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Wenn das stärkste Gelenk im Körper schwach wird

Wie Kniearthrose durch ein spezielles Training gestoppt werden könnte und welche Rolle die Nährstoffversorgung des Gelenks spielt, untersuchen Mediziner, Chemiker, Psychologen und Mathematiker in einem neuen Forschungsverbund

Schutz für das am meisten belastete Gelenk des Körpers: In vielen Fällen lässt sich eine Operation durch Bewegungstraining vermeiden.

Schutz für das am meisten belastete Gelenk des Körpers: In vielen Fällen lässt sich eine Operation durch Bewegungstraining vermeiden.
Bildquelle: Jan Otto/istockphoto

Anfangs sticht es beim Treppensteigen im Knie, später werden selbst kurze Spaziergänge zur schmerzhaften Tortur: Die Kniearthrose gehört zu den häufigsten Verschleißerkrankungen des Bewegungsapparates. Wie Patienten motiviert werden können, sich trotz Schmerzen angemessen zu bewegen, welche Rolle Bewegung für das Knie in unterschiedlichen Altersphasen spielt und welche Prozesse sich dabei auf molekularbiologischer Ebene abspielen, wird in einem Projekt der Focus Area DynAge der Freien Universität untersucht. Die Focus Area ist ein Forschungsverbund von Freier Universität und Charité und befasst sich mit Erkrankungen im Verlauf einer Lebensspanne.

Das Knie trägt die größte Last aller Gelenke im Körper – entsprechend stellen sich mit zunehmendem Alter Verschleißerscheinungen ein. Begünstigt werden diese durch Fehlstellungen und damit verbundene Fehlbelastungen – etwa bei X- oder O-Beinen, als Folge eines Kreuzbandrisses oder einer Meniskusverletzung. Auch Übergewicht ist ein Risikofaktor: Mit jedem Kilo steigen der mechanische Druck auf die Gelenke sowie die Gefahr einer Gelenkentzündung. Wird der Knorpel im Gelenk zu stark oder zu wenig belastet, degeneriert er und erfüllt seine Gleitfunktion nicht mehr: Die Knochen reiben aufeinander, es stellen sich starke, chronische Schmerzen ein. Neben den negativen Auswirkungen auf die Lebensqualität der Erkrankten hat die Kniearthrose enorme Auswirkungen auf die Sozialkassen. „Die Kosten für Behandlung und Folgen liegen bei rund drei Milliarden Euro pro Jahr“, sagt Wolfgang Ertel, Professor für Unfallchirurgie der Charité-Universitätsmedizin Berlin und Direktor der Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie am Campus Benjamin Franklin (CBF). Um Schmerzmedikamente und Operationen zu vermeiden, sei es wichtig, frühzeitig vorzubeugen.

Zusammen mit dem Leiter des Zentrums für Muskel- und Knochenforschung am CBF, Professor Dieter Felsenberg, setzt Ertel in einem neuen Projekt auf ein Muskeltraining über ein speziell für medizinische Zwecke entwickeltes Vibrationsgerät. Es ermöglicht einen extrem schnellen Muskelaufbau, getestet unter anderem in weltraummedizinischen Studien mit der Europäischen Weltraumbehörde ESA. „Aus den Studien wissen wir: Je besser der umliegende Muskel trainiert ist, desto weniger leicht entwickelt sich Osteoporose am Knochen“, sagt Felsenberg. „Um die Abnutzung des Knorpels im Kniegelenk zu verlangsamen oder sogar stoppen zu können, untersuchen wir nun die Interaktionen zwischen Muskel und Knorpel."

Erkrankungen des Knies belasten die Sozialkassen

Durch die gezielte mechanische Belastung werde der Muskel trainiert und der Knorpel besser versorgt, so die These der Mediziner. Bei einer Arthrose und der damit einhergehenden Knorpelschädigung lägen stets Störungen der Ernährungssituation des Knorpels vor, sagt Felsenberg: „Der Knorpel muss immer gewalkt werden, dadurch werden Nährstoffe und Zellinformationen verteilt.“

Wie diese Versorgung des Knorpels genau vonstatten geht, wollen Ertel und Felsenberg mit Wissenschaftlern der Focus Area herausfinden. Damit betreten die Forscher Neuland. „Wir wissen aus zahlreichen Studien, wie wichtig Bewegung für die Gelenke ist“, sagt Ertel. „Wir wissen aber nicht, welche Signalstoffe dafür sorgen, dass Stammzellen produziertwerden, die den Knorpel regenerieren.“ Dies soll in den kommenden vier Jahren erforscht werden und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit insgesamt fünf Millionen Euro gefördert. „Wir beginnen im Frühjahr 2015 mit der Zusammenstellung der Studienteilnehmer, im Sommer startet das Training“, sagt Ertel. Die Teilnehmer müssen sich unter anderem zwei orthopädischen „Mini-Eingriffen“ unterziehen, sagt der Orthopäde: „Einmal wird Muskelgewebe an der Wade entnommen, einmal Knorpel- sowie Gelenkkapselgewebe.“

Die Gewebeproben gehen an Professorin Petra Knaus vom Institut für Chemie und Biochemie an der Freien Universität Berlin, die mit ihrem Team die Zusammenhänge von biomechanischen und biochemischen Signalen erforscht. Auf Grundlage der gewonnenen Daten erstellen Stephan Zachow vom Zuse-Institut Berlin und Max von Kleist vom Fachbereich Mathematik und Informatik der Freien Universität dreidimensionale Modelle etwa zur Knorpeldecke. An der Studie teilnehmen können nur Patienten mit einer moderaten Arthrose, die dauerhaft unter Schmerzen leiden, bei denen der Knorpel aber noch nicht vollkommen zerstört ist. Wichtig ist zudem, dass die Teilnehmer aus der Region Berlin kommen, denn sie sollen dort bis zu dreimal pro Woche unter ärztlicher Aufsicht trainieren, danach noch ein weiteres Jahr auf eigene Faust. Ob die Motivation so lange anhält? Hier kommen die Gesundheitspsychologen um Nina Knoll ins Spiel. Sie untersuchen, welche Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, damit Patienten beim Training am Ball bleiben. Ertel ist da zuversichtlich. „Wer Schmerzen hat und merkt, dass sich diese durch regelmäßige Bewegung verringern, trainiert freiwillig.“

Weitere Informationen

Focus Area DynAge

Die Focus Areas wurden an der Freien Universität im Rahmen der Exzellenzinitiative etabliert. In diesen fächerübergreifenden Forschungsverbünden arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen über einen längeren Zeitraum gemeinsam an komplexen Forschungsfragen von hohem gesellschaftlichem Wert. So werden innovative Projekte konzipiert, erste Vorarbeiten geleistet und gemeinsame Forschungsanträge entwickelt, um drittmittelfinanzierte Großprojekte zum Thema zu ermöglichen.

In Kooperation zwischen der Freien Universität und der Charité wurde 2013 die Focus Area DynAge gegründet. Sprecher sind Professorin Nina Knoll (Freie Universität) und Professor Ulrich Keilholz (Charité). Ziel ist es, grundlegende Erkenntnisse zur Entstehung und Entwicklung akuter und chronischer Krankheiten über die Lebensspanne zu gewinnen. Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaftler forschen zusammen mit medizinischen Experten der Charité – Universitätsmedizin Berlin, dem gemeinsamen medizinischen Fachbereich der Freien Universität und der Humboldt-Universität.

Bei DynAge stehen vier besonders häufig auftretende Krankheitsgruppen im Zentrum: Tumorerkrankungen, kardio-vaskuläre Erkrankungen, degenerative Erkrankungen des Bewegungsapparates sowie kognitive Störungen/Depression. Mit einem ähnlichen Ansatz wie beim Kniearthrose-Projekt wird im Rahmen der Focus Area ein weiteres Projekt zu einer Schwachstelle des menschlichen Bewegungsapparat entwickelt: zum Rücken, speziell zur Lendenwirbelsäule.