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Das gesammelte Wissen auf einer „Wolke“

Ein länderübergreifendes Projekt soll die Bibliothekslandschaft in Deutschland revolutionieren

26.09.2013

Adieu Zettelkasten. Die Recherche in Bibliotheken mithilfe alphabetischer Karteikarten gehört bald der Vergangenheit an. Die Bestände sollen künftig in großen „Datenwolken“ bundesweit verfügbar sein.

Adieu Zettelkasten. Die Recherche in Bibliotheken mithilfe alphabetischer Karteikarten gehört bald der Vergangenheit an. Die Bestände sollen künftig in großen „Datenwolken“ bundesweit verfügbar sein.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

„Über das zersplitterte Bibliothekswesen habe ich mich schon geärgert, als ich vor mehr als 30 Jahren als Bibliothekar angefangen habe. Jetzt ändert sich das endlich!“, sagt Jirí Kende, Direktor der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin. Ein neues Projekt, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert wird, soll die Arbeit der Bibliotheken in Deutschland künftig effizienter gestalten und dadurch Kapazitäten für die Bewältigung neuer Aufgaben schaffen.

Ein kurzer Blick zurück: Im Zuge des Übergangs zur Onlinekatalogisierung in den 1980er Jahren wandelten sich die bis dahin existierenden regionalen Zentralkataloge, die Titelnachweise auf Katalogkarten der Bibliotheken ihrer Region für Zwecke der Fernleihe vorgehalten haben, allmählich zu EDV-basierten Bibliotheksverbünden. Der Vorteil der Onlinekatalogisierung: Innerhalb eines regionalen Verbundes brauchte ein Titel nur noch von einer Bibliothek katalogisiert zu werden, die anderen Bibliotheken fügten lediglich einen Vermerk an, ob sie den Titel ebenfalls im Bestand hatten.

Zwar sind die Zeiten der Zettelkataloge mittlerweile längst passé. Doch an der Organisation der Bibliotheksverbünde hat sich seit den 1980er Jahren wenig geändert. Sechs solcher Zusammenschlüsse gibt es bundesweit: Sie vereinen die Bibliotheken jeweils in Hessen, Bayern, Berlin-Brandenburg, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und den norddeutschen Bundesländern.

Obwohl die Verbünde das Rückgrat der nationalen Bibliotheksinfrastruktur darstellen, nutzen sie augenscheinlich die Dynamik neuer Technik und globaler Vernetzung nicht ausreichend. Soweit zumindest die Diagnose des Wissenschaftsrates und der DFG. Vor zwei Jahren veröffentlichten beide Organisationen eine gemeinsame Erklärung, in der eine „strategische Neuausrichtung und eine Neuordnung der Verbundsysteme“ empfohlen wurde.

Die DFG schrieb daraufhin im Januar vergangenen Jahres eine Förderung für Projekte zur „Neuausrichtung überregionaler Informationsservices“ aus, die darauf zielen, diese Umstrukturierung anzustoßen. Gesucht wurden Ideen, die zurzeit hauptsächlich regional orientierten Informationsangebote weiterzuentwickeln zu „nachhaltigen, funktional definierten, nationalen Services, die auch international vernetzt sein müssen“, wie es in der Ausschreibung hieß. Kurz: Das System aus sechs Verbünden soll effizienter und an internationale Standards angepasst werden.

Die Ausschreibung war in vier Themenfelder aufgeteilt. Für das Teilprojekt „Bibliotheksdateninfrastruktur und Lokale Systeme“ gab es zwei Bewerbungen: einen gemeinsamen Antrag der Bibliotheksverbünde Hessen, Bayern und Berlin- Brandenburg sowie einen Konkurrenzantrag der übrigen drei deutschen Bibliotheksverbünde und der Deutschen Nationalbibliothek. Letztere gehört als zentrale Archivbibliothek für alle in Deutschland erschienenen Medienwerke keinem der Verbünde an.

„Wegen der Beteiligung der Nationalbibliothek an dem Konkurrenzantrag habe ich mir eigentlich keine großen Hoffnungen gemacht“, sagt Jirí Kende, der für den Berlin-Brandenburger Verbund maßgeblich an dem Projekt beteiligt ist. Doch die Sorge vor der gewichtigen Konkurrenz sollte unbegründet sein: Im März bekamen die Berlin-Brandenburger und ihre Mitstreiter aus Hessen und Bayern den Zuschlag für ihr Projekt mit dem Titel „Cloudbasierte Infrastruktur für Bibliotheksdaten“ (CIB). „Wir haben gewonnen, weil wir tatsächlich einen grundlegenden Wandel der bibliothekarischen Infrastruktur in Deutschland anstreben“, sagt Kende. „Mit unserem Ansatz wird einiges komplett umgekrempelt.“

Die Idee des CIB-Projekts liegt darin, Dienstleistungen, die bisher von mehreren Verbünden parallel angeboten wurden, zentral auf cloudbasierten Plattformen anzubieten. Die lokalen Bibliothekssysteme und die Bibliotheksdaten würden dann nicht mehr in lokalen Rechenzentren oder regionalen Verbundzentralen vorgehalten werden, sondern auf der sinnbildlichen Wolke (englisch „cloud“) bereitgestellt, auf die alle Zugriff haben. „So werden redundante Strukturen abgebaut, die Bibliotheksarbeit deutlich rationalisiert“, erläutert Jirí Kende. Gleichzeitig sollen die bisher national geprägten Katalogisierungsregeln und -formate an internationale Standards angepasst und somit die globale Zusammenarbeit unter den Bibliotheken erleichtert werden.

An dem Projekt wurde aber auch Kritik laut: Man begebe sich in die Hände zweier Monopolisten, wenn die Absicht beibehalten werde, mit den großen Bibliothekssoftware- Anbietern OCLC und ExLibris zusammenzuarbeiten. Jirí Kende hält dagegen: „Tatsächlich nutzen bereits heute 80 bis 90 Prozent der Bibliotheken in Deutschland eines der beiden Systeme. Die würden früher oder später ohnehin auf die cloudbasierte Nachfolgeversion umsteigen.“

Das Projekt begleite also im Grunde die deutsche Bibliothekswelt auf diesem Weg und sorge dafür, dass die Bibliotheken in der„Wolke“ eine adäquate Arbeitsumgebung vorfinden. Zudem habe man in Kooperationsverträgen mit den Anbietern fest vereinbart, die Schnittstellen zu den Daten offen zu gestalten, um den späteren Einstieg für andere Software-Anbieter zu ermöglichen, zum Beispiel Open-Source-Projekte.

In diesem Monat ist das Projekt offiziell gestartet. Nun müssen die anderen Länderverbünde ins Boot geholt werden, ebenso wie die Deutsche Nationalbibliothek und die Staatsbibliothek zu Berlin, die die Datenbank für die Zeitschriftenbestände aller deutschen Bibliotheken pflegt. Erste Gespräche der Verantwortlichen laufen bereits.

Jiri Kende ist überzeugt, dass die Zusammenarbeit gelingt, denn die Vorteile des CIB-Projektes lägen auf der Hand: „Der Abbau redundanter Strukturen setzt Kräfte frei, die innovative Angebote ermöglichen.“ Erst die Arbeitsersparnis durch die Zentralisierung schaffe den Verbünden den nötigen finanziellen und personellen Freiraum, um drängende Zukunftsaufgaben anzugehen, beispielsweise die Langzeitarchivierung von digitalen und elektronischen Medien oder das Bereitstellen virtueller Forschungsumgebungen.

Deshalb fordern auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und der Wissenschaftsrat, die strukturelle Neuordnung – trotz der absehbaren Rationalisierungseffekte – nicht mit Etatkürzungen bei den Verbünden zu verbinden. Ihrem Ende sieht die deutsche Verbundstruktur also noch lange nicht entgegen. Im Gegenteil: Eine neue Ära hat begonnen.