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Wissenschaft, Prognostik - und Fußball

12.06.2014

Unsere postmoderne Gesellschaft ist vernunftbesessen und irrational zugleich. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hat die Wissenschaft so zahlreiche Felder unseres Lebens beherrscht wie heute. Wir werden älter durch medizinische Forschung, ernähren uns auf der Grundlage biologischer Erkenntnisse und organisieren unseren Alltag am Leitfaden digitalisierter Systeme. Selbst das vermeintlich Private wird zum Gegenstand wissenschaftlicher Planung: das Zusammenleben der Paare, die Erziehung der Kinder, unsere Emotionen und Ängste bilden Objekte analytischer Untersuchungen.

In der Verwissenschaftlichung unserer Welt steckt aber zugleich ein Rest von Irrationalismus, nämlich die seit Urzeiten im Menschen schlummernde Sehnsucht nach der Vorhersagbarkeit der Zukunft. Wir glauben, meist unbesehen und ungeprüft, der Macht der Statistik.Was den Anschein wissenschaftlicher Genauigkeit hat, weckt sofort unser Vertrauen. Im alten Rom studierten die Auguren noch den Vogelflug, um an seiner Bahn die Zukunft vorherzusagen.

An den Platz der antiken Propheten und Seher sind heute die Statistiker, Ökonomen und empirischen Sozialforscher getreten. Sie wiegen uns in dem schönen Glauben, dass unsere Zukunft durch besseres Wissen beherrschbar sein wird. Nicht nur die Marktentwicklung, die Verkehrsplanung, das Verwaltungswesen, die Kommunikation oder das Wetter stehen im Bann analytischer Prognostik. Sogar seine Majestät, König Fußball, soll sich den Verkündigungen der Wissenschaft beugen.

Seit der WM in Japan und Korea vor zwölf Jahren arbeiten Harvard-Ökonomen mit einer spezifischen Methode, um den Turnierverlauf voraussehen zu können: Sie berechnen den Marktwert, den die Spieler einer Mannschaft haben, und setzen ihn in Beziehung zu Ergebnissen in früheren Endrunden und den Resultaten der Qualifikation.

Jürgen Gerhards, Professor für Soziologie an der Freien Universität, sein Kollege Gert G. Wagner vom DIW und der Technischen Universität sowie Michael Mutz von der Universität Göttingen haben die Harvard-Methodenweiterentwickelt, indem sie in ihre Analysen Faktoren wie das Einkommensniveau und die kulturelle Diversität der Spieler einfließen lassen.

Wer eine solide Einschätzung haben möchte, sollte ihre Prognosen beachten, denn sie lagen in den vergangenen Jahren immer richtig. Diejenigen, die lieber selber eine Prognose aufstellen, sollten den WM-Simulator von Professor Raúl Rojas und David Dormagen vomFachbereich Mathematik und Informatik der Freien Universität nutzen. (Über beide Methoden lesen Sie mehr auf Seite 4 dieser Beilage).

Und wer das Risiko liebt, der sollte nicht prophezeien, sondern wetten. Zum Beispiel auf einen Sieg Englands im Elfmeterschießen – da ist die Gewinnquote hoch. Den Beistand der Wissenschaft darf man dabei allerdings nicht erhoffen. Der berühmte britische Physiker Stephen Hawking etwa traut seinen Landsleuten in Brasilien keine größeren Erfolge zu: „As we say in science, England couldn't hit a cow's arse with a banjo.“ Was so viel heißen soll wie: Selbst wenn die Engländer noch so viel trainierten, träfen sie beim Elfmeterschießen nicht einmal ein offenes Scheunentor.

In letzter Konsequenz richtet sich der Fußball aber nicht nach Hawking und auch nicht nach Prognosen, sondern nach eigenen Gesetzen. Wer das Tor und wer die Kuh trifft, werden wir erst nach jedem Spiel wissen. Zum Glück.

Der Autor ist Präsident der Freien Universität Berlin.