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Der Glaube an die Politik

Soziologieprofessor Harald Wenzel erklärt, welchen Einfluss das religiöse Weltbild der Amerikaner auf die US-Präsidentschaftswahlen am 6. November hat.

16.10.2012

Demonstrieren für Gott: Der religiöse Fundamentalismus in den Vereinigten Staaten wächst nach Meinung des Soziologen Harald Wenzel.

Demonstrieren für Gott: Der religiöse Fundamentalismus in den Vereinigten Staaten wächst nach Meinung des Soziologen Harald Wenzel.
Bildquelle: Katharina Eglau

Nach dem Ende des Kalten Krieges gingen führende Politikwissenschaftler davon aus, dass im 21. Jahrhundert ein neues postideologisches Zeitalter anbrechen würde; ein Zeitalter, in dem religiöse Dogmen und kulturelle Konflikte keine Rolle mehr spielten. Die Anschläge vom 11. September 2001 haben gezeigt, dass dies ein Irrglaube war. Nicht nur in Bezug auf das Verhältnis zwischen arabischer und westlicher Welt, sondern auch auf regionaler Ebene wird der Dialog der Religionen das globale Kräfteverhältnis entscheidend beeinflussen. Besondere Impulse wird der Ausgang der bevorstehenden Präsidentschaftswahl in den USA geben. Die Welt blickt mit Spannung auf die Entscheidung, die Anfang November fallen wird.

Wird Obama die Wahl gewinnen, oder setzt sich die republikanische Rechte durch – mit dem Ziel, erneut ein kämpferisches Zeitalter im Verhältnis zwischen westlichem Christentum und arabischem Islam zu verkünden?

Harald Wenzel, Soziologieprofessor am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin, beobachtet die Entwicklung in den Vereinigten Staaten genau. Er stellt fest, dass insbesondere bei der amerikanischen Rechten, aber auch in Amerika insgesamt eine Polarisierung zu beobachten sei, die liberale und religiöse Amerikaner immer weiter voneinander entferne.

Wenzel beschäftigt sich mit dem Einfluss der Evangelikalen auf die amerikanische Politik und die Republikaner: „Evangelikale sind Gläubige, die sich mehrheitlich in einem Endzeitszenario wähnen und die die Wiederkehr Christi erwarten“, sagt er. „Sie glauben, dass diese Endzeit durch das Eintreten von besonderen Ereignissen angekündigt wird: vom Auftauchen eines Antichristen, von Naturkatastrophen, von einer schleichenden Degeneration in der Bevölkerung. Diese Vorstellungen prägen die Weltsicht der Evangelikalen und beeinflussen ihre Wahl eines Präsidentschaftskandidaten.“

Etwa 35 Millionen Amerikaner gehören dem evangelikalen Wählerblock an – und genau diese Gruppe hat den zweiten Wahlsieg von George W. Bush im Jahr 2005 ermöglicht und für eine relativ komfortable Mehrheit gegenüber dem demokratischen Herausforderer John Kerry gesorgt. Für die Evangelikalen sind die Amerikaner das erwählte Volk und die USA das gelobte Land, das mit Gott einen besonderen Bund geschlossen hat – die Exodus-Geschichte ist die religiöse Grundlage des amerikanischen Exzeptionalismus. „Den meisten Europäern ist eine solche religiöse Fundierung der Politik fremd“, sagt Harald Wenzel. „Für viele Amerikaner hingegen gibt das religiöse Weltbild den Ausschlag für ihre Wahlentscheidungen.“

Dieses Jahr wird also viel davon abhängen, ob der republikanische Kandidat den Wählerblock der Evangelikalen für sich gewinnen kann – oder ob sehr viele evangelikale Wähler am Wahltag zu Hause bleiben, weil sie Zweifel an der religiösen Orientierung des republikanischen Kandidaten haben. Eben Letzteres sei ein sehr wahrscheinliches Szenario, denn schon jetzt sei zu beobachten, sagt Wenzel, dass die verschiedenen religionsspezifischen Unterschiede die Republikaner nachhaltig hemmen.

Die vertrackte Suche nach einem geeigneten Kandidaten sei das beste Beispiel gewesen: „Newt Gingrich ist zu oft verheiratet gewesen, deswegen war er als Kandidat beschädigt. Der Katholik Rick Santorum ist zwar tiefreligiös, doch für die gemäßigten Rechten war er zu radikal. Insofern blieb nur Mitt Romney übrig, der konturloseste aller Kandidaten, der wenig Angriffsfläche bietet, das große Geld hinter sich hat und sich deshalb als Kompromisskandidat der verschiedenen Strömungen in der Republikanischen Partei durchsetzen konnte.“

Wenzel gibt jedoch zu bedenken, dass Mitt Romney gegen Obama nur geringe Chancen haben werde. „Die beiden ähneln sich zu sehr. Das ist aber nur das kleinste Problem. Der wahre Grund für Mitt Romneys schlechte Aussichten ist seine Konfession: Romney ist Mormone – für die meisten Evangelikalen ein untragbarer Glaube.“ Diese Religion impliziere Annahmen, die für Evangelikale nur schwer zu akzeptieren seien: Gott sei nur für diese eine Erde zuständig, Jesus Christus habe Amerika besucht, Bischöfe könnten in den Status von Göttern aufsteigen und schließlich: Es existiere ein fünftes Evangelium, das Buch Mormon.

Dazu komme die Polygamie, die zwar offiziell abgeschafft wurde, der aber immer noch ein schlechtes Image anhaftet. „Außerdem glauben die Mormonen, dass man Tote taufen kann. Das geht den meisten Evangelikalen zu weit. Viele halten die Mormonen für Häretiker – für noch schlimmer als Atheisten und Agnostiker“, sagt Wenzel. „Ich bin mir sicher: Mitt Romney ist nicht der Kandidat, mit dem die republikanische Partei die Wahlen gewinnen kann – sofern Obama in seiner Amtsführung oder im Wahlkampf nicht noch schwere Fehler unterlaufen.“

Und was ist mit Barack Obama? Wie würde seine Wiederwahl den interreligiösen Austausch beeinflussen? Könnte eine neue Legislaturperiode ihm die erforderliche Kraft geben, um eine Veränderung im Dialog der Kulturen anzustoßen? Wenn Barack Obama sich durchsetzen sollte, prognostiziert Wenzel, werde es zwar zu einem vergleichsweise entspannten Verhältnis zwischen den Weltreligionen und insbesondere zum Islam kommen, innenpolitisch könnte sich der Demokrat jedoch erneut mit einer polarisierten Rechten konfrontiert sehen, die, falls sie wieder die Mehrheit im Repräsentantenhaus gewönne, alle Reformprozesse zu blockieren wüsste. „In solch einem Fall würde sich Amerika in zentralen Debatten wie schon in der vergangenen Amtsperiode selbst im Wege stehen. Das wäre fatal.“

In der Beziehung zwischen westlicher und arabischer Welt kommt als entscheidender Faktor auch die Iran-Frage hinzu. Ist eine grundlegende Verständigung möglich – oder wird es zu einem kriegerischen Konflikt kommen? „Ich halte einen unprovozierten amerikanischen Angriff für unwahrscheinlich“, sagt Wenzel. Die großen Pulverfässer befänden sich ohnehin anderswo: in Pakistan und Afghanistan zum Beispiel, wo eine Radikalisierung der Bevölkerung zu beobachten sei, und in den arabischen Ländern, die einen komplizierten Reformweg eingeschlagen hätten und momentan einer ungewissen und riskanten Zukunft entgegensteuerten.