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Wandel durch Wiederholung

12.06.2014

Wissenschaftler des Sonderforschungsbereichs „Episteme in Bewegung“ befassen sich mit der Veränderung von Wissen jenseits wissenschaftlicher Revolutionen

Der Verfasser eines Codex, einer mittelalterlichen Handschrift, schrieb seinen Text mit dem Ziel, Wissen zu bewahren. Es ging ihm darum, die Lehre des großen Aristoteles’ an die folgenden Generationen getreulich weiterzugeben. Damit seine Leser diese Lehre noch besser verstünden, ergänzte er den Text durch Randbemerkungen, durch das Hinzufügen alternativer Lesarten und didaktischer Schemata. Damit erweiterte er das Wissen.

Es gibt viele solcher Beispiele für Formen der Überlieferung, die – gerade weil sie traditionsbildend sein wollten – zum Wissenswandel beitrugen. Wissensgeschichte ist deshalb nicht nur eine Reihe wissenschaftlicher Revolutionen oder grundlegender Wenden. Vielmehr finden Veränderungen dessen, was in einer Gesellschaft als gesichertes Wissen gilt und durch Institutionen wie Schulen, Akademien oder Universitäten vermittelt wird, meist über lange Zeiträume hinweg statt. Diese Idee steht im Mittelpunkt des Sonderforschungsbereichs (SFB) "Episteme in Bewegung" an der Freien Universität Berlin. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchen zunächst gleichsam unbemerkt ablaufende Veränderungen von Wissen von der Alten Welt bis in die Frühe Neuzeit. Um solche Prozesse präzise fassen zu können, haben sie den griechischen Begriff "Episteme" ins Zentrum ihrer Arbeit gestellt. Der Begriff bedeutet "Wissen" – in Abgrenzung zu praktischem Können und im Unterschied zu allein auf sinnlicher Wahrnehmung beruhendem Meinen oder Glauben.

"Unser Ziel ist es, die Wissensgeschichte um neue Modelle des Wandels zu bereichern", erklärt Gyburg Uhlmann, Professorin für Klassische Philologie und Sprecherin des Sonderforschungsbereichs. "Seit der Renaissance inszenieren die großen Denker ihren Beitrag zur Wissensgeschichte als Wende, als Revolution, als etwas vollständig Neues. Uns interessiert die Vielfalt der Möglichkeiten des Wandels, Fälle aus ganz unterschiedlichen Kulturen, in denen die Vorstellung einer Wende nicht greift." Solche gleichsam subkutanen, also unter der Oberfläche, ablaufenden Prozesse könne man nur in der Serie erschließen, erklärt Anita Traninger, habilitierte Romanistin, die als Teilprojektleiterin am Sonderforschungsbereich beteiligt ist: "Man blickt an verschiedenen Zeitpunkten auf eine Institution und versucht so, den Wandel zu beschreiben. Es zeigen sich oft subtile, aber doch in der Langfrist-Entwicklung entscheidende Veränderungen." Zudem seien einige der sogenannten Wenden gar nicht jene radikalen Brüche, als die sie in Polemiken oder auch in der Geschichtsschreibung inszeniert wurden, betont Anita Traninger.

Um das "dominante westlich-moderne Modell des Wissenswandels", wie es Gyburg Uhlmann nennt, zu hinterfragen und Wissensgeschichte als Globalgeschichte zu schreiben, gibt es in diesem Sonderforschungsbereich nicht allein Forschungsvorhaben, die sich mit dem alten Ägypten und der klassischen Antike sowie dem Mittelalter und der frühen Neuzeit in Europa beschäftigen: Einige Projekte erforschen auch Traditionsbildung und Wissenswandel in Korea oder Japan. An dem Sonderforschungsbereich sind viele sogenannte kleine Fächer beteiligt – eine der Stärken der Freien Universität Berlin.

"Für unsere Arbeit ist die Unterscheidung zwischen Eigen- und Fremdbeschreibung wichtig“, sagt Anita Traninger. Hätte man den Aristoteles-Kommentator im Mittelalter gefragt, was er tue, erklärt sie, hätte er über sich und seine Arbeit gesagt: "Ich konserviere ein Erbe. Ich gebe an die nächste Generation weiter, was wir als wichtig und richtig anerkannt haben, und ich stelle sicher, dass es weitergegeben wird." Zugleich entstehe aber auch Veränderung, die in der historischen Rückschau – der Fremdbeschreibung – sichtbar werde.

Auch ägyptische Schreiber kopierten ihrem Selbstverständnis nach lediglich vorhandenes Material. Doch auch sie trugen langfristig zu Veränderung bei, indem sie zum Beispiel alte Texte an neue Sprachgewohnheiten anpassten, "übersetzten" und Wortlisten zum besseren Verständnis anlegten. "Wissen wird immer in die eigene Gegenwart übertragen, aus der Perspektive der eigenen Geschichte gesehen", erklärt Gyburg Uhlmann. "Wissen ist kein Paket, das von einem zum anderen weitergegeben wird", ergänzt Anita Traninger. Es sei an Praktiken gebunden und werde über verschiedene Medien vermittelt. Am Wissenstransfer seien immer Akteure beteiligt mit Interessen, Vorlieben und Abneigungen. Er sei deshalb stets ein Prozess kreativer Anverwandlung.

Das gilt auch für die Form des Wissenswandels, die im Zentrum der diesjährigen Jahrestagung des Sonderforschungsbereichs steht: Veränderung durch Wiederholung. "Die Institutionen, die wir untersuchen, gelten als Kreativitätsblockierer", sagt Anita Traninger, die die Konferenz mitorganisiert hat. "Ihr Ziel ist es, durch Wissensweitergabe Stabilität herzustellen, indem etwa Generationen von Schülerinnen und Schülern auf die immer gleiche Art ausgebildet werden und ihnen kanonisches Wissen vermittelt wird." Die typische Sicht sei, dass Wandel außerhalb von Institutionen wie Schule stattfinden müsse, weil Veränderungen in einem strikten Rahmen nicht möglich seien. "Diese Sicht wollen wir in Frage stellen."

Weitere Informationen

Die Jahrestagung "Iteration and/as Transformation of Knowledge" findet vom 3. bis 4. Juli in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften statt. Den öffentlichen Abendvortrag am 3. Juli hält der Rechtshistoriker und frühere Akademiepräsident Dieter Simon. Er wird zeigen, wie eine auf Stabilität ausgerichtete Institution wie die Rechtssprechung schon allein dadurch, dass ständig Recht gesprochen wird, subtilen Wandelprozessen unterliegt.

Mehr Informationen finden Sie auf der Webseite des SFB "Episteme in Bewegung".