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Wenn das Jugendamt vor der Tür steht

20.02.2014

Sozialpädagogen der Freien Universität untersuchen die Bedeutung von Hausbesuchen in Familien

Werden Fälle von Kindesmisshandlung bekannt, so steht in der Öffentlichkeit der Schuldige oft fest: Das Jugendamt habe sich nicht genug gekümmert. Ursula von der Leyen vertrat als Bundesfamilienministerin vor einigen Jahren die Meinung, dass Hausbesuche verpflichtend sein sollen, um die mögliche Gefährdung eines Kindes besser einschätzen zu können. Mit dem Bundeskinderschutzgesetz, das im Januar 2012 in Kraft trat, sind die Fachkräfte nun explizit aufgefordert, im Einzelfall zu prüfen, ob ein Hausbesuch erforderlich ist.

Doch wie stellt sich diese Entscheidung in der Praxis tatsächlich dar? Und wann ist es hilfreich, Familien zu Hause aufzusuchen? Dieser bislang kaum erforschten Frage widmet sich ein vom Bundesfamilienministerium gefördertes Forschungsprojekt an der Freien Universität Berlin unter Leitung der Sozialpädagogik-Professorin Ulrike Urban-Stahl. In der öffentlichen Debatte um Hausbesuche werde die Sicht der betroffenen Familien häufig vernachlässigt, sagt Urban-Stahl. „Privatheit ist etwas ganz Wertvolles, daher wird sie ja auch durch das Grundgesetz geschützt. Unser Zuhause hat für uns eine Schutzfunktion.“

Wenn plötzlich das Jugendamt an der Tür klingelt, löse dies bei den Familien Unbehagen aus. Die Sozialarbeiter könnten mit einer grundsätzlich wertschätzenden Haltung zwar Ängste mildern, jedoch bleibe die Frage, wie erhellend der Blick ins Kinderzimmer oder das Gespräch am Küchentisch wirklich ist. „Natürlich gibt es Fälle, in denen eine Wohnung voller schimmeligem Müll und damit eindeutig kindeswohlgefährdend ist. Aber das ist die große Ausnahme“, sagt die Professorin.

Häufiger seien unklare Situationen, etwa ein wenig liebevoller Umgang mit dem Kind oder unzureichende Kleidung. „Um etwas über die Familie zu erfahren und helfen zu können, braucht man eine vertrauensvolle Beziehung“, sagt Urban-Stahl. Dafür aber sei ein unangekündigter Hausbesuch kein idealer Anfang: „Je stärker das Jugendamt in der Rolle des Kontrolleurs auftritt, desto weniger wird sich die Familie den Mitarbeitern öffnen.“ Fachleute sähen das neue Bundeskinderschutzgesetz daher kritischer als die breite Öffentlichkeit.

Svenja Lattwein, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt, hat die Problematik selbst erlebt. Nach ihrem Studium arbeitete sie in einem Jugendamt im Land Brandenburg und führte dort auch Hausbesuche durch. „Ein unangekündigter Besuch erzeugt bei den Familien ganz hohen Druck, sie nehmen dann zunächst eine Abwehrhaltung ein“, sagt sie. Selten seien auf diese Weise Fälle von klar erkennbarer Misshandlung oder offensichtlich gravierender Vernachlässigung aufgedeckt worden, die es gerechtfertigt hätten, das Kind sofort in Obhut zu nehmen.

Die Liebe von Kindern zu ihren Eltern reicht sehr weit

Allerdings sind es gerade die dramatischen Schicksale, die an die Öffentlichkeit gelangen. Ulrike Urban-Stahl hat durchaus Verständnis für die gesellschaftliche Empörung: „Es ist ein natürlicher Impuls, das Kind retten zu wollen.“ Sozialarbeiter aber müssten unterscheiden zwischen ihren eigenen Emotionen und den Erwägungen, was langfristig das Beste für das Kind ist. Denn die Liebe von Kindern zu ihren Eltern reiche sehr weit, und eine Trennung belaste die Kinder schwer. Die meisten Eltern seien nicht böswillig, sondern überfordert und bräuchten Hilfe.

Als Auftakt zum Forschungsprojekt luden die Wissenschaftlerinnen der Freien Universität im November Jugendamtsmitarbeiter aus zwölf Bundesländern zum Gespräch ein. Dabei stellte sich heraus, dass die Verfahren und Regelungen zum Vorgehen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung in den vergangenen Jahren deutlich qualifiziert worden sind.

Vor diesem Hintergrund hat Ulrike Urban-Stahl mit ihren Projektmitarbeiterinnen Svenja Lattwein und Maria Albrecht einen Fragebogen entwickelt. Alle 580 Jugendämter in Deutschland werden nun telefonisch befragt über Regelungen, Abläufe und Rahmenbedingungen von Hausbesuchen. Im Anschluss wollen die Sozialpädagoginnen Akten analysieren, um Entscheidungen für oder gegen Hausbesuche in konkreten Einzelfällen nachzuvollziehen. Abschließend sind vertiefende Interviews mit Sozialarbeitern und Familien geplant, um das Thema aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten.

Das Forschungsprojekt stellt eine Grundlage für die Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes dar. Noch ist es eine Herausforderung für die Forscherinnen, die im Alltag stark belasteten Jugendamtsmitarbeiter für die Kooperation zu gewinnen. Doch Ulrike Urban-Stahl ist zuversichtlich, dass sich viele Fachkräfte beteiligen werden. Das Projekt solle dazu führen, sachlicher diskutieren zu können und Jugendamtsmitarbeitern zu mehr Handlungssicherheit zu verhelfen.