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Syrische Geschichte in Scherben

19.02.2014

Grabungsstelle Rotes Haus: Anlage und beginnende Ausgrabung eines Testschnittes, an dem deutsche und einheimische Mitarbeiter beteiligt sind.

Grabungsstelle Rotes Haus: Anlage und beginnende Ausgrabung eines Testschnittes, an dem deutsche und einheimische Mitarbeiter beteiligt sind.
Bildquelle: Aufnahme G. Gerster, lizensiert für das Forschungsprojekt Tell Schech Hamad.

Wie die Menschen im heutigen Syrien vor rund 3000 Jahren lebten, haben Archäologen der Freien Universität anhand einer aufwendigen Ausgrabung rekonstruiert. Dann kam der Bürgerkrieg.

Eine Schar Kinder war es, die den Stein 1977 ins Rollen brachte: Neugierig umringten sie die Gruppe deutscher Wissenschaftler, die nach Syrien gekommen war, um die Hügel an den Ufern des Flusses Habur im Nordosten des Landes zu erkunden. Archäologische Daten für eine historische Siedlungskarte der Universität Tübingen wollten sie sammeln. Doch dann erkannten die Forscher, dass die spielenden Kinder am Fluss nicht etwa Steinchen, sondern Bruchstücke beschrifteter Tontafeln über das Wasser tanzen ließen.

„Wir haben uns von den Kindern zur Fundstelle der Artefakte führen lassen“, erinnert sich der Archäologe Hartmut Kühne, mehr als 35 Jahre nach dem Ereignis. Der damals 34-Jährige ist seit 1980 Professor für Vorderasiatische Archäologie an der Freien Universität. „Durch einen frisch von Bauern angelegten Bewässerungskanal waren vollständige beschriftete Tontafeln und Tafelfragmente ausgespült worden.“

Deren nähere Untersuchung förderte schier Unglaubliches zutage: Es fanden sich Hinweise auf die Provinzhauptstadt Dur-Katlimmu aus der assyrischen Zeit, über deren genaue Lage und Ausdehnung Wissenschaftler bis dahin keinerlei Anhaltspunkte hatten. „Assyrien war die erste Weltmacht überhaupt, die alle anderen Staaten der Zeit dominierte“, erläutert Hartmut Kühne. Das Reich bildete sich von 1350 v. Chr. an heraus und entfaltete nach 750 v. Chr. für rund 140 Jahre seinen größten Einfluss. Im Jahr 612 v. Chr. zerbrach die Weltmacht, und das Babylonische Reich übernahm die politische Vorreiterrolle.

Ein Zufallsfund 1978 war der Auftakt für die Ausgrabung in Syrien

Kühne, der 1980 von Tübingen an die Freie Universität wechselte, hat sich diesem Ort in der syrischen Steppe bis heute verschrieben. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützte das Projekt von Beginn an. Ziel war es, am Beispiel Dur-Katlimmus die Stadtstrukturen assyrischer Provinzhauptstädte zu analysieren.

Schon ein halbes Jahr nach den Tontafel-Funden von 1977 begannen die Ausgrabungen auf dem Siedlungshügel Tell Schech Hamad.Von Anfang an kooperierten die Wissenschaftler eng mit Kollegen aus Tübingen, dem lokalen Museum Deir az-Zor und mit Einheimischen – schließlich war die Ausgrabung damals die einzige am gesamten Unterlauf des Flusses Habur und die Forscher blieben vollkommen auf sich gestellt.

Nach 35 Jahren ist die Förderung durch die DFG im Dezember 2013 ausgelaufen. Seit in Syrien Krieg herrscht, werten die Wissenschaftler vor allem stapelweise Grabungstagebücher aus und publizieren ihre Ergebnisse. Noch bis Ende 2014 wollen sie mithilfe von Rücklagen weitermachen: Sie sichten Kisten voller Scherben und bearbeiten Artefakte. Am Computer werden diese mit den jeweiligen Fundorten verknüpft, sodass sich Funktion und Gebrauch der Objekte untersuchen lassen.

Riesige Grabungsfläche im Nordosten Syriens: Das Stadtgebiet von Dur-Katlimmu am Fluss Habur von Norden mit Ausgrabungsabschnitten

Riesige Grabungsfläche im Nordosten Syriens: Das Stadtgebiet von Dur-Katlimmu am Fluss Habur von Norden mit Ausgrabungsabschnitten
Bildquelle: G. Gerster: Forschungsprojekt Tell Schech Hamad

Aus Ruinen geboren: Bewohner Dur Katlimmus bestatteten im 2. Jahrhundert v.Chr. ihre Toten in sogenannten Doppeltopfgräbern.

Aus Ruinen geboren: Bewohner Dur Katlimmus bestatteten im 2. Jahrhundert v.Chr. ihre Toten in sogenannten Doppeltopfgräbern.
Bildquelle: Projekt Tell Schech Hamad

Die Zahl der registrierten Funde beläuft sich auf mehr als 47 000. „Noch haben alle Beteiligten eine lebendige Erinnerung an die Grabung: Das müssen wir nutzen“, sagt der wissenschaftliche Mitarbeiter Janoscha Kreppner, der seit 1992 in Kühnes Projekt angestellt ist. Er ist einer von zwölf Forschern unterschiedlicher Disziplinen, die im Rahmen des Projekts ihre Promotion oder einen Magistergrad erlangten.

Viele dieser Arbeiten drehen sich um das Herzstück der Ausgrabung, das sogenannte Rote Haus. Allein dessen Grabungsareal ist etwas größer als ein Fußballfeld. Den Namen verdankt der riesige Bau rot getünchten Räumen in einem der Flügel. Schon Größe und Ausstattung zeigen, dass es sich nicht um ein normales Haus handelte: „Wir gehen davon aus, dass es die Residenz eines hohen Beamten des Königswar, der den Titel ,Vertrauter‘ führte“, erläutert Hartmut Kühne.

Die freigelegten Fundamente und Objekte erwecken die damalige Zeit zum Leben: Die Forscher wissen nicht nur, wo sich Bäder, Büros, öffentliche und private Räumlichkeiten befanden. Sie können auch den Alltag darin beschreiben. Hunderttausende Gefäßscherben aus Keramik wurden allein hier ausgegraben: Mehr als 50 000 hat Janoscha Kreppner in seiner Dissertation ausgewertet.

Neben eimergroßen Keramiktöpfen, in denen Lebensmittel aufbewahrt wurden, benutzten die Menschen damals Teller, Trinkschalen und Flaschen mit dazu passenden metallenen Saugröhren, Vorläufern moderner Strohhalme. Der Hausherr verfügte über feines Luxusgeschirr, sogenannte „Palastware“, deren Gefäßwände eierschalendünn sein konnten. „Insgesamt müssen Lebensqualität und Ernährung damals vorzüglich gewesen sein“, schlussfolgert Kühne. Das belegt auch die Zusammensetzung der menschlichen Knochen, die in Hinblick auf ihren Gehalt an Kohlenstoff, Schwefel und Stickstoff analysiert wurden.

Strauße, Löwen und Elefanten lebten in Assyrien

Die Kooperation von Archäologen und Naturwissenschaftlern ergab in anderen Fällen erstaunliche Einsichten: „Bei der Untersuchung von verkohlten Holzresten zeigte sich, dass Luxusgüter aus Importhölzern wie indischem Palisander bestanden“, erzählt Kühne. Und anhand ausgegrabener Tierknochen bewies das Team, dass Strauße, Löwen und Elefanten in Assyrien lebten. Ob letztere heimisch oder importiertwaren, diskutieren Wissenschaftler seitdem intensiv.

Gefundene Pflanzenreste zeigen zudem, dass sich die Vegetation in der Region innerhalb von nur 500 Jahren stark gewandelt haben muss. „Noch zu Beginn der assyrischen Besiedlung im 14. Jahrhundert v. Chr. war es eine artenreiche Steppe mit Gräsern und Sträuchern. Im Flusstal gab es einen Auwald mit dichtem Untergehölz.“ Dies rekonstruierte Kühne unter anderem anhand ausgegrabener Biberknochen.

Heute sei die Pflanzenwelt stark verarmt, sagt der Forscher. Den Wandel führt er auf menschliche Eingriffe wie etwa den Bau eines Überlandkanals zurück. Der Kanal ermöglichte es, Felder zu bewässern und Ernten zu steigern, sodass die Bevölkerung wachsen konnte – in Dur-Katlimmu von anfangs einigen hundert auf bis zu 7000 im 7. Jahrhundert v. Chr.

Inmitten ihrer Funde: Grabungsleiter Hartmut Kühne (li.) und sein MItarbeiter Janoscha Kreppner mit einer Dämonenfigur und einem Keramikgefäß.

Inmitten ihrer Funde: Grabungsleiter Hartmut Kühne (li.) und sein Mitarbeiter Janoscha Kreppner mit einer Dämonenfigur und einem Keramikgefäß.
Bildquelle: Gisela Gross

Allein 1500 Schriftfunde verbuchten die Wissenschaftler, allen voran Tafeln mit Keilschrift. Darunter finden sich vieleVerwaltungstexte über Saatgut, Ernteerträge und Arbeiter, sie belegen aber auch die Stationierung militärischer Eliteeinheiten und die Existenz einer Schule.

Auf einen blühenden Fernhandel deuten Schriften in babylonischer und phönizischer Sprache hin. Diese weisen erstmals nach, dass Dur-Katlimmu auch nach 612 v. Chr. kontinuierlich besiedelt war: „Lokale Eliten überlebten den Zusammenbruch des assyrischen Reiches relativ unbeschadet und wurden in ihren Ämtern vom babylonischen König bestätigt“, sagt Kühne. Dies belegen weltweit einmalige Keilschrifttexte, die in assyrischer Sprache verfasst, aber mit einem babylonischen Datum versehen sind.

Das Ausmaß der Schäden durch den Bürgerkrieg ist völlig ungewiss

Trotz der ökologisch ungünstigen Lage war die Stadt sehr wohlhabend: Aufwendige Wandbemalungen und sogar Steinreliefs zierten die Räume der palastähnlichen Häuser – eine Ausstattung, wie man sie bis dahin nur aus den Hauptstädten kannte. Auf einen gehobenen Standard lassen auch manche Ausgrabungsobjekte schließen, die als Kopien am Institut in Berlin zu sehen sind: Becher, Schalen und ein bronzener Handspiegel mit eingravierten Gottheiten. Auch die handgroße Statuette eines Dämons kam wieder ans Tageslicht: Sie hing an der Wand eines Empfangssaales als Abwehrsymbol gegen Krankheiten.

Die Früchte der jahrzehntelangen Arbeit wollte Kühne von 2008 an auch den Einwohnern und Besuchern der Region Tell Schech Hamad zugänglich machen. In einem Projekt zur Bauwerkserhaltung, gefördert durch das Auswärtige Amt, wurde der Nordflügel des Roten Hauses bis 2010 instandgesetzt und begehbar gemacht. Tausende luftgetrocknete Lehmziegel in assyrischem Format wurden verbaut und mit einem witterungsbeständigen Lehmputz überzogen.

Ein Besucherzentrum und ein archäologischer Park waren geplant. Aber das Jahr 2010 sollte Hartmut Kühnes vorerst letzter Aufenthalt vor Ort werden. Der Krieg machte den Wissenschaftlern einen Strich durch die Rechnung; eine Rückkehr ist vorerst ausgeschlossen. Das Grabungsgelände ist durch Kämpfe zwischen der syrischen Armee und Rebellen und durch Raubgrabungen in Mitleidenschaft gezogen, das Grabungshaus geplündert. „Wie stark die Schäden sind, ist für mich nicht ersichtlich“, sagt Kühne. „Ich habe die Hoffnung, dass der unselige Bürgerkrieg bald zu Ende geht und dass das reiche syrische Weltkulturerbe ihn überstehen möge.“

Weitere Informationen

Im Internet: www.schechhamad.de