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Eine deutsch-deutsche Zwischenbilanz 25 Jahre nach dem Fall der Mauer

Den Schrecken verloren: Einen Tag nach der Grenzöffnung am 9. November 1989 ist die Berliner Mauer am Brandenburger Tor ein beliebter Ort für ausgelassenes und friedliches Feiern. Für Ost- und Westberliner gleichermaßen.

Den Schrecken verloren: Einen Tag nach der Grenzöffnung am 9. November 1989 ist die Berliner Mauer am Brandenburger Tor ein beliebter Ort für ausgelassenes und friedliches Feiern. Für Ost- und Westberliner gleichermaßen.
Bildquelle: Lear 21, wikicommons.org, CC BY-SA 3.0

Die Deutschen jammern, fluchen oder jubeln inzwischen über vieles gemeinsam – wie jüngst beim Gewinn der Fußballweltmeisterschaft. Und auswärtige Gäste vermögen kaum noch Unterschiede zwischen ehemaligen Bundes- und DDR-Bürgern zu sehen. Doch unter dieser vermeintlich einheitlichen Oberfläche schlummern weiterhin nachwirkende Kräfte des Lebens in gegensätzlichen Gesellschaftssystemen: Viele neue Bundesbürger sind nach wie vor infiziert vom mentalen Gift der sozialistischen DDR, viele alte Bundesbürger trauern vergangenen Zeiten nach.

Fortbestehende Differenzen zwischen Ost und West zeigen sich im Wahlverhalten, im politischen und ehrenamtlichen Engagement sowie in den Einstellungen zu Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Zwar haben sich seit 1990 Einstellungen in die eine oder andere Richtung verändert und manchmal sogar angenähert, aber der politische und mentale Graben existiert weiterhin.

Nach wie vor existieren auf beiden Seiten Vorurteile – auch bei Jüngeren

Quasi über Nacht mussten sich die Ostdeutschen in einem Gesellschaftssystem zurechtfinden, das konträr zu ihrem gewohnten stand. Sofort begann ein Anpassungsprozess, der nicht ohne Brüche und Reibungsverluste verlaufen konnte. Darüber hinaus blieb ihnen wenig Zeit, ihre Lebenserfahrungen in der DDR zu verarbeiten. Stattdessen verdrängten viele die Vergangenheit und konzentrierten sich auf die aktuellen Herausforderungen des grundlegend veränderten Alltags. Die nach der Vereinigung erforderlichen Werte und Normen hatten viele Ostdeutsche nicht erlernen können. Es mangelte an unabhängigem Geist, Selbstbewusstsein, angemessenem Umgang mit Freiheit sowie Verantwortung gleichermaßen für sich selbst wie für das Gemeinwesen. So kann es nicht verwundern, wenn diese Dimensionen einer zivilen Gesellschaft nach der Wiedervereinigung ein nur zartes Pflänzchen darstellten.

Die Spätfolgen eines gescheiterten totalitären sozialistischen Systems überlagern bis heute das durchaus vorhandene Engagement Einzelner. Die positiven Veränderungen im Gesundheitswesen, bei der Ernährung und in der psychischen Verfassung dürften für eine in Anbetracht der Kürze der Zeit geradezu sensationelle Verlängerung der – zu DDR-Zeiten um mehrere Jahre niedrigeren – mittleren Lebenserwartung verantwortlich sein. Sie stieg schon im ersten Jahrzehnt nach dem Fall der Mauer um mehr als vier Jahre.

In den Jahren danach setzte sich der Trend in beiden Landesteilen fort. Inzwischen hat die Lebenserwartung ostdeutscher Frauen mit der westdeutscher gleichgezogen, und die Lebenserwartung von Männern hat sich bis auf gut ein Jahr angeglichen. Dieser in der neueren Geschichte einmalige sprunghafte Anstieg stützt die These einer weitgehenden Angleichung der materiellen Lebensbedingungen in nahezu allen sozialen Schichten. Noch bestehende Unterschiede – insbesondere in der Oberschicht – haben jedenfalls keine Auswirkungen auf die durchschnittlichen Lebensbedingungen und die Lebenserwartung.

Die Deutschen in Ost und West – zumindest eine beträchtliche Anzahl der älteren von ihnen – sind einander auch 25 Jahre nach dem Mauerfall noch fremd geblieben und sehen die Einheit stark interessengeleitet. Obschon Westdeutsche überwiegend die hohen Kosten der Vereinigung tragen und Wohlstandseinbußen in den Sozialversicherungssystemen hinnehmen mussten, blieb Kritik an der Vereinigung und die Beurteilung der Ostdeutschen eher verhalten.

Anders als im Osten, wo Vereinigungskritiker von Beginn an mit der Partei des Demokratischen Sozialismus ein Sprachrohr hatten, fanden die Westdeutschen im politischen Raum zumindest auf der Ebene der Parteien keinen Resonanzboden. Mehrheitlich zeigten sie sich desinteressiert an der Vereinigung und den Ostdeutschen und nehmen weiter die Folgen der Wiedervereinigung nachgerade fatalistisch hin. Unterschwellig jedoch dürfte vor allem in strukturschwachen Regionen bei vielen Menschen Unverständnis gegenüber dem hohen Grad an Unzufriedenheit im Osten vorherrschen; diese Enttäuschung der Ostdeutschen richtet sich Umfragen zufolge gegen das politische und ökonomische System.

Wechselseitige Vorurteile existieren weiterhin – auch bei den Jüngeren, die diese von Älteren übernehmen, wie Studien zeigen. Westdeutsche halten Ostdeutsche für unzufrieden, misstrauisch, ängstlich und zurückhaltend, umgekehrt charakterisieren Ostdeutsche die Westdeutschen als arrogant, aufs Geld bezogen, selbstbewusst und oberflächlich. Dabei gibt es eine Ost-West-Schieflage, das heißt, viele Westdeutsche billigen Ostdeutschen mehr positive Eigenschaften zu als umgekehrt Ostdeutsch Westdeutschen.

Auch fallen Negativbewertungen durch Ostdeutsche intensiver aus. Noch stärker differiert das Selbstbild. Während sich Westdeutsche mehr negative als positive Eigenschaften zuordnen, sehen sich Ostdeutsche vor allem positiv. Die Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl entschied sich für einen konsumorientierten Transformationsprozess, der bis heute mit hohen finanziellen Kosten verbunden ist. Hierdurch erlebten in den vergangenen 24 Jahren die meisten ostdeutschen Haushalte eine in der Geschichte beispiellose positive Entwicklung des materiellen Lebensstandards. Überspitzt formuliert kann man sie als Wohlstandsexplosion ohne wirtschaftliches Fundament bezeichnen. Die realen Haushaltseinkommen im Osten erreichen inzwischen etwa 90 Prozent des Westniveaus; der Anteil der Geldvermögen stieg von unter 20 Prozent im Jahr 1990 auf knapp 60 Prozent im Jahr 2013, und die Renten sind im Osten weiterhin höher als im Westen.

Als Trugschluss erwies sich die Annahme der Regierung Kohl, es komme nach vorübergehenden Transferzahlungen für den „Aufbau Ost“ sehr schnell zu einem sich selbst tragenden Wirtschaftsaufschwung, der zumindest das Ausmaß der finanziellen Aufwendungen verringern würde. Das genaue Gegenteil trat ein: Im Laufe der Jahre stiegen die jährlichen Kosten weiter an.

Auch 25 Jahre nach dem Mauerfall besteht ein hoher Finanzbedarf, um insbesondere durch Sozialtransfers den inzwischen erreichten Lebensstandard im Osten zu halten. Addiert man alle Transfers, die aus Bundesmitteln und von der Europäischen Union seit 1990 in den deutschen Osten geflossen sind, ergibt sich nach Schätzungen eine Summe zwischen 1,6 und knapp 2 Billionen Euro. Allerdings ist umstritten, ob es sich um „Wiedervereinigungskosten“ handelt, denn der Großteil der Zahlungen fließt aufgrund gesamtdeutsch geltender Regelungen, etwa beim Länderfinanzausgleich und bei den sozialen Transfers.

Gleichwohl wären die Kosten ohne die Wiedervereinigung nicht entstanden. Unabhängig davon sind diese hohen Transfers politisch und moralisch gerechtfertigt; schließlich hatten die Ostdeutschen ein Vielfaches mehr von der finanziellen Last des gemeinsam verlorenen Krieges zu tragen. Deutschland hat sich aber nicht nur wegen des Vereinigungsprozesses in den vergangenen 25 Jahren stärker verändert als es den meisten bewusst ist; eine große Rolle spielten auch die Entwicklungen in einer globalisierten Welt seit dem Mauerfall. Dabei hat sich das vereinte Deutschland wohl nicht stärker westlich, sondern eher östlich orientiert, es ist eher links als rechts, eher sozialdemokratisch als liberal- konservativ und eher staats- als marktbezogen geworden.

Deutsche in Ost und West können stolz auf die Vereinigung sein

Zwar existieren zwischen alten und neuen Bundesbürgern weiterhin große Unterschiede in Einstellungen, Werteordnungen und politischen Auffassungen, aber der Veränderungsprozess läuft schon lange nicht mehr ausschließlich von Ost nach West, sondern in vielerlei Hinsicht auch in umgekehrter Richtung. Unter dem Strich können die Deutschen auf das nach der Vereinigung Geschaffene in Ost und West mit einigem Recht durchaus stolz sein, denn schließlich ist erreicht worden, was kaum noch für möglich gehaltenwurde: Deutschland hat sich friedlich und in Freiheit vereint und bisher keine Großmachtallüren gezeigt, auch gibt es keine separatistische Bewegung.

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft und Leiter des Forschungsverbunds SED-Staat an der Freien Universität