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Wenn das Auge mitisst

Die kulturelle Bedeutung des Essens in Japan

Ästhetisch durch den Alltag. Anders als eine schnöde deutsche Brotdose sieht eine japanische Bento-Box aus.

Ästhetisch durch den Alltag. Anders als eine schnöde deutsche Brotdose sieht eine japanische Bento-Box aus.
Bildquelle: usako/otolia

Besonders zur Weihnachtszeit ist hierzulande gutes Essen vielen Menschen wichtig – dann widmen sie der Zubereitung oftmals mehr Zeit als sonst im Jahr. In Japan jedoch pflegt man das ganze Jahr über eine aufwendige Esskultur – in ihr zeigt sich sogar der Stolz auf die eigene Nation, wie die Japanologin Irmela Hijiya-Kirschnereit analysiert hat. Für ihre Untersuchungen zur kulturellen Bedeutung des Essens hat sie den diesjährigen Wissenschaftspreis für Kulinaristik von dem in der Region Rhein-Neckar angesiedelten Kulinaristik-Forum verliehen bekommen, einem Netzwerk für Kultur- und Lebenswissenschaften.

In Japan ist Essen nicht einfach Essen. Die Zubereitung der Speisen und ihr Verzehr haben immer auch eine ästhetische und kreative Seite. „Seit Beginn der Moderne hat sich washoku – die japanische Küche – in erster Linie in Abgrenzung zu yoshoku, dem westlichen Essen, definiert“, sagt Irmela Hijiya-Kirschnereit, Japanologie-Professorin an der Freien Universität und Direktorin der Friedrich- Schlegel-Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien.

Die Leibniz- Preisträgerin zählt zu den wichtigsten Persönlichkeiten in der internationalen Japanforschung und erhält für Ihre Verdienste am kommenden Donnerstag in Tokio den Preis der National Institutes for the Humanities (NIHU). Die japanische Küche habe über die Jahrhunderte hinweg viele Einflüsse aus China, Korea und dem Mittelmeerraum aufgenommen, wie die kleinen frittierten Tempura aus Portugal, die heute als typisch japanisch gelten.

Das Credo der japanischen Küche: saisonal, frisch und ansprechend

Die Grundprinzipien der japanischen Küche sind: Saisonalität, Frische und immer ein Hauch Überraschung. Das Besondere: Alles kommt gleichzeitig auf den Tisch, sodass man sich zuweilen kaum entscheiden kann, was man zuerst essen möchte. Und alles ist hübsch und appetitlich arrangiert. Wichtig ist die Gesamtkomposition: Die einzelnen Zutaten, die Dekoration, ja, selbst das Geschirr, von dem man speist, und mitunter auch die gesamte Raumgestaltung sind an der Jahreszeit orientiert und aufeinander abgestimmt.

Im Winter kämen beispielsweise Eintöpfe mit Wintergemüsen und Pilzen, Wildschwein oder Seeteufel oder aber Abalone und Ginkgonüsse auf denTisch, sorgfältig angerichtet und dekoriert – etwa mit Kiefernnadeln, sagt die Japan- Expertin. Das Geschirr sei idealerweise in kühlen Winterfarben gehalten und entspreche auch im Material der Jahreszeit. Es sei also aus Ton, eventuell mit goldener Lackierung. In der Bemalung zeige sich ebenfalls ein Bezug zur Natur, zum Beispiel durch eine Zeichnung oder ein Wintergedicht.

Außerdem haben viele Nahrungsmittel in der japanischen Dichtung die Funktion von Jahreszeitenwörtern (kigo). Das Würzkraut mitsuba beispielsweise steht in der Dichtung für den Winter, erläutert Irmela Hijiya-Kirschnereit. So wird in Japan der Wechsel der Jahreszeiten auch in den von Menschen dicht bevölkerten Großstädten dadurch erlebbar, wie man isst.

Schöne Alternative zum guten alten Pausenbrot: die stilvolle Bento-Box

Das Japanische an der japanischen Küche ist also weniger eine besondere Garweise oder Methode, Gemüse zu schneiden, sondern das Gesamtkonzept: der hohe Grad an Ästhetisierung und das Bestreben, in den Gerichten eine Nähe zur Natur herzustellen. Wie aufwendig! – kommt einem in den Sinn. Und: Wird das heute überhaupt noch praktiziert? Natürlich ist es in Japan wie in jeder anderen hoch industrialisierten Gesellschaft auch: Essen, bei denen die ganze Familie gemeinsam die aufwendig zubereiteten Speisen verzehrt, sind eher selten.

„Und doch ist die Tradition der japanischen Küche auch noch im Alltag der japanischen Durchschnittsfamilie zu erkennen“, sagt Irmela Hijiya- Kirschnereit. „Zum Beispiel in den liebevoll gestalteten Bento-Boxen.“ Bento-Boxen sind Lunchdosen, die japanische Frauen für ihren Ehemann und ihre Kinder packen. In ihnen wird deutlich, wie sehr in Japan das Auge mitisst: Onigiri – Reisbällchen – bekommen dann ein Gesicht und kleine Hüte aus Gemüse; blaugefärbter Reis wird zum Meer, in dem zwei Kraken aus Wienerwürstchen schwimmen oder zum Himmel, vor dem Gänse aus Pilzen fliegen.

„Die Gestaltung und Zubereitung der Bento-Boxen kann eine Möglichkeit sein, sich kreativ zu entfalten – und das kompensiert dann wieder den ganzen Aufwand“, erklärt Irmela Hijiya-Kirschnereit. Und diverse deutsche Bento-Boxen-Blogs geben ihr Recht. Die Kunst des Essens hat offenbar auch Europa erreicht und wird einerseits als kreatives Hobby praktiziert, andererseits als kinderfreundliche Alternative zum guten deutschen Pausenbrot verwendet – und führt wohl nicht zu übermäßigem Stress, sondern vielmehr zu guter Laune.

Im vergangenen Jahr wurde die japanische Küche von der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) zum immateriellen Kulturerbe erklärt. Natürlich sei mit der Bewerbung um diesen Titel auch die Hoffnung verbunden gewesen, sich wirtschaftlich als Exporteur von Nahrungsmitteln zu positionieren, mutmaßt die Wissenschaftlerin. Aber die Auszeichnung sei auch ein Signal an die japanische Bevölkerung, „die kostbare Tradition der japanischen Küche zu pflegen“.

Werbekampagnen appellieren an den Nationalstolz

Im Nachrichtendienst WhatsApp ist die japanische Küche jedenfalls angekommen, neben Hamburger, Fritten und Sahnetorte lassen sich dort ein visuelles Onigiri, Sushi und natürlich eine Bento-Box versenden. In der digitalen Bento-Box von WhatsApp ist auch zu erkennen, dass Essen in Japan stark mit Nationalstolz verbunden ist – der Reis mit der Trockenpflaume in der Mitte bildet ganz zufällig die japanische Flagge.

In ähnlicher Manier appellieren Werbekampagnen an den Nationalstolz der Japaner: „Der Sport-Drink Samurai zum Beispiel transportiert Assoziationen zu Männlichkeit, Kriegertum und Nationalethos“, sagt die Japanologin von der Freien Universität. Überhaupt ist der Werbeeffekt von Essen in Japan geradezu erstaunlich: Speisen fungieren dort offenbar als Blickfang für Produkte, die auch bei genauerem Hinsehen nichts mit Nahrung zu tun haben, etwa für einen besonders günstigen Telefonvertrag, der mit Sushi beworben wird.

„Essen erfüllt in der japanischen Werbung den gleichen Zweck, den nackte Haut in der europäischen Reklame hat“, erläutert Irmela Hijiya- Kirschnereit. Um japanisch zu essen, muss man heute glücklicherweise nicht mehr zwingend nach Japan reisen – japanische Restaurants gibt es mittlerweile überall. Allerdings sind die Speisen häufig an lokale Verhältnisse und Geschmäcker angepasst und haben demnach wenig mit einem kulinarischen Erlebnis à la Japan gemein. Ein Umstand, dem die japanische Regierung 2007 mit einer Zertifizierung japanischer Restaurants im Ausland entgegenwirken wollte. Aus der Sushi-Polizei, wie Irmela Hijiya-Kirschnereit sie nennt, wurde aber nichts. So muss man sich zwar zuweilen auf die Suche machen, doch auch hierzulande gibt es japanische Restaurants, die ihren Besuchern ein authentisches kulinarisches Erlebnis bescheren.