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Auf Pille zum Erfolg

Warum die Bereitschaft zum Doping wächst – im Sport, aber auch im Alltag

23.11.2011

Höher, schneller, weiter – die Erwartungen an Spitzensportler sind extrem. Aber auch unsere moderne Leistungsgesellschaft verlangt nach Superlativen und Höchstleistungen, ob beim Körperkult, in der Schule oder im Beruf. Um mitzuhalten, greifen immer mehr Menschen in den Medikamentenschrank. Dopen ist längst gesellschaftsfähig, und die Methoden werden immer ausgefeilter.

Es ist viertel nach fünf an diesem Juli-Tag in Alpes d‘Huez, als alles wieder ist wie immer bei der Tour de France: Der Australier und spätere Tour-de-France-Sieger Cadel Evans hat das Tempo angezogen und eine Lücke in das Feld der Favoriten gerissen. Die Stimmen der Fernseh-Kommentatoren überschlagen sich; Andy Schlecks Helfer, die ihn auf dem Rad begleiten, führen ihren luxemburgischen Kapitän an den Ausreißer heran. Nun schickt Titelverteidiger Alberto Contador, der in den vergangenen Tagen schwach gefahren ist, einen Helfer nach vorne. Contador blickt noch einmal zurück und sieht, wie Evans sich einreiht in die Gruppe der Favoriten und wie Andy Schleck schnauft.

Das ist der Moment, in dem Contador aus dem Sattel geht und in den Berg hineinsprintet. Schleck beißt auf die Zähne, tritt stehend in die Pedale und kommt doch nicht mehr heran an den Titelverteidiger, der sich nun ein letztes Mal umschaut und dann den Berg im Alleingang bezwingt: Der Spanier, in der Gesamtwertung schon um mehr als vier Minuten geschlagen, ist plötzlich wieder im Rennen, fliegt förmlich hinauf, fährt allen davon und fährt doch nur auf Bewährung: Im November beginnt sein Prozess vor dem Internationalen Sportgerichtshof, in dem er erklären muss, warum bei ihm in einer Dopingprobe während der Vorjahres-Tour das Asthmamittel Clenbuterol gefunden wurde.

Mit dem Geld kam auch das Doping

„Seit es Wettkampfsport gibt, gibt es Doping. Und als etwa in der Mitte des 20. Jahrhunderts mit der Einführung des Berufssportlertums mit Siegen Geld zu verdienen war, nahm auch das Doping zu“, sagt Norman Schöffel, Arzt am Institut für Arbeitsmedizin an der Charité – Universitätsmedizin Berlin, der gemeinsamen Einrichtung der Humboldt-Universität zu Berlin und der Freien Universität Berlin.

Der Mediziner untersucht in einer Forschungsgruppe Doping im Sport und analysiert Strategien der Doping- Prävention. Wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem den Körper anregende Stoffe, so genannte Stimulanzien wie etwa Strychnin, Kokain und später Anabolika eingesetzt, so sind es seit Ende der 1980er Jahre vor allem Blutdoping-Mittel. Dabei werden dem Sportler Blutkonserven verabreicht, die erhöhte Konzentrationen von roten Blutkörperchen enthalten, die wiederum die Sauerstoffaufnahme des Blutes verbessern. „Bei Ausdauersportarten lässt sich die Leistung durch diese Substanzen besonders einfach steigern“, sagt Schöffel: „Der Radsport ist dafür exemplarisch.“

So ist auch Alberto Contador der letzte in einer langen Reihe von Tour-Siegern, die sich in den vergangenen Jahren Doping-Anschuldigungen ausgesetzt sahen: Jan Ullrich, Lance Armstrong und Marco Pantani leugneten zwar den Missbrauch ebenso wie Floyd Landis; nachdem diesem aber der Sieg 2006 aberkannt wurde, weil er sich mit Testosteron fit gemacht hatte für einen Angriff in den Alpen, hat Landis mittlerweile den Doping- Missbrauch ebenso zugegeben wie Bjarne Riis, der 1996 die Tour gewann – vollgepumpt mit Wachstumshormonen und künstlich hergestelltem Erythropoietin, kurz Epo, das die Anzahl der roten Blutkörperchen erhöht.

Doping ist ein Zeitproblem – für die Kontrolleure

Doch trotz einiger Erfolge: Der Kampf gegen das Doping ist beschwerlich. „Labortechnisch ist das größte Problem, dass sich viele Substanzen nur kurz im Blut oder Urin des Sportlers nachweisen lassen“, sagt Schöffel. „Die Sportler wissen also genau, wie viel Zeit ihnen vor einem Wettkampf bleibt, um mit Medikamenten die eigene Leistung zu steigern.“ Und wenn sie sich im Trainingslager dopen, auf Teneriffa oder in Südafrika, fernab der nationalen Doping-Agenturen, ist die Gefahr besonders gering, erwischt zu werden, denn die Sportverbände müssen die Dopingkontrollen selbst bezahlen und Reisekosten schmälern das Budget. Zudem werden von der Pharma-Industrie immer wieder neue Medikamente entwickelt, deren Missbrauch dann jeweils eigene Tests zur Nachweisbarkeit erfordert. „In den Laboren der Antidoping- Agenturen stellt sich oft die Frage, was getestet werden soll, denn sämtliche Substanzen zu überprüfen, wäre zu zeitaufwändig und kostenintensiv – und es wird nicht in allen Sportarten auf die gleichen Substanzen getestet, und nicht jedes Dopingmittel ist in allen Sportarten sinnvoll.“

Sportler wissen, welches Mittel nachgewiesen werden kann

Dabei sind die Sportler den Kontrolleuren oft einen Schritt voraus. Sie wissen genau, welche Medikamente sich nachweisen lassen und für welche Mittel noch kein anerkannter Test entwickelt wurde. „Und wenn die Kontrolleure ausnahmsweise schneller sind als die Sportler, haben diese meist schon eine Ausrede parat“, sagt der Mediziner.

Zum Beispiel Contador: Das Asthmamittel Clenbuterol, das man ihm bei der Probe 2010 nachweisen konnte, wird auch in der Kälbermast eingesetzt. Was also liegt näher, als den Zwischenfall mit einem verunreinigten Steak zu begründen? Eine geschickte Verteidigungsstrategie des dreifachen Tour-Siegers, die ihm beim spanischen Radsportverband einen Freispruch einbrachte, gegen den der Weltverband allerdings Berufung einlegte.

Die Rechtswirksamkeit von Dopingproben durchzusetzen, ist eines der größten Probleme im Kampf für einen sauberen Sport: Oft sind es nur Indizien, die die Sportler belasten. Es fehlen internationale Standards: Zwar erkennen die meisten Nationen den Kodex der Welt-Antidoping-Agentur WADA an, doch seine Durchsetzung und die Kontrolle der Athleten bleibt größtenteils in der Hand der nationalen olympischen Verbände. „Weil man dort aber gleichzeitig das saubere Image des Sports wahren möchte, liegt es nicht in deren Interesse, dass Doping-Missbrauchsfälle öffentlich werden“, sagt Schöffel.

Die Folge: Die nationalen Doping-Agenturen sind oft finanziell nicht ausreichend ausgestattet, das Netz von Laboren und Kontrollstützpunkten ist nicht engmaschig genug und vor allen Dingen fehlen unabhängige, grenzüberschreitend arbeitende Einrichtungen. „Es wäre sinnvoll“, sagt Schöffel, „wenn die Startberechtigung bei internationalen Wettkämpfen an den Nachweis von unabhängig kontrollierten Trainingsproben gebunden würde und die Standards internationalisiert würden.“ In der Praxis werde das eigentlich so gehandhabt, trotzdem sind, etwa aus Geldmangel, unterschiedliche nationale Auslegung dieser Standards möglich: Jamaikanische Athleten werden deswegen weit weniger kontrolliert als zum Beispiel deutsche.

Bleibt das Problem, dass viele Substanzen lediglich kurz oder sogar nur indirekt nachweisbar sind. „Die Lösung könnte ein Blut-Pass für die Profi-Sportler sein“, sagt Psychologin Karin Vitzthum, die zusammen mit Stefanie Mache die Forschungsgruppe zur Gesundheitsförderung am Campus Benjamin Franklin leitet. Die Gruppe forscht neben den Sportaspekten auch zur Arbeitsbelastung bei Ärzten, zur Tabakabhängigkeit oder zu Fragen rund um Frauen in Männerberufen. „Der sogenannte Blut-Pass ist das Herzstück eines an der Universität Bayreuth entwickelten Kontrollverfahrens. Dabei werden das Gesamtblutvolumen und der für den Ausdauersport so wichtige Hämoglobinwert regelmäßig und lückenlos gespeichert, sagt Karin Vitzthum. Das Testverfahren misst die Parameter der Ausatemluft und kann relativ einfach durchgeführt werden.

Viele Substanzen lassen sich nur kurz nachweisen

Ein ähnliches Verfahren allerdings wurde Claudia Pechstein zum Verhängnis: Im Februar 2009 sperrte die Internationale Eislauf-Union die Sportlerin für zwei Jahre, nachdem eine Reihe ihrer Blutproben einen ungewöhnlich hohen Anteil junger roter Blutkörperchen aufgewiesen hatte. Es war ein Präzedenzfall: Das erste Mal, dass ein Athlet ohne positiven Befund nur aufgrund des Blutprofils gesperrt wurde. Ein Jahr später allerdings bescheinigten die Mediziner der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie der Eisschnellläuferin eine vererbte Blut-Anomalie: wissenschaftlich war ihre Sperre nicht haltbar – Claudia Pechstein ein Opfer des Antidoping-Kampfes.

Seitdem ist der indirekte Doping-Nachweis zwar verbessert worden: Sperren aufgrund einzelner Werte sind nicht mehr möglich; auffällige Befunde müssen anonymisiert durch drei unabhängige Fachleute begutachtet werden, und spezifische Besonderheiten des Athleten sind zu berücksichtigen. Dennoch wirft der Fall Pechstein im Kampf gegen das Doping neue Fragen auf: Was, wenn in Zukunft Sportler nicht mehr mit Medikamenten dopen, sondern ihr Erbgut manipulieren, ihren Körper also über die Gene dopen, statt Pillen zu schlucken und Mittel zu spritzen?

„Die Forschung arbeitet längst an Verfahren, Gene so zu verändern, dass sie bei der Heilung von Krankheiten helfen können“, sagt Niklas Pleger, Arzt im Praktikum, der am Institut für Arbeitsmedizin diese neue Gefahr für den Leistungssport erforscht.

Gendoping als neuer Horror für die Kontrolleure

Dabei gibt es verschiedene Ansatzpunkte für die Athleten, ihre Leistungsfähigkeit mittels Gendoping zu steigern: Das Blutbild könnte verändert werden, die Erholungszeiten für die Muskeln verkürzt und ihre Leistung erhöht werden. Gelänge es beispielsweise, das für die Produktion von Epo zuständige Gen zu manipulieren, wäre ein Nachweis der Manipulation mit konventionellen Methoden nicht mehr möglich. Denn sie basieren darauf, eine verbotene Substanz oder deren Stoffwechselprodukte nachzuweisen. Deshalb ist sich Pleger sicher: „Die Weiterentwicklung der Kontrollen muss sich in Zukunft stärker auf die Wirkung der verabreichten Mittel konzentrieren und nicht mehr so sehr auf die Substanzen, mit denen die Manipulation ausgelöst wird.“

In Tierversuchen wird das Implantieren von Genen zur Krankheitsbekämpfung längst getestet, an Nachweismethoden für einen möglichen Missbrauch ist in diesem frühen Stadium allerdings kaum zu denken. „Bis die ersten Fälle von Gendoping im Sport auftauchen, werden sicher noch zehn oder 20 Jahre vergehen“, sagt Pleger, den dieses Ergebnis seiner Forschungen allerdings kaum beruhigt, denn technisch ist es bereits möglich, manipulierte Gene in den Körper einzuschleusen.

Zwar fehlt bislang der durchschlagende Erfolg beim Versuch, durch einen erblichen Defekt hervorgerufene Krankheiten zu heilen, indem man ein gesundes Gen implantiert. Aber den Einbau von Genen zur Leistungssteigerung halten Forscher für vergleichsweise einfach. Affen wurde im Versuch bereits ein Epo-Gen eingebaut: Die Zahl der roten Blutkörperchen stieg danach derart an, dass sie zusätzlich mit Medikamenten behandelt werden mussten, um das Blut, angedickt durch EPO, dünnflüssig zu halten.

Gendoping mithilfe einer Hautcreme

Mittlerweile gibt es erste Versuche, die eingebauten Gene von außen zu steuern: Bei Mäusen gelang dies mit Hilfe einer Hautcreme, die die manipulierten Epo-Gene im Körper an- und ausschalten kann. Dass sich Athleten finden werden, die solche Verfahren ausprobieren, obwohl ihre Wirkungen noch nicht ausreichend erforscht sind, glaubt auch Niklas Pleger. „Die Vergangenheit zeigt, dass einige Menschen bereit sind, extreme gesundheitliche Risiken in Kauf zu nehmen, um ihre Leistung zu steigern und damit sportliche Erfolge zu erzielen.“

Doch nicht nur im Profisport steigt die Bereitschaft, um der Leistung willen Medikamente einzunehmen. „Die Optimierung des Körpers um jeden Preis ist besonders im nordamerikanischen Kulturraum viel stärker geduldet als zum Beispiel in Deutschland“, sagt Doktorand Patrick Eickenhorst, der ebenfalls zum Team um Stefanie Maches und Karin Vitzthums gehört. Schon Collegesportler nehmen Aspirin ein, um Schmerzen zu unterdrücken, mit Entwässerungstabletten und Wachstumshormonen versuchen sie, dem Körperideal näherzukommen. Viele Medikamente, die in Deutschland verschreibungspflichtig sind, kann man in amerikanischen Drogerien uneingeschränkt kaufen.

„Brain Booster“ und „Smart Drugs“ fürs Studium

Die Pharmaindustrie in den USA wirbt mit „Brain Boosters“ und „Smart Drugs“. „Studien zeigen, dass bereits 20 bis 30 Prozent aller amerikanischen Studierenden Kontakt zu leistungssteigernden Substanzen hatten“, sagt Eickenhorst. Dabei verschwimmen die Grenzen: Der Eiweiß-Shake zum Muskelaufbau oder als Schlankheitskur ist gesellschaftlich anerkannt, Kreatin soll die Arbeit der Muskeln unterstützen und gilt in Kapseln als Nahrungsergänzung. In einschlägigen Internetforen diskutieren Hobbysportler jedoch auch hierzulande, ob es sinnvoll ist, sich diesen Stoff direkt in die Muskeln zu spritzen. „Es gibt dort ein gefährliches Insiderwissen, das oft auf Halbwahrheiten beruht“, sagt Eickenhorst, „die Bereitschaft zu experimentieren ist hoch.“

Längst hat sich die Bereitschaft zum Dopen auch auf die Arbeitswelt ausgedehnt – in Büros, an Universitäten oder im Außendienst, in den USA ebenso wie in Europa. Eine Studie der Deutschen-Angestellten-Krankenkasse von 2008 belegt, dass 40 Prozent der hiesigen Bevölkerung der Meinung sind, dass sich die Leistungsfähigkeit eines gesunden Menschen durch Medikamente steigern lässt.

Sind es im Sport konkrete Leistungsparameter, die man mit bestimmten Medikamenten zu beeinflussen sucht, zielt das alltägliche Doping am Arbeitsplatz auf eine allgemeine Leistungssteigerung insbesondere des Gehirns ab. „Die mentalen Anforderungen im Berufsleben sind gestiegen und die Arbeitnehmer suchen nach Mitteln und Wegen, ihre Leistung zu steigern“, sagt Karin Vitzthum. „Auch in akademischen Kreisen ist der Griff zum Helfer aus der Apotheke weit verbreitet.“

War es früher der Morgenkaffee, der Studierende von ihrer Müdigkeit erlösen und antreiben sollte, greift der eine oder andere Akademiker am Abend nicht selten zu Energydrink und Koffeintablette, wenn ihn mal wieder die Müdigkeit überkommt – und er an seinem Computer sitzt und die Nacht durchgearbeitet werden muss, um ein Projekt rechtzeitig fertigzustellen. Vor wichtigen Klausuren wird die Konzentration teilweise mit Ritalin gesteigert, das eigentlich entwickelt wurde, um hyperaktive Kinder mit ADHS-Syndrom zu behandeln.

Pharmaindustrie nutzt das Image von Naturstoffen

In Deutschland sind dabei vor allem Naturstoffe beliebt. Das „pflanzliche Präparat“, das auf der Verpackung angepriesen wird, sei aber nicht mehr als ein Euphemismus: „Die Pharma-Industrie spielt bewusst mit dem Image der Naturheilkunde, denn Baldrian wird weniger Nebenwirkungen unterstellt“, sagt Vitzthum. Dass es sich bei den meisten Mitteln jedoch um hoch konzentrierte Wirkstoffe handle, werde verdrängt.

Dabei ist das psychologische Muster beim Radsportler dasselbe wie beim Doktoranden: Die Außenwelt verlangt Leistung, die den Einzelnen an seine Grenzen und darüber hinaus führt – eine Hilfe, die den schnellen Erfolg verspricht und ihre Langzeitwirkung verschweigt, ist dann oft eine willkommene Versuchung.

Alberto Contador kann in Alpes d‘Huez das Tempo an diesem Tag nicht halten. Zwar rettet er einen kleinen Vorsprung von 34 Sekunden über die Ziellinie, doch für eine Titelverteidigung ist der Rückstand noch immer zu groß. Es ist nun doch nicht so, wie es immer war bei den letzten drei Ausgaben der Tour de France:Alberto Contadors Körper ist diesmal ganz menschlich. Ob er nun gedopt hat oder nicht.