei Lukas sind die Sinne anders geordnet.“ Er beobachte die Wolken oder das Treiben auf der Straße, wenn er auf den Schulbus wartet, er weiß, dass heute das gelbe und rote Auto vorbeigefahren sind und nicht das blaue. „Mit normalen Kindern geht man normale Wege“, sagt Lukas Mutter. „Wir gehen andere Wege. Wege, die wir ohne unser Kind nie gegangen wären.“

Inzwischen hat sie auch aufgehört, so viel wie möglich über die Krankheit zu lesen. Sie lässt die Dinge lieber auf sich zukommen. Als Lukas ein Kleinkind war, hat sie gelesen, dass Kinder mit Williams-Syndrom oftmals Locken haben. Also schnitt sie ihm die Haare so kurz wie möglich, damit man die Locken nicht sieht. „Oft bin ich gefragt worden: Woher hat er denn die Locken? Und ich konnte und wollte nicht sagen: durch das Syndrom. Als mir das klar wurde, habe ich gedacht, jetzt hörst du auf mit der Leserei.“ Inzwischen hat Lukas seinen 14. Geburtstag gefeiert, und seine Haare sind noch länger geworden – eine richtige Lockenmähne, wie es sich für einen echten Metallica-Fan gehört.