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Brasilien - Land der Daumendrücker

12.06.2014

Warum die Brasilianer anders Fußball spielen

Ronaldinho, Fernandinho und Paulinho – brasilianische Fußballstars tragen häufig ihre Kosenamen auf dem Trikot. Ruth Tobias, Direktorin des Sprachenzentrums der Freien Universität und promovierte Romanistin, kennt die Vorliebe der Brasilianer für besondere Spitznamen, die sich zum Beispiel durch die Verkleinerungsform "inho" ausdrückt: "In Brasilien, wo man generell eher mit dem Vornamen angesprochen wird, sind derlei Spitznamen ziemlich gängig – auch im Fußball", sagt Tobias. Ronaldinho, "der kleine Ronaldo", ist als mehrfacher Weltfußballer des Jahres einer der ganz Großen im brasilianischen Fußball. In Deutschland ist es hingegen nur schwer vorstellbar, dass "Mariolein" auf dem Trikot des Nationalspielers Götze stünde oder Abwehrspieler Großkreutz mit "Kevinchen"-Trikot aufliefe. "Unsere Kultur zeigt sich immer auch in unserer Sprache. Spitznamen drücken in Brasilien Zuneigung und Bewunderung aus", erläutert Tobias.

Weil zum Verstehen anderer Länder mehr als nur die sprachliche Kompetenz gehöre, vermittele das Sprachenzentrum der Freien Universität in seinen Sprachkursen auch Sensibilisierung für andere Kulturen, sagt Ruth Tobias: "Das bedeutet, ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass die Vorstellung darüber, wie etwas zu sein hat, immer stark von unserer Kultur geprägt ist." So unterscheidet sich das Konzept von Zeit in Deutschland und in Brasilien. Was etwa der eine auf der Basis seines Zeitverständnisses als unhöflich bewerten würde, ist für den anderen absolut tolerierbar. Auch wie viel Abstand wir zu einer Person halten, ist kulturspezifisch. "Die deutsche Wohlfühlzone misst etwa eine Armlänge. In Brasilien ist es nur die Hälfte", sagt Tobias, die das Land von vielen Reisen kennt. Nicht selten komme es bei Begegnungen zum "brasilianisch-deutschen Tanz": Während der brasilianische Gesprächspartner immer näher rückt, weicht der deutsche Part zurück.

In Brasilien ist es außerdem nicht ungewöhnlich, den Gesprächspartner zu berühren, etwa die Hand auf den Unterarm des anderen zu legen. "Wer weiß, dass das Konzept von Nähe und Berührung in Brasilien anders ist, kann die Situation besser einordnen und versteht sie nicht als persönlichen Affront."

Es gibt weitere Beispiele, in denen sich Brasilianer und Deutsche unterscheiden. Deutsche, bekanntlich eine Nation aus 80 Millionen Bundestrainern, machen ihrem Frust nach einem verlorenen Spiel gerne mit hitzigen Kommentaren Luft. In Brasilien liegt die Sache etwas anders: "Negative Emotionen werden seltener öffentlich gezeigt", sagt Ruth Tobias. Das spiegelt sich auch in der Sprache wider: "Torcedor", das portugiesische Wort für Fan, stammt von dem Verb "torcer", was Daumendrücken bedeutet.

Ganz Brasilien also einig Volk der Daumendrücker? "Die Leidenschaft für Fußball gehört in Brasilien zum sozialen Leben, unabhängig vom Geschlecht und über Altersgruppen und Schichten hinweg", berichtet Tobias. Die anhaltenden Proteste für politische Reformen zeigten aber auch, dass Fußball in Brasilien nicht mehr über allem stehe.

200 Millionen Brasilianer lassen sich nicht alle in eine "kulturelle Schublade" stecken. Der Weltfußballverband FIFA hat es trotzdem versucht und im März einen Touristenratgeber für Brasilien herausgebracht: eine Sammlung von Klischees über Unpünktlichkeit oder chaotische Organisationsstrukturen, die für Empörung sorgte. Der Verband zog den Ratgeber schnell zurück. Gut beraten also, wer sich "um momentinho" nimmt, einen kleinen Augenblick Zeit, um kulturelle Vorurteile zu überdenken.