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Wenn die Barriere durchlässig wird

Bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen spielen nicht nur gefährliche Keime, sondern auch das Immunsystem des Menschen eine entscheidende Rolle

Innenansichten: Bei der Langen Nacht der Wissenschaften können Besucher durch den sogenannten begehbaren Darm spazieren.

Innenansichten: Bei der Langen Nacht der Wissenschaften können Besucher durch den sogenannten begehbaren Darm spazieren.
Bildquelle: Freie Universität Berlin

Seine Oberfläche nimmt etwa die Hälfte eines Fußballfeldes ein, seine „multikulturelle“ Kompetenz ist vorbildlich und ohne ihn könnten wir nicht überleben: Der menschliche Darm ist ein hochkomplexes Organ, das nicht nur die Versorgung des Körpers mit Nährstoffen sicherstellt, sondern auch eine wichtige Rolle in der Immunabwehr spielt. „Der Darm ist die Stelle, an der wir uns ununterbrochen mit unserer Umwelt auseinandersetzen. Hier wird unser Immunsystem geschult und lernt, tolerant zu sein“, sagt Professorin Britta Siegmund von der Charité – Universitätsmedizin Berlin, dem gemeinsamen Fachbereich von Freier Universität und Humboldt-Universität.

Im Sonderforschungsbereich 633 verbinden sie und ihr Team Grundlagenforschung mit klinischer Praxis. Sie wollen so nicht nur zu einem besseren Verständnis der Prozesse kommen, die bei Entzündungen im Darm ablaufen, sondern auch neue Behandlungsansätze für chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (CED) wie Morbus Crohn entwickeln. In den vergangenen Jahrzehnten hat die Anzahl der Patienten mit CED erheblich zugenommen – offenbar als Konsequenz verbesserter Lebensbedingungen: „Wir beobachten, dass diese Art von Erkrankungen bei uns nach dem Zweiten Weltkrieg und – mit einer Verzögerung von etwa 15 Jahren – nun auch in China verstärkt auftritt. Der höhere Lebensstandard und die verbesserten Hygienebedingungen spielen dabei offenbar eine entscheidende Rolle“, sagt Britta Siegmund.

Mehr als 1000 Patienten mit CED werden an Siegmunds Arbeitsplatz, dem Campus Benjamin Franklin der Charité in Steglitz, betreut. Darunter befinden sich zunehmend sehr junge Patienten. „Auch Stress ist wohl ein Auslöser: Viele Menschen erkranken in persönlichen Umbruchphasen“, sagt die Chefärztin.

Der Darm ist ein langer, gewundener Schlauch, in dem der Nahrungsbrei transportiert und nach und nach in seine molekularen Bestandteile aufgespalten wird. Bei der Zerkleinerung der Nahrungsbestandteile hilft eine Vielzahl von Bakterien, die den Darm besiedeln. „Was im Darm eigen und was fremd ist, ist schon fast eine philosophische Frage“, sagt Britta Siegmund. „Manche Bakterien begleiten uns unser Leben lang.“ Und das ist auch gut so, denn ohne diese Kulturen würde die Verdauung nicht richtig funktionieren. Daher muss das Immunsystem lernen, nützliche Kulturen von schädlichen zu unterscheiden.

Entzündungen müssen sofort behandelt werden

Wenn sich bestimmte Keime im Darm zu sehr ausbreiten, mischen sich Immunzellen ein und versuchen, die alte Ordnung wiederherzustellen. Bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis Ulcerosa gelingt es dem Immunsystem des Darmes nicht mehr, die Vermehrung der Bakterien zu regulieren. In der Folge wandern schädliche Keime durch die Darmwand hindurch, dringen in umliegende Körperzellen ein und lösen Entzündungsreaktionen aus. „Beim gesunden Menschen ist die Darmwand eine natürliche Barriere. Die Darmoberfläche hat eine Art antimikrobielle Beschichtung, die verhindert, dass Keime eindringen“, sagt Britta Siegmund.

„Bei Patienten mit CED wird die Barriere durchlässig.“ Ist erst einmal eine Entzündung entstanden, wird es für den Körper immer schwerer, der Lage Herr zu werden. Das Einwandern der Immunzellen in das betroffene Gewebe verstärkt dessen Durchlässigkeit, und immer mehr Bakterien breiten sich ungehindert aus. „Es ist wichtig, dass Entzündungen sofort erkannt und behandelt werden. Sonst führen sie zu strukturellen Veränderungen im Körper. Dann wird die Erkrankung chronisch“, sagt Siegmund.

Der Leidensdruck bei CED ist enorm. Im schlimmsten Fall könnten sie sogar zu Arbeitsunfähigkeit führen, sagt die Medizinerin: „Bis in die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts sind bis zu 40 Prozent der Patienten an solchen Entzündungen gestorben. Heute geht es vor allem um die Lebensqualität.“ Denn heilbar seien die chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen noch immer nicht. Auch deshalb sei es wichtig, Grundlagenforschung und klinische Praxis zusammenzubringen und die Mechanismen der Krankheitsentwicklung besser zu verstehen.

„Praktiker sehen häufig Dinge am Patienten, für die es zunächst keine Erklärung gibt, und den Grundlagenforschern fehlen die Patienten“, sagt Siegmund. Durch die enge Verzahnung von Forschung und Praxis an der Charité sei vieles heute schon wesentlich besser verstanden als noch vor einigen Jahren. „Das ist entscheidend, um neue Behandlungsansätze zu finden.“