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Der Blick aufs ganze Leben

Wissenschaftler erforschen und vergleichen Erkrankungen in den verschiedenen Altersstufen des Menschen

26.09.2013

Was greift beim Altern von Menschen ineinander? Eine Frage, mit der sich die Focus Area beschäftigt.

Was greift beim Altern von Menschen ineinander? Eine Frage, mit der sich die Focus Area beschäftigt.
Bildquelle: Dmitry Naumov, Fotolia.com

Krebs, Depression, Bluthochdruck oder Arthrose – je nach Lebensalter des Betroffenen haben diese Krankheiten ein vollkommen anderes Gesicht. Sie treten nicht nur unterschiedlich häufig auf, auch der Verlauf unterscheidet sich. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Diagnostik, Prävention und Therapie, welche für die Erkrankten, für deren soziales Umfeld und schließlich für die Gesellschaft?

In einem neuen Forschungsverbund werden diese Fragen speziell für Tumorerkrankungen, kardio-vaskuläre Erkrankungen, degenerative Erkrankungen des Bewegungsapparates sowie kognitive Störungen und Depression interdisziplinär untersucht: Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaftler der Freien Universität forschen in der Focus Area DynAge („Disease in Human Aging – Dynamics at the Level of Molecules, Individuals, and Society“) gemeinsam mit Experten der Charité – Universitätsmedizin Berlin, dem medizinischen Fachbereich der Freien Universität und der Humboldt- Universität. Ein Gespräch mit den Sprechern der Focus Area, Gesundheitspsychologin Professorin Nina Knoll und Medizin-Professor Ulrich Keilholz.

In einer alternden Bevölkerung leiden trotz des medizinischen Fortschritts immer mehr Menschen an Krebs, Rheuma oder Demenz. Für die Zukunft werden Engpässe in der Versorgung von Patienten erwartet. Wie kann man dieser Entwicklung begegnen?

NINA KNOLL: Wichtig ist zum Beispiel die Prävention. Viele Erkrankungen, die sich im Alter häufen, sind maßgeblich durch den Lebensstil und Risikoverhaltensweisen beeinflusst. Dagegen könnte man eine ganze Menge tun, aber man muss früh genug im Leben damit anfangen, damit es etwas bringt.

ULRICH KEILHOLZ: Ein weiterer Punkt ist das frühe Erkennen von Krankheiten. Vorsorgeuntersuchungen sind bisher nicht für alle Erkrankungen gleich gut entwickelt. Hier kommt das Thema alternde Bevölkerung ins Spiel. Wir wissen relativ genau, in welchem Alter man mit welchen Vorsorgeuntersuchungen beginnen sollte, wir kennen aber nicht deren Bedeutung in höheren Lebensaltersgruppen. Dazu gibt es keine Daten.Ist zum Beispiel Krebsvorsorge bei 75-Jährigen noch effektiv? Das ist einer der Aspekte, die wir untersuchen wollen. Ein weiteres wichtiges Thema ist, dass viele Patienten interdisziplinär versorgt werden müssen. Bisher geschieht das aber nicht immer in ausreichendem Maß.

Was heißt das genau?

KEILHOLZ: Wissenschaft und Forschung, Kliniken, Arztpraxen, Pflegedienste und die häusliche Pflege müssen sich besser abstimmen. Dieses Zusammenspiel ist sicher einfacher in Ballungszentren wie Berlin, es ist aber besonders wichtig, solche interdisziplinären Versorgungssysteme bundesweit auszubauen. Der Gesetzgeber arbeitet daran, die Rahmenbedingungen für diese Möglichkeit der Interaktion zu verbessern.

Was unterscheidet die neue Focus Area von anderen Forschungsverbünden, die zu demografischem Wandel forschen?

KNOLL: Neu ist, dass wir einen altersvergleichenden Zugang gewählt haben und uns auf die Entwicklungsmechanismen bestimmter Krankheiten in verschiedenen Altersstufen konzentrieren. Dabei nehmen wir die gesamte Lebensspanne in den Blick.

KEILHOLZ: Unser Fokus liegt also nicht auf dem Alter, sondern auf dem Altern. Wir vergleichen die Erkrankungen zusätzlich auf verschiedenen Ebenen – von der Entstehung und Entwicklung einer Erkrankung aus molekularbiologischer Sicht über die Rolle des einzelnen Patienten und seines Umfeldes bis hin zu gesellschaftlichen Auswirkungen. Neben rein medizinischen Themen spielen bei unserer Forschung weitere Aspekte eine Rolle: Lebensziele, soziale Einbindung, Kostenfaktoren, Wünsche an die Behandlung und deren Ergebnisse. Diese können je nach Alter der Patienten völlig anders ausfallen.

Nina Knoll ist Professorin für Gesundheitspsychologie an der Freien Universität. Sie ist Sprecherin der Focus Area DynAge.

Nina Knoll ist Professorin für Gesundheitspsychologie an der Freien Universität. Sie ist Sprecherin der Focus Area DynAge.
Bildquelle: Nicole Körkel

Ulrich Keilholz, Professor der Hämatologie, Medizinischen Onkologie und Tumor Immunologie, ist Direktor des Charité Comprehensive Cancer Center und gemeinsam mit Nina Knoll Sprecher der Focus Area DynAge.

Ulrich Keilholz, Professor der Hämatologie, Medizinischen Onkologie und Tumor Immunologie, ist Direktor des Charité Comprehensive Cancer Center und gemeinsam mit Nina Knoll Sprecher der Focus Area DynAge.
Bildquelle: Nicole Körkel

Sie beschäftigen sich mit komplexen Zusammenhängen. Wie werden diese in konkrete Forschungsfragen übersetzt?

KEILHOLZ: Ein Beispiel auf der naturwissenschaftlichen Ebene: Wir gehen davon aus, dass sich Bluthochdruck auf den Organismus eines 30-Jährigen anders auswirkt als bei jemandem, der dieselbe Krankheit mit 70 Jahren entwickelt. Die Entstehung des Hochdrucks ist beim jungen Menschen eine andere, und die Reaktionen des Herz-Kreislaufsystems sind dynamischer als bei älteren Patienten. Läuft dies aber über mehrere Jahrzehnte, ergeben sich daraus andere Konsequenzen, als wenn die Erkrankung erst im höheren Alter beginnt und über kürzere Zeit verläuft. Über diese Mechanismen wollen wir mehr erfahren.

Wie funktioniert die interdisziplinäre Zusammenarbeit innerhalb der Focus Area?

KEILHOLZ: Der Verbund ist so aufgebaut, dass sich die Projekte mit unterschiedlichen Schwerpunkten ergänzen und gegenseitig Impulse geben. Wir können nicht alle einzelnen Gebiete umfassend bearbeiten, sondern wollen ganz bewusst in Puzzlesteinen arbeiten, um an Beispielen zu sehen, wie Dinge ineinandergreifen.

KNOLL: Wir fördern Projekte, die sich mit verschiedenen Ebenen von Erkrankungen beschäftigen. In einem Projekt untersuchen wir etwa von der molekularbiologischen bis zur psychologischen Ebene, wie das Fortschreiten von Kniegelenksarthrose beeinflusst werden kann. Hier forschen Experten aus der Unfallchirurgie, der Radiologie, der Anästhesiologie, der Mathematik, der Biochemie und der Psychologie zusammen.

Ist die Zusammenarbeit zwischen Sozial-, Geistes- und Naturwissenschaftlern sowie Medizinern in der Praxis nicht schwierig? Jede Disziplin hat doch eine eigene Fachsprache und Fachkultur.

KEILHOLZ: Genau dieser interdisziplinäre Austausch bietet Chancen für neue Entwicklungen. In jedem Projekt müssen Wissenschaftler aus mindestens zwei unterschiedlichen Fachdisziplinen gemeinsam an einer Fragestellung arbeiten.

KNOLL: Sicher ist das nicht immer leicht, man muss schon eine Lernkurve einkalkulieren, bis man den anderen und die jeweilige Fachsprache versteht.

Welche Vorteile bieten sich für die Patienten durch die Forschung?

KNOLL: Wenn wir anfangen, Altersunterschiede zu untersuchen, tragen wir dazu bei, sowohl die Behandlung als auch die Vor- und Nachsorge individualisierter zu gestalten. Gerade für die Vorsorge hat das ganz viele Implikationen.

KEILHOLZ: Noch sind Vorsorgeuntersuchungen für die Bevölkerung insgesamt konzipiert, aber für Risikopopulationen sind sie nicht unbedingt passend. Dazu zählen Patienten mit familiären Tumor-Erkrankungen oder Patienten, die bereits eine Krebserkrankung hatten. Auch für Risiken, die sich gegenseitig beeinflussen, ist das relevant: Krebspatienten leiden oft zusätzlich unter Störungen des Bewegungsapparates. Umgekehrt gehen Patienten mit massiven Störungen des Bewegungsapparats seltener zur Vorsorge. Die Bedeutung all dieser Faktoren im Zuge der alternden Gesellschaft, mit Blick auf die vier Krankheitsgruppen und über die gesamte Lebensspanne, wurde in dieser Komplexität bisher noch nicht untersucht.

— Die Fragen stellte Nicole Körkel



Focus Area DynAge

Seit 2006 bilden die Focus Areas als fachbereichsübergreifende Forschungsallianzen zentrale Elemente der Forschungsstrategie der Freien Universität. Hier arbeiten Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen über einen längeren Zeitraum an komplexen wissenschaftlichen Fragestellungen von hohem gesellschaftlichem Wert.

Die Focus Area DynAge, die sich mit Erkrankungen im Verlauf des Alterns beschäftigt, leistet Anschubfinanzierungen für zwölf ausgewählte Projekte. Das Ziel ist, daraus bis 2015 zwei große interdisziplinäre Forschungsverbünde zu entwickeln.

Im Internet:

www.fu-berlin.de/dynage