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Das geteilte Volk

Am Institut für Judaistik forscht man inklusiv

18.05.2015

In Deutschland haben Menschen jüdischer Herkunft unvorstellbare Gräuel erlebt. Dennoch interessieren sich viele Historiker vor allem für die Gegner dieser Weltreligion – für Antisemiten und deren Motive. Am Institut für Judaistik der Freien Universität Berlin dominiert ein anderer Schwerpunkt: Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erforschen an erster Stelle die Geschichte des Judentums. „Die Gründer des Instituts wollten wissen, was das Judentum ist und nicht, wie Antisemitismus funktioniert“, sagt Professorin Tal Ilan. Sie widmet sich vor allem rabbinischer Literatur, den Schriften von Qumran und Geschlechterfragen.

Dabei verstehe sie sich als Antikenforscherin, sagt Tal Ilan. „Mich interessiert die Entstehung des Judentums, aber auch der Zeitraum von 1000 v. Chr. bis 500 n. Chr. und die Geschichte des persischen, römischen, hellenistischen und byzantinischen Reichs.“ Entscheidend in der Geschichte des Judentums ist die biblische, vorchristliche Ära, die mit der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des ersten Tempels durch den babylonischen König Nebukadnezar II. im Jahr 586 v. Chr. endet. „Das Judentum ist von da an ein geteiltes Volk. Einige Menschen bleiben in der Heimat, andere wiederum werden vertrieben und müssen in der Diaspora leben.“ Dieses Wechselspiel zwischen Heimat und Diaspora sei prägend bis heute.

Das Institut für Judaistik, das 1964 als erstes in Deutschland gegründet wurde, verfügt über zwei reguläre Professuren und deckt die ganze Geschichte des Judentums ab: von der Entstehung in der Antike über die Neuzeit bis hin zur Gründung des Staates Israel. „Zwei Professoren können nicht Spezialisten auf allen Gebieten sein. Deswegen haben wir in der Forschung Schwerpunkte gesetzt: die Antike und das Mittelalter. Die Moderne ist aber Teil der Lehre“, sagt Tal Ilan. Sie selbst beschäftigt sich mit der Antike. Ihr Kollege Giulio Busi hingegen konzentriert sich auf das Mittelalter und wird dabei von dem Juniorprofessor Lukas Mühlethaler unterstützt.

Die Judaistik ist ein textintensives Fach. Deswegen ist die erste Voraussetzung für alle Studierenden, Hebräisch zu lernen. Es ist die Sprache, in der alle entscheidenden Schriften verfasst sind. Bei der Erforschung geht es um die kritische Lektüre dieses Quellenmaterials. „Wir sprechen über Juden und forschen über Juden, aber es ist weder eine Voraussetzung, Jude zu sein, noch ein Vorteil. Für uns in der Judaistik ist allein das historische Quellenmaterial wichtig“, sagt Tal Ilan.

Das Institut verfolgt einen inklusiven Ansatz: Es ist offen für unterschiedliche Blickwinkel und wagt den jüdisch-muslimischen wie auch den jüdisch-christlichen Vergleich. Außerdem arbeiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit arabischen und iranischen Kollegen zusammen. „Es gibt keine Beschränkungen“, sagt Ilan. „Wir wollen jüdische Themen sachlich betrachten, nicht emotional. Nur so lässt sich verstehen, was das Judentum wirklich ist.“