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Ein Tropfen Blut für ein gesundes Baby

28.11.2013

Eines von etwa 3000 Neugeborenen kommt nicht mit intakter Schilddrüse auf die Welt.

Eines von etwa 3000 Neugeborenen kommt nicht mit intakter Schilddrüse auf die Welt.
Bildquelle: fotolia-lemuana

Eine zu spät erkannte Schilddrüsenunterfunktion kann schwerwiegende Folgen haben. In Berlin gibt es seit 35 Jahren Früherkennungsuntersuchungen für Neugeborene.

Es ist ein Vormittag im August 1980. Das Ehepaar Neumann* verlässt mit seiner sechs Tage alten Tochter Sabine* zum ersten Mal das damalige Klinikum Steglitz – den heutigen Campus Benjamin Franklin der Charité –Universitätsmedizin Berlin.

Noch am Abend erhalten die Eltern einen Anruf aus der Kinderklinik: Daa Neugeborenenscreening ihrer Tochter habe Auffälligkeiten ergeben. Die Ärzte vermuten aufgrund der Ergebnisse der noch recht neuen Untersuchungsmethode eine angeborene Schilddrüsenunterfunktion und bitten die junge Familie, noch einmal in die Kinderklinik der Freien Universität zu kommen, um das Ergebnis des Screenings zu überprüfen.

Dort erwartet sie Annette Grüters-Kieslich, die gerade ihr Medizinstudium abgeschlossen und ihre Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Kinderklinik der Freien Universität Berlin angetreten hat. Ihr Gespräch mit dem Ehepaar Neumann ist das erste Beratungsgespräch, das sie eigenverantwortlich mit den Eltern eines betroffenen Babys führt und in dem sie über das Screening und die Diagnose aufklärt.

Die Kinderärztin erinnert sich genau an den Moment: „Das war keine einfache Situation, doch zum Glück konnte ich die Eltern schnell beruhigen. Es gab bereits damals eine wirksame Therapie und gute Chancen, dass sich ihre Tochter ganz normal entwickelt.“

Noch am selben Abend dürfen die Eltern mit dem Neugeborenen wieder nach Hause gehen. Was sie damals nicht wissen: Die junge Ärztin, die ihnen gegenübersaß, war an der Einführung des Neugeborenenscreenings in Berlin zwei Jahre zuvor entscheidend beteiligt gewesen – als sie selbst noch Studentin war.

Kurz vor Abschluss ihres Medizinstudiums im Sommer 1978 bietet ihr der damalige Direktor der Kinderklinik, Professor Hans Helge, ein Projekt an, was die angehende Ärztin als große Wertschätzung und Ansporn für ihre weitere Arbeit begreift. Sie besucht im Juni 1978 für einige Wochen die Universitätskliniken in Heidelberg, Tübingen und Zürich, wo es bereits Pilotuntersuchungen zur Früherkennung von Schilddrüsenunterfunktion bei Neugeborenen gibt, und entwickelt aus ihren Beobachtungen eine eigene Labormethode.

„Die Methode an sich ist einfach und erfordert nur einen Tropfen Blut“, sagt Annette Grüters-Kieslich. „Wenn die Schilddrüse ihr Hormon nicht ausschüttet, produziert die Hirnanhangdrüse das sogenannte Thyreoida-stimulierende Hormon (TSH), das die Schilddrüse zur Hormonproduktion anregen soll. Reagiert die Schilddrüse darauf nicht, nimmt auch die TSH-Produktion zu. Dieses Zuviel an TSH lässt sich im Blut des Säuglings nachweisen.“ Damit lasse sich mit hoher Wahrscheinlichkeit feststellen, ob eine angeborene Schilddrüsenunterfunktion vorliegt oder nicht.

Die Hypothyreose, wie die Unterfunktion mit Fachausdruck heißt, ist eine seltene Erkrankung, die schwerwiegende Folgen haben kann. Von etwa 3000 Neugeborenen kommt ein Kind ohne intakte Schilddrüse (lat. Glandula thyreoidea) auf die Welt. Der Grund ist, dass die Hormondrüse nicht richtig angelegt oder voll entwickelt ist, oder aber, dass das Organ zwar vorhanden ist, es aber zu wenig Hormone produziert. Im Körper des Kindes ist dann nicht genug Schilddrüsenhormon (Thyroxin) vorhanden.

„Der Mangel an Schilddrüsenhormon wirkt sich auf die geistige und körperliche Entwicklung der Kinder aus“, sagt Grüters-Kieslich. „In den meisten Fällen kommt es zu einer schweren geistigen Behinderung.“ Viele der äußeren Merkmale eines solchen Mangels zeigen sich jedoch erst nach einigen Monaten oder sogar Jahren. Die Kinder bleiben beispielsweise für ihr Alter zu klein oder fangen erst spät an zu krabbeln oder zu laufen. Das fehlende Hormon kann durch Medikamente – in Form von Tabletten oder Tropfen – ersetzt werden, jedoch muss dies so frühzeitig wie möglich geschehen. „Schäden, die einmal eingetreten sind, sind irreversibel. Deshalb ist eine frühe Behandlung ungemein wichtig“, sagt die Medizinerin.

Drei Jahre nach seiner Einführung im Juli 1978 im damaligen West-Berlin wurde das Neugeborenenscreening bereits bundesweit eingesetzt. Heute – 35 Jahre später – findet die Methode weltweit Anwendung. Annette Grüters-Kieslich ist mittlerweile Professorin für Pädiatrie und Dekanin der Charité. Zuvor leitete sie das 2005 gegründete Centrum für Frauen-, Kinder- und Jugendmedizin undHumangenetik mit Standorten in Berlin-Mitte, Steglitz und Wedding.

Auch Sabine Neumann ist Kinderärztin geworden. Heute arbeitet sie ebenfalls an der Charité und ist immer noch eng mit Medizinprofessorin Annette Grüters-Kieslich verbunden, die sie ihre ganze Kindheit hindurch als Ärztin begleitet hat. Ob die eigene Krankheitsgeschichte der Grund für ihr Medizinstudium war, kann sie nicht genau sagen: „Jedenfalls hatte ich nie Angst vor Ärzten oder Krankenhäusern.“ Und auch sonst habe sie sich nie eingeschränkt gefühlt – obwohl sie noch immer täglich eine Tablette nehmen muss. „Als Kind konnte ich an allen Sportaktivitäten, Klassenfahrten und Auslandsaufenthalten teilnehmen. Da gab es nie Probleme“, sagt Sabine Neumann. „Wenn die angeborene Hypothyreose so früh erkannt und behandelt wird, ist es eine Erkrankung, mit der man uneingeschränkt leben und Leistungen erbringen kann.“

*Name von der Redaktion geändert