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Der Punk des Denkens

Rainald Goetz ist Gastprofessor in Dahlem.

25.06.2012

Rainald Goetz ist Träger der Heiner-Müller-Gastprofessur.

Rainald Goetz ist Träger der Heiner-Müller-Gastprofessur.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Lakonisch einsteigen. Am besten subtextfrei. Nicht verschwurbelt schreiben und bloß nicht Goethe oder Schiller imitieren. Rainald Goetz hat sich während der Literaturwerkstatt, die Teil der Heiner-Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik an der Freien Universität Berlin ist, lange geweigert, einen konkreten Begriff von Literatur abzuliefern. Doch irgendwann platzt der Knoten, und der Schriftsteller lässt sich zu ein paar griffigen Formulierungen hinreißen, die dabei helfen können, gute Literatur von schlechter zu unterscheiden.

Als Vorbereitung sollten die 30 Studierenden der Berliner Universitäten, die an das Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft gekommen sind, um das Schreiben zu üben, einen für die Literaturwerkstatt eigens produzierten Text vortragen.

Er sollte davon handeln, wie ein Schriftsteller einen anderen Schriftsteller im Kleidergeschäft trifft. Subtextfrei und ohne Ironie. Keine leichte Aufgabe. Nachdem die Studierenden bei der ersten von insgesamt vier Sitzungen der Literaturwerkstatt ihre Texte präsentiert haben, folgt eine intensive Diskussion über das Wesen von Literatur: „Was ist eigentlich Subtextfreiheit?“, fragt ein Student. Rainald Goetz beantwortet die Frage auf Umwegen, indem er eine kurze Erzählung von Maxim Biller vorliest, die in der Wochenzeitung „Die Zeit“ erschien und in der geschildert wird, wie Biller in einer Kleiderboutique zufällig dem Autor Christian Kracht begegnet.

Die Sätze, die Rainald Goetz vorträgt, klingen simpel konstruiert, fast metaphernfrei – und doch schimmert zwischen den Beobachtungen und lakonischen Eindrücken eine Art Rätselhaftigkeit hindurch, die jeder Zuhörer für sich selbst entschlüsseln muss. Derweil wird Goetz immer euphorischer. „Literatur muss einen neuen Welterfassungsertrag leisten“, sagt der 1954 in München geborene Autor. Genau das hat der diesjährige Heiner-Müller-Gastprofessor bei seiner Antrittsvorlesung verlangt: Texte müssten die Augen öffnen für die Welt, sich vor dem Banalen, dem Trivialen und dem Reproduzierten schützen.

Auch seine Schüler, die jetzt ein paar Tage nach der Vorlesung den Ausführungen des Autors folgen, sollen begreifen, dass eine Zeit angebrochen sei, in der massenhaft Banales und wenig Substanzreiches durch die Kanäle geschickt werde. Ein guter Autor jedoch müsse das Banale strikt meiden, sagt Goetz, der im März den mit 30 000 Euro dotierten Berliner Literaturpreis der Stiftung Preußische Seehandlung erhielt – und damit den Lehrauftrag zur Heiner-Müller-Gastprofessur.

Um das literarische Schreiben zu lernen, sei Lesen die beste Übung, fügt der zweifache Doktor der Medizin und Geschichte hinzu. Nur durch das Lesen von guter Literatur könne ein Schreiber zum Autor werden. Deswegen lehnte Goetz gleich zu Beginn seiner Lehrtätigkeit an der Freien Universität den Begriff der Literaturwerkstatt ab, mit der Begründung, dieser impliziere eine Handwerklichkeit, die bei der Erschaffung von Kunst nur hinderlich sei. Deshalb auch bekamen die Studierenden vor Beginn die Aufgabe gestellt, einen Text mitzubringen, der sie in den letzten Wochen beschäftigt oder ergriffen hat: Die besten würden im Kleinen das Große suchen.

Goetz selbst ist als Provokateur bekannt: Für Aufmerksamkeit sorgte er erstmals beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1983, als er sich beim Lesen eines Texts mit einer Rasierklinge die Stirn aufschnitt. Das Blut tropfte vom Gesicht auf das Manuskript, während der Jury-Vorsitzende Marcel Reich-Ranicki mit einem Aufschrei reagierte: „Skandal!“ Goetz gewann zwar den Preis nicht, ging aber in die Literaturgeschichte ein. Von dieser Unangepasstheit können die Studierenden jetzt lernen.