Springe direkt zu Inhalt

Die große Ungleichung

29.11.2013

Nicht nur in Deutschland hat sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter geöffnet. Promovierende der Freien Universität beschäftigen sich mit den Konsequenzen

Nicht allein in Wahlkampfzeiten ist sie ein Thema: die Schere zwischen Arm und Reich. Je nach politischem Lager hat sie sich mehr oder weniger weit geöffnet, soll der Staat verstärkt oder weniger stark eingreifen, sie zu schließen. Die Bürger beklagen eine Gerechtigkeitslücke: In einer Umfrage des Instituts Demoskopie Allensbach von diesem Jahr gaben fast 70 Prozent der Befragten an, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse ungerecht seien, und 64 Prozent waren der Ansicht, die Schieflage würde sich verstärken.

Dass auch in Deutschland die Ungleichheit gewachsen ist, überrascht Forscher nicht. Tatsächlich weisen verschiedene Untersuchungen von Soziologen, aber vor allem von Ökonomen schon länger auf einen weltweiten Trend hin. Die Ungleichheit hat international zugenommen. Und zwar schon seit etwa 30 Jahren.

Vor allem in den USA und anderen angelsächsischen Ländern verteilt sich immer mehr Einkommen auf immer weniger Personen. Derzeit ist das Einkommen in den USA ähnlich ungleich verteilt wie unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg. Und auch Deutschland ist eine zunehmend ungleiche Gesellschaft geworden: Seit Mitte der 1990er Jahre konnten die Haushalte mit den höchsten Einkommen ihren Anteil am Gesamteinkommen erheblich steigern, während die Realeinkommen stagnierten. Entsprechend floriert in Deutschland der Niedriglohnsektor und gehört sogar zu den größten europaweit.

Die weltweit wachsende Ungleichheit hat jedoch auch den Bedarf erhöht, sowohl die Ursachen für diese Entwicklung genauer zu untersuchen als auch die Möglichkeiten des Staates, dem entgegenzuwirken. Mittlerweile entdecken immer mehr Forscher das Thema für sich.

Als Teil dieser internationalen Forschungsoffensive in der Ökonomie und den Sozialwissenschaften haben die Hans-Böckler-Stiftung und die Freie Universität Berlin gemeinsam ein Promotionskolleg eingerichtet. Neben Giacomo Corneo, Professor für öffentliche Finanzen und Sprecher des Kollegs, leiten das Promotionskolleg Ronnie Schöb, Professor für Finanzwissenschaft mit Schwerpunkt internationale Finanzpolitik, und Viktor Steiner, Professor für empirische Wirtschaftsforschung.

Doktoranden können auf zahlreiche noch nicht erschlossene Daten zurückgreifen

Ihre Doktoranden befassen sich im ersten Jahr mit Theorie und Methodik der Ungleichheitsforschung und verschaffen sich einen Einblick in die Forschungsliteratur. In zweitägigen Kursen vermitteln international renommierte Wissenschaftler den Doktoranden zudem die Grundlagen für ein Verständnis des aktuellen Stands der Ungleichheitsforschung; im Juni dozierte Thomas Piketty von der Paris School of Economics. Er gilt weltweit als Pionier der neueren Ungleichheitsforschung und hat für mehr als 20 Länder die Entwicklung der Einkommensungleichheit über die vergangenen zwei Jahrhunderte dokumentiert.

„So haben die Doktoranden beste Chancen, mit ihrer Arbeit an den aktuellen Stand der internationalen Forschung zu ökonomischer Ungleichheit und Steuer-Transfer-Systemen anzuknüpfen“, sagt die Koordinatorin des Promotionskollegs, Charlotte Bartels.

„In dieser Form ist das Kolleg einzigartig in Deutschland“, ist Guido Neidhöfer überzeugt, einer der ersten Kollegiaten. Er musste nicht lange überlegen, ob er sich um ein Promotionsstipendium bewerben sollte. Verlangt wurde ein zehnseitiges Exposé, in dem das geplante Promotionsvorhaben genau umrissen werden musste. „Das Thema ökonomische Ungleichheit ist nicht nur in Deutschland sehr aktuell. Ich habe mich deshalb schon während meines Masters dafür entschieden, dazu weiter zu forschen“, sagt er.

In den kommenden drei Jahren wird er zur sogenannten intergenerativen Mobilität in Industrie- und Schwellenländern forschen: Er will untersuchen, inwiefern die soziale Herkunft späteren Bildungserfolg oder das Einkommen beeinflusst. Derzeit arbeitet Neidhöfer an einer Studie, die sich mit den Chancen von Kindern italienischer Einwanderer in Deutschland befasst, höhere Schulabschlüsse als ihre Eltern zu erreichen.

Die Auseinandersetzung mit Ungleichheit für Nachwuchsforscher in Deutschland lohnt vor allem wegen der zahlreichen noch zu erschließenden Daten: „Es gibt mittlerweile einige gute Quellen für Deutschland, die der Forschung in diesem Umfang vorher nicht zur Verfügung gestanden haben“, sagt Charlotte Bartels. In einem in diesem Jahr veröffentlichten Datensatz der Bundesbank finden sich beispielsweise Angaben zu Vermögen und Einkommen sowie demografische Merkmale für mehr als 3500 deutsche Haushalte.

In erster Linie soll das Kolleg deshalb die empirische Ungleichheitsforschung voranbringen. Zum Beispiel, indem die Entwicklung von Ungleichheit von Vermögen und Erbschaften in Deutschland anhand der neuen Daten untersucht wird. An welcher Stelle und in welcher Form müsste ein Wohlfahrtsstaat besonders eingreifen, um Ungleichheit zu mindern und die Chancengleichheit zu erhöhen?

Auch zur Beantwortung der Frage, welche Auswirkungen neue Steuergesetze auf die Ungleichheit in Deutschland hätten, könnten die Projekte des Kollegs beitragen. „Mit neuen Berechnungsmodellen ließe sich zum Beispiel vorhersagen, wie geplante Reformen von Steuern und Transferleistungen das verfügbare Einkommen verändern würden – und ob sie dazu beitragen, die Ungleichheit der Einkommen zu verringern“, erklärt Charlotte Bartels.

So detailliert haben die Modelle in den diesjährigen Bundestagswahlkampf noch keinen Eingang gefunden. Ob sich die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland weiter öffnet oder schließt und wie der Staat darauf reagieren sollte, wird für Bürger wie für Politiker aber vermutlich weiterhin ein Thema bleiben.