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Vor 50 Jahren im Sucher

08.08.2013

Damals und heute: Die Schülerin Eva Quistorp und der Fotograf Reinhard Friedrich jubelten 1963 John-F. Kennedy zu (mit Kreis gekennzeichnet).

Damals und heute: Die Schülerin Eva Quistorp und der Fotograf Reinhard Friedrich jubelten 1963 John-F. Kennedy zu (mit Kreis gekennzeichnet).
Bildquelle: Joachim G. Jung

Mehrere Leser haben sich in unserer Juni-Beilage auf Fotos vom Kennedy-Besuch 1963 in Dahlem wiedererkannt

„An die bewegende Begegnung mit Kennedy und an seinen strahlenden Optimismus habe ich später oft denken müssen“, sagt Karin Faensen. In ihrer Erinnerung steht sie am 26. Juni1963 mit John F.Kennedy im Henry-Ford-Bau der Freien Universität Berlin und reicht ihm ein Silbertablett mit Erfrischungen; gleich wird er vor 20 000 Gästen seine Rede halten. Doch statt des amerikanischen Präsidenten greift ein Sicherheitsmann nach dem Orangensaft, kostet ihn und gibt ihn erst dann fürKennedy frei.

Karin Faensen, damals Studentin der Anglistik im zweiten Semester, ist überrascht über diese Vorsichtsmaßnahme inmitten der Begeisterung. Wenige Minuten zuvor hatte sie Kennedy mit den Worten „Welcome, Mr.President!“ vor dem Henry-Ford-Bau begrüßt. Auf dem Foto, das wir in der vergangenen Zeitungsbeilage abgedruckt haben und auf dem sie sich nach 50 Jahren wiedererkannt hat, reicht sie ihm gerade die Hand. Ihr Sohn wandte sich an uns, um nach einem Abzug des Fotos zu fragen.

„Er kam ganz nah und lächelte mich an“

Die Hand vor den Mund hält keine fünf Meter weiter rechts Eva Quistorp – so aufgeregt ist sie bei der Ankunft des Präsidenten. Die damals 17-Jährige aus Kleve am Niederrhein ist auf Klassenfahrt in Berlin. Mit einer Freundin ist sie an die Freie Universität gefahren. Als Kennedys Straßenkreuzer vor ihr bremst, erstarrt sie: „Kennedy kam ganz nah an uns heran und lächelte mich an.“ Doch sie traut sich nicht, ihre Hand auszustrecken. „Als Pfarrerstochter aus einer NS-Widerstandsfamili ewar ich erzogenworden, die Mächtigen und die Stars nicht zu bewundern.“

Die Welt ist klein – auch 50 Jahre später, denn Karin Faensen und Eva Quistorp sind nicht die Einzigen, die sich auf Fotos unserer letzten Beilage im Tagesspiegel und auf einer DVD, die aus Anlass des Kennedy-Besuchs erschien, wiedererkannt haben: Der Fotograf Joachim G. Jung hat damals zufällig rechts direkt hinter Eva Quistorp jemanden im Sucher, der sonst selten auf Fotos auftaucht. Es ist sein Berufskollege Reinhard Friedrich. Friedrich fotografiert im Auftrag der Freien Universität Berlin und bewegt sich während der Rede unbehelligt und ohne Sicherheitsbeschränkungen um Kennedy herum.

„Ich war zwar kein alter Hase, doch an Nervosität kann ich mich nicht erinnern“, sagt der heute 84-Jährige lachend, der an der Freien Universität Publizistik und Kunstgeschichte studierte. Aufgeregt beim Fotografieren ist er erst Jahre später, als er unter anderem berühmte Dirigenten der Berliner Philharmoniker ablichten darf. An diesem Nachmittag ist ihm nicht bewusst, dass die Stunde des Kennedy-Besuchs eine der wichtigsten seiner Karriere würde. Seiner Alma Mater ist er bis heute verbunden. Vor Kurzem überließ er dem Universitätsarchiv einen Schatz: Fotografien aus den ersten Jahrzehnten der Freien Universität seit ihrer Gründung 1948 – darunter sind auch Fotos der Ehrengäste des Kennedy- Besuchs.

Noch heute erinnern sich Reinhard Friedrich und Eva Quiztorp gern an Kennedys Besuch in Dahlem.

Noch heute erinnern sich Reinhard Friedrich und Eva Quiztorp gern an Kennedys Besuch in Dahlem.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Einer der Gäste auf der Tribüne ist der Historiker Professor Gerhard A. Ritter, der Politische Wissenschaft mit dem Schwerpunkt historische Grundlagen der Politik lehrt. Er ist froh, dass er an diesem Tag leichte Kleidung trägt unter dem Talar, den die Universität allen Professoren für Kennedys Besuch beschafft hatte. „Es war brütend heiß, und Kennedy kam später als geplant“, sagt Ritter. Er ist damals 34Jahre alt und damit drei Jahre jünger als der in der vergangenen Ausgabe interviewte Professor Heinz Fortak, den wir als den 1963 jüngsten Professor wähnten.

Ritter, der sehr eng mit dem Politologen Ernst Fraenkel zusammenarbeitete und später nach Münster und München wechselte, ist noch heute beeindruckt von Kennedys Dahlemer Plädoyer für eine Entspannungspolitik. Eva Quistorp dagegen – von Kennedy gerade aus nächster Nähe angelächelt – ist noch während der Rede wie beseelt und bekommt vom Inhalt wenig mit. Doch die Begegnung mit Kennedy und seine spätere Ermordung prägen sie: „Ganz im Sinne von Kennedys Rede habe ich wie viele andere versucht, der Gesellschaft, der Demokratisierung und der Gerechtigkeit zu dienen“, sagt sie. Sie wird Mitbegründerin der Grünen, tritt für die Rechte von Frauen ein, engagiert sich in Umweltschutz-Bürgerinitiativen und unterstützt als eine der treibenden Kräfte der Friedensbewegung in Deutschland die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler in Osteuropa bis zur europäischen Wiedervereinigung.

Die Anglistikstudentin Karin Faensen konnte Kennedy bei der Ankunft sogar die Hand schütteln.

Die Anglistikstudentin Karin Faensen konnte Kennedy bei der Ankunft sogar die Hand schütteln.
Bildquelle: Peter Ostendorf

Karin Faensen dagegen erlebt die Friedens- und Bürgerrechtsbewegung hautnah in den Vereinigten Staaten. Denn die Ehre, Kennedy zu begrüßen, hat sie einer erfolgreichen Bewerbung auf einen Platz im Direktaustausch mit den USA zu verdanken: Bei den Auswahlgesprächen hatte sie Horst Hartwich kennengelernt, den damaligen Leiter des Universitätsaußenamtes, der Kennedys Besuch in Dahlem maßgeblich organisierte. Er hatte die damals 19-Jährige gefragt, ob sie nicht Lust hätte, den Besuch des Präsidenten zu begleiten. Einen guten Monat später reist Karin Faensen an die University of Michigan in Ann Arbor. In den USA erlebt sie Ende August 1963 erneut Weltgeschichte: Fasziniert verfolgt sie den „March on Washington“, bei dem der afroamerikanische Bürgerrechtler Martin Luther King vor 200 000 Menschen mit seiner Rede „I have a dream“ („Ich habe einenTraum“) das Ende der Rassendiskriminierung fordert. Sie erlebt fassungslos Kennedys Ermordung im November und die Lähmung des gesamten öffentlichen Lebens im Land. Bei einer Veranstaltung an der Universität trifft sie auf die Witwe des mutmaßlichen Attentäters Lee Harvey Oswald, die früh die These vertritt, ihr Mann sei nur ein Werkzeug in dem Geschehen gewesen.

Karin Faensen wird auch Zeugin neuer Protestformen. Zunächst erlebt sie die „Sit-ins“ der Bürgerrechtsbewegung, die durch Kennedys Ermordung einen Rückschlag erlitten hat, und später an ihrer eigenen Universität die ersten „Teach-ins“ – eine neue Form des Protestes durch Information – als Reaktion auf das militärische Eingreifen der USA in Vietnam. Diese frühen Proteste gegen den Vietnamkrieg lösen bei ihr ambivalente Gefühle aus: Zwar teilt sie die Kritik an den Militäreinsätzen, „doch als Berlinerin war mir immer bewusst, was wir den USA durch ihren militärischen Einsatz verdanken“. Bei ihren Vorträgen über Berlin an amerikanischen Schulen begegnen ihr die Menschen mit großem Interesse und Zuneigung, und schon ihre Herkunft aus Berlin – dem „Vorposten der Freiheit“– verleiht ihrem Auftreten für die Zuhörer besonderes Gewicht. Dank eines weiteren Stipendiums bleibt Karin Faensen bis zum Examen in den USA und kehrt 1966 nach Berlin zurück, wo sie später die Fächer Englisch und Deutsch unterrichtet.

Mit Wehmut erinnert sie sich an die Stimmung im Juni 1963 in Berlin: „Die Begeisterung für Kennedy und Amerika war damals noch ohne jeden Vorbehalt – und unschuldig.“ Unschuldig wie der Inhalt des Glases auf dem Silbertablett.

Im Internet: www.fu-berlin.de/kennedy