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Viel mehr als ein Platz zum Wohnen

Feiern, Fluchthilfe und ein Mord: Die Dramatik eines Dorflebens

17.10.2012

Zwei syrische Studenten genießen das Frühstück mit ihrer deutschen Mitbewohnerin.

Zwei syrische Studenten genießen das Frühstück mit ihrer deutschen Mitbewohnerin.
Bildquelle: USIS 1959, Sammlung Alliiertenmuseum Berlin

Es ist ein Ort, an dem Berliner Studentengeschichte geschrieben wurde. Hier wurden DDR-Flüchtlinge versteckt, gesellschaftliche Tabus gebrochen und ein Mord verübt. Das Studentendorf Schlachtensee, im Nachkriegsdeutschland mit Unterstützung der amerikanischen Regierung gegründet, ist ein einzigartiges Beispiel für studentische Initiative und Mitbestimmung. In diesem Jahr feiert das Wohnheim Jubiläum: 50 Jahre demokratisches Leben im Dorf.

1952 sah man Berlin die Folgen des Zweiten Weltkrieges noch deutlich an. Viele Häuser waren noch nicht wiederaufgebaut. Wohnungen entsprechend knapp, auch für die 20.000 Studierenden in Berlin.

Der Allgemeine Studentenausschuss (AStA) der noch jungen Freien Universität beschloss, in der zerstörten Stadt ein Studentendorf zu errichten. Darin sollten 500 Studierende Platz finden. Die Regierung der Vereinigten Staaten, die schon den Aufbau der Universität unterstützt hatte, stiftete 7,5 Millionen D-Mark für das neue Wohnheim.

Es sollte mehr als ein studentisches Zuhause bieten. Hier sollten die jungen Frauen und Männer Demokratie lernen und leben – als Teil des „Reeducation-Programms“ der Amerikaner nach der Zeit des Nationalsozialismus. Eleanor Lansing Dulles, von 1952 bis 1959 Leiterin des Berlin-Büros des amerikanischen Außenministeriums und federführende Initiatorin des Wohnheimprojektes, legte am 10. Oktober 1957 gemeinsam mit dem damaligen Regierenden Bürgermeister Willy Brandt den Grundstein für das Studentendorf Schlachtensee.

Der Allgemeine Studentenausschuss der Freien Universität hatte das Projekt nach Kräften unterstützt. Er arbeitete mit den Berliner Architekten Daniel Gogel, Hermann Fehling und Peter Pfankuch zusammen und sammelte Geld für den Erwerb des Grundstücks: Auf alle studentischen Veranstaltungen wurde ein „Studentendorf-Groschen“ erhoben. Am 1. November 1959 war es dann soweit: Die Habseligkeiten auf Mopeds und Handwagen geschnallt oder schlicht in einem Bettlaken verknotet, bezogen die Studierenden ihre „Studentenbuden“.

Geleitet wurde das Dorf zunächst von einem „Akademischen Direktor“, dann wurde im Sinne der Demokratie-Erziehung zusätzlich ein „Bürgermeister“ benannt, den der sogenannte Dorfrat wählte. Wer im Dorfrat saß, bestimmten wiederum die Hausdelegierten. Doch die Basisdemokratie funktionierte nur auf dem Papier: Das Gemeinschaftsgefühl der Dorfbewohner war nicht sehr ausgeprägt, da viele Studierende einfach nur in Ruhe in Schlachtensee wohnen und sich außerhalb der eigenen vier Wände nicht engagieren wollten. Auch an den anfangs von den Amerikanern initiierten und finanzierten kulturpolitischen Arbeitsgruppen, in denen demokratische Bildung vermittelt werden sollte, wollte sich kaum ein Bewohner beteiligen. So urteilte Eleanor Lansing Dulles schließlich nach einem Besuch in Schlachtensee im Jahr 1961, dass das Vorhaben „Reeducation“ gescheitert sei: Die Bewohner des Studentendorfes hatten sich nicht wie erwünscht zu einer demokratischen Elite entwickelt, sondern waren ganz normale junge Menschen geblieben, mit gewöhnlichen Alltagssorgen.

 


Jubiläumsfeier

Das Studentendorf feiert 50 Jahre studentisches Leben. Alle ehemaligen Dorfbewohner sind eingeladen, am 24. November 2012 dabei zu sein. Gäste und Besucher erwarten eine Ausstellung und thematische Führungen über das Gelände, abends eine große Gala, bei der es Gelegenheit gibt, viele Geschichten aus 50 Jahren Studentendorf zu hören oder vorzutragen. Übernachtungen im Gästehaus des Dorfes sind möglich, Reservierung bitte per E-Mail an hostel@studentendorf-berlin.com. Um Anmeldung für die Jubiläumsfeier wird bis 16. November gebeten, per E-Mail an florian.hessler@studentendorf-berlin.com.  

 

Jens-Uwe Köhler vom heutigen Vorstand der Genossenschaft des Studentendorfes ist nicht ganz so streng: Demokratie und Toleranz im Umgang mit anderen Nationalitäten hätten die Bewohner erlernt, sagt er. Denn der Stiftungsrat verlangte damals eine international zusammengesetzte Dorfgemeinschaft aus 40 Prozent Westdeutschen und West-Berlinern, 40 Prozent Ostdeutschen und 20 Prozent Ausländern. Außerdem musste ein Drittel der Bewohner weiblich sein.

Das idyllisch gelegene Studentendorf war aber auch Schauplatz dramatischer Szenen: Im Herbst 1962 wurde ein 36-jähriger Medizinstudent tot in seinem Zimmer aufgefunden – erdrosselt mit einem Schlips. Schuld war die sogenannte Krawattenmörderin. Die Geschichte liest sich wie ein Krimi: Ursula E., jung, verheiratet und Mutter einer kleinen Tochter, ist mit ihrem Ehemann auf Kneipentour in Schöneberg. Als beide wieder zu Hause sind, bricht sie noch einmal auf, um Zigaretten zu holen. Was danach passiert, lässt sich nur rekonstruieren: In der Kneipe trifft die junge Frau den Medizinstudenten Klaus W. Die 28-Jährige scheint Gefallen an ihm gefunden zu haben und folgt ihm auf sein Zimmer im Studentendorf. Zwei Stunden später beobachtet ein Kommilitone, wie die Frau aus dem Fenster klettert und schreit: „Ich habe ihn getötet!“ Ein Taxifahrer bringt Ursula E., deren Körper von Blutergüssen und Prellungen übersät ist, zur nächsten Polizeiwache. Weil sie unter starkem Alkoholeinfluss steht, kann sie erst am nächsten Tag verhört werden. Es sei Notwehr gewesen, erklärt sie den Beamten.

Auch im darauffolgenden Jahr blieb es aufregend. Der neue Akademische Direktor Hellmuth Bütow musste sich 1963 um ein hochpolitisches Problem kümmern: Unter den „Dörflern“ und „Dörflerinnen“ waren Fluchthelfer. Seit dem Mauerbau im Sommer 1961 hatten die Studentenbuden während der Sommerferien immer wieder als Unterkunft für Flüchtlinge aus der DDR gedient. Als ein Fluchthelfer 1963 einen Flüchtling mithilfe eines Reisepasses, den er seinem Mitbewohner entwendet hatte, über die Grenze schleuste und den Bestohlenen auf diese Weise den Verhören des Staatssicherheitsdienstes aussetzte, geriet die Sache außer Kontrolle. Der damalige Rektor der Freien Universität, Professor Ernst Heinitz, drohte dem heute prominenten Organisator der studentischen Fluchthilfe, Burkhart Veigel, mit dem sofortigen Rauswurf aus dem Studentendorf. Die Entscheidung des Rektors zog eine Welle der Empörung nach sich. An das Universitätsgebäude wurden Hetzparolen gesprüht, Heinitz erhielt anonyme Telefondrohungen und musste im gepanzerten Polizeiwagen ins Büro gefahren werden. Schließlich griff der Berliner Senat schlichtend ein.

Nach dem Mord an Benno Ohnesorg bei einer Demonstration im Juni 1967 gründeten Bewohner des Studentendorfes im Wintersemester 1967/68 die „Kritische Universität“. Abends wurde das Wohnheim zum Schauplatz politischer Diskussionen, es wurden Protestaktionen und Demonstrationen geplant. „Keiner konnte sich diesem Einfluss entziehen, alle nahmen Anteil an einer Bewegung, die so plötzlich akut war, die über Nacht über uns alle hereingebrochen war“, beschreibt ein Student in der Jubiläumsschrift zum 20-jährigen Bestehen des Studentendorfes die damalige Stimmung. Und der kritische Protest hielt an.

1968 erreichte die sexuelle Revolution Deutschland, und die Bewohner des Studentendorfes empfanden die Trennung in „Herrenhäuser“ und „Damenhäuser“ als nicht mehr zeitgemäß. Der Stiftungsrat genehmigte die Geschlechtermischung in den Wohnhäusern, doch umziehen wollte so recht auch keiner. Erst als ein Student nachts in eines der Mädchenhäuser einbrach und nur mit einer Badehose bekleidet vor dem Bett einer Studentin stand, beschlossen die Dörflerinnen und Dörfler, dass mit der Durchmischung endlich ernst gemacht werden müsse. Am nächsten Tag versammelten sie sich auf dem Dorfplatz und tauschten ihre Wohnungsschlüssel.

Nach den wilden 1960er Jahren wurde es ruhiger im Studentendorf. Die Selbstverwaltung, die seit der Eröffnung des Dorfes als Organ im Rahmen der Stiftung Studentendorf existierte, wird 1972 zum eingetragenen Verein. Sie widmete sich nun den Tücken des studentischen Alltags, wie der Verwaltung von Waschmaschinen, Druckerei und Werkzeugverleih. Studentische Initiativen kamen und gingen. Die einzige Konstante seit den 1970ern ist der „Club A18“. Die Studentenkneipe erfreut sich noch immer großer Beliebtheit bei den Dorfbewohnern, Zehlendorfer Jugendlichen und Familien. Für die Bewohner ist der Club außerdem eine gute Möglichkeit, die Haushaltskasse aufzubessern – als Putzkraft, Barkeeper oder Geschäftsführer.

Heute wohnen fast 900 Studierende im Dorf. Äußerlich erinnern nur die Zimmer an die Anfänge. Sie wurden nach der Sanierung wieder originalgetreu ausgestattet. Das Dorf wird von einer Genossenschaft und der studentischen Selbstverwaltung geführt: Anders als zu Beginn würden die Bewohner bei der Planung und der Investition größerer Geldbeträge einbezogen, sagt Jens-Uwe Köhler vom Genossenschaftsvorstand. So herrscht 50 Jahre nach der Gründung doch noch die lang ersehnte Demokratie im Studentendorf. Eleanor Lansing Dulles würde es gefallen.