Springe direkt zu Inhalt

Der Islam - ein Teil Europas

28.11.2013

Arabistin Angelika Neuwirth ausgezeichnet

Der Koran gehört zu Europa: Angelika Neuwirth, Professorin für Arabistik an der Freien Universität, zeigt mit ihrer Forschung, dass der Islam von seinen Anfängen an eng mit der Entstehung einer europäischen Kultur verwoben ist. Die Heilige Schrift des Islam, der Koran, sei im Austausch mit heidnisch-arabischen, christlichen und jüdischen Glaubenslehren entstanden und gehöre in den weiten Horizont der spätantiken Welt des Vorderen Orients: „Wie die Basistexte des Christentums und Judentums ist auch der Koran als Resultat eines langen Dialogs zu verstehen, der sich im Fall des Koran deutlich in der Textstruktur spiegelt.“ Für ihre Forschung wurde die Wissenschaftlerin, seit 1991 Professorin an der Freien Universität, kürzlich mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet.

2007 hat Angelika Neuwirth das Projekt „Corpus Coranicum – Textdokumentation und historisch-literaturwissenschaftlicher Kommentar“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften initiiert. Durch die Rekonstruktion der Textüberlieferung und des historischen Entstehungskontextes des Koransoll dessen Bedeutung für die ebenfalls auf spätantiken Grundlagen basierende europäische Kultur sichtbar gemacht werden. Damit knüpft die Arabistin an die Tradition der Wissenschaft des Judentums an, deren historisch-kritische Koranforschung von den Nationalsozialisten 1933 radikal abgebrochen worden war.

Aus einer säkularen Perspektive und im Austausch mit islamischen und christlichen Theologen soll die gemeinsame Herkunft der Basistexte der drei Religionen aus den Debatten der Spätantike sichtbar gemacht und gezeigt werden, wie sich der Koran aus einem jüdisch-christlich geprägten Milieu als neue Religionsurkunde herausbilden konnte. „Mohammed verfolgte nicht die Absicht, eine neue Religionzugründen; der Islam entstand als Reformbewegung innerhalb einer theologisch unfokussierten synkretistischen Gesellschaft“, sagt Neuwirth.

Doch wie konnte sich neben zwei bereits existierenden monotheistischen Religionen eine neue große Religion formieren? „Der Koran vertritt einige Positionen, die als Korrekturen von Glaubensartikeln der beiden anderen Weltreligionen verstanden werden konnten“, sagt die Arabistin. „So teilt der Islam etwa weder den im Judentum vertretenen Anspruch auf Erwähltheit noch erkennt er eine göttliche Erlösergestalt an.“ Was der Koran neu ins Zentrum stelle, sei der kontinuierliche Appell, die Welt als ein System aus Zeichen zu verstehen: „Wer bereit ist, die Zeichen zu dekodieren, kann die Welt in ihrer gottgewollten Gestalt – eine Art Welt der Ideen – hinter der alltäglichen Welt erkennen. Das ist ein erstaunlich erkenntnisorientierter Ansatz.“

Neuwirth sieht in der gelegentlich noch zu findenden Akzentsetzung auf den psychologischen, religiösen und politischen Werdegang von Mohammed, die die Forschung vor allem nach der Eliminierung der jüdischen Koranforschung nach 1933 beherrschte, einen Rückschritt. Dadurch entstehe der Eindruck, der Koran sei der Gedankenwelt einer einzigen Person entsprungen. „Dieser aus der alten Islampolemik bekannte Ansatz hat seit den 1970er Jahren rigorose Gegenreaktionen provoziert.“

So gebe es Wissenschaftler, die die Existenz des Propheten Mohammed insgesamt infrage stellten und den Koran auf eine Kompilation anonymer Autoren zu reduzieren versuchten. Beide Perspektiven würden den inzwischen bekannten historischen Fakten nicht gerecht: „Heute, da Koranhandschriften aus der Zeit bereits kurz nach dem Tode des Propheten bekannt sind, ist die von der islamischen Tradition gebotene Geschichte der Koranentstehung aus der Verkündigung Mohammeds in Mekka und Medina zwischen 610 und 622 die plausibelste Erklärung“, sagt die Wissenschaftlerin.

Und fordert: „Koranforschung muss mit demselben methodischen Aufwand und Methodenpluralismus betrieben werden wie die Erforschung der Bibel.“ Eine kritische Textausgabe müsse im Falle des Koran in einer Dokumentation der Lesarten bestehen. Sie wird im Corpus-Coranicum-Projekt gegenwärtig erstellt und soll zusammen mit einem umfassenden historisch-literaturwissenschaftlichen Kommentar im Laufe der kommenden Jahre veröffentlicht werden.