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Gegen Feuer, Wasser und das Vergessen

Das Archiv der Freien Universität bewahrt wichtige Zeugnisse der Hochschulgeschichte. Der Blick in die Vergangenheit ist spannend – die politischen Auseinandersetzungen um die Studentenbewegung und andere Ereignisse haben ihre Spuren hinterlassen

02.12.2016

Seit bald einem halben Jahrhundert bewahrt das Universitätsarchiv alte Akten auf. Der Umfang wächst jährlich um mehr als 100 Regalmeter.

Seit bald einem halben Jahrhundert bewahrt das Universitätsarchiv alte Akten auf. Der Umfang wächst jährlich um mehr als 100 Regalmeter.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

„Und hoffe, an der Freien Universität das Rüstzeug zu bekommen, um ein guter Journalist zu werden“ – so beendete Rudi Dutschke seinen Lebenslauf, als er sich 1961 um das Soziologie-Studium an der Freien Universität bewarb. Als eine Schlüsselfigur der Studentenbewegung sollte er in den kommenden zehn Jahren die Geschichte der Freien Universität entscheidend prägen.

Heute befinden sich Dutschkes Lebenslauf, seine Studentenakte und viele weitere Objekte im Universitätsarchiv der Freien Universität. Obwohl sie zu den jüngeren Universitäten Deutschlands zählt, ist ihr Archiv eines der größeren: Auf Regalböden von 6700 Metern Länge lagern Personalakten, Protokolle von Gremiensitzungen, Schriftwechsel der Hochschulleitungen, Professorennachlässe, meteorologische Karten und Tonbänder, Briefe, Flugblätter und Plakate – Dokumente einer Universität im Zentrum des gesellschaftlichen Wandels.

„Das Archiv ist zu spät eingerichtet worden“, sagt Birgit Rehse, die die Einrichtung seit nun zehn Jahren leitet. Erst 1968, 20 Jahre nach Gründung der Freien Universität, erkannte Soziologieprofessor Otto Stammer die Notwendigkeit, die brisanten Ereignisse rund um die Studentenproteste zu dokumentieren und in einem Archiv zu sichern.

Gemeinsam mit der damaligen Leitung der Universitätsbibliothek überzeugte er die Hochschulleitung, und Bibliothekar Armin Spiller wurde eingestellt. Bis zum Jahr 2000 stemmte er die Arbeit ganz allein. In dieser Zeit sammelte er einen großen Fundus an Material, auch zahlreiche alte Akten, die Aufschluss über die Gründung und den Aufbau der Universität gaben. „Er ist bienenfleißig gewesen“, sagt Birgit Rehse.

Zu wenig Platz

Immer wieder wurde der Platz zu knapp. Gegründet in einer kleinen Villa gegenüber dem Institutsgebäude der Philosophie, zog das Archiv 1984 in den „Atombunker“ um: So wurden die Kellerräume des Hauses Boltzmannstraße 20 genannt, des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik. Durch eine drei Meter dicke Schleuse gelangt man dort, tief im zweiten Untergeschoss, in einen alten Laborraum, in dem der Physiker und Nobelpreisträger Werner Heisenberg während des Zweiten Weltkriegs einen Forschungsreaktor bauen wollte. Dazu kam es aber nie – stattdessen stapelten sich in dem Raum bald die Akten. Nach einigen Jahren wurde es im Keller jedoch zu eng.

2002 erhielt das Universitätsarchiv Platz in den Gebäuden des Landesarchivs Berlin, bevor 2012 schließlich der letzte Umzug auf den Geo-Campus der Freien Universität in Lankwitz erfolgte. Aus dem Ein-Mann-Betrieb ist mittlerweile ein Team von zehn Mitarbeiterinnen Mitarbeitern geworden, das die Bestände ordnet, digital erfasst und Interessierten in zwei Lesesälen zugänglich macht.

In einer Glasvitrine ist dort Rudi Dutschkes handschriftlicher Lebenslauf ausgestellt. Daneben stehen Papiertüten mit dem Konterfei des persischen Schahs Reza Pahlavi: Aktivisten trugen sie als Masken bei den Demonstrationen 1967 gegen den Staatsbesuch – jene Demonstrationen, bei denen der Student Benno Ohnesorg erschossen wurde. Sie entstammen einemwahren Schatz an Materialien aus den hochpolitischen 1960er- und 1970er-Jahren: Es ist das Archiv „Außerparlamentarische Opposition und soziale Bewegungen“, kurz: APO-Archiv.

Siegward Lönnendonker, damals wissenschaftlicher Assistent am Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung, dem früheren Institut für politische Wissenschaft, hatte parallel zum Universitätsarchiv alles gesammelt, was mit der Studentenbewegung zu tun hatte. Hunderte Aktenordner voller Zeitungsausschnitte und Flugschriften dokumentieren die Ereignisse der Zeit, zahlreiche Magazine und Zeitschriften, Pamphlete und Korrespondenzen geben Einblick in den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und andere Gruppen, von Anarchisten bis zu Trotzkisten. Auch sogenannte Devotionalien finden sich in dem Archiv, darunter die „Mao-Bibel“ sowie seidene Bilder von Marx und Engels, die von der chinesischen Botschaft in Ost- Berlin zwecks Errichtung von Hausaltären übergeben wurden.

Es kann schwierig sein, sich in der Sammlung zurechtzufinden: Die Archivalien im APO-Archiv sind nach Stichworten sortiert, von denen manche heute nicht mehr naheliegend sind. Wer etwa nach Dokumenten zur Terrorgruppe Rote Armee Fraktion (RAF) sucht, wird unter „bewaffneter Kampf“ fündig, da unter diesem Stichwort damals die Diskussion zur Gewaltfrage geführt wurde. Eigentlich wird im Archivwesen aber nach Herkunft sortiert. Aus allen Fachbereichen und Gremien der Universität erhält Archivleiterin Birgit Rehse jährlich enorme Mengen alter Akten. Ihre Aufgabe ist es, zu entscheiden, welche Akten zu Archivalien und welche vernichtet werden sollen. Rund zehn Prozent sollen den Test bestehen, sagt Rehse. Allein so wächst das Archiv jedes Jahr um etwa 100 Regalmeter, oder 1200 Aktenordner.

Mit Schutzhandschuhen sieht Birgit Rehse, die Leiterin des Archichs, alte Fotografien vom Henry-Ford-Bau der Freien Universität durch.

Mit Schutzhandschuhen sieht Birgit Rehse, die Leiterin des Archichs, alte Fotografien vom Henry-Ford-Bau der Freien Universität durch.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Besondere historische Bedeutung

Trotz der großen Mengen bittet Birgit Rehse darum, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Universität an die Archivierung alter Aktenbestände denken. Es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass alle Stellen der Universität ihre Akten dem Archiv anbieten, wenn sie nicht mehr gebrauchtwerden. „Wenn Unsicherheit darüber besteht, ob etwas aufzubewahren ist oder nicht, beraten wir gern“, sagt die Archivarin. „Ein Anruf genügt.“

Nur im Zweifel entscheidet der Zufall über eine Archivierung. Von allen Angehörigen der Freien Universität werden die Personalakten derjenigen aufgehoben, die an einem 6., 16. oder 26. eines beliebigen Monats Geburtstag haben. Dadurch wird gewährleistet, dass die Auswahl repräsentativ ist. An Besucher dürfen die Akten wiederum nur herausgegeben werden, wenn die gesetzlichen Schutzfristen verstrichen sind.

Für manche Bestände gelten andere Regeln, weil ihnen besondere historische Bedeutung zukommt. Brisanz kann sich aus der langen Geschichte der Charité ergeben, die heute zur Humboldt-Universität und zur Freien Universität gehört. Nach und nach übernimmt das Archiv Bestände aus der ehemaligen Psychiatrie in der Eschenallee. Die Patientenakten aus den 1930er und 1940er Jahren etwa werden vollständig und sorgfältig aufbewahrt, um nachvollziehen zu können, inwieweit Ärzte der Charité während des Nationalsozialismus am Euthanasie-Programm beteiligt waren und welche Personen ihm zum Opfer fielen. Diese Verbrechen fanden zwar nicht in der Berliner Psychiatrie statt, doch auch dort stand Euthanasie – im Nationalsozialismus eine euphemistische Bezeichnung für Tötungen im Zeichen der so bezeichneten Rassenhygiene – zur Debatte.

Die Arbeit der Universitätsarchivarin Birgit Rehse und ihrem Team ist also kein simples Horten, sondern verlangt historische Kenntnisse, rechtliche Expertise, logistisches Geschick und pragmatische Urteilskraft. Die promovierte Historikerin hat dazu ein zweijähriges Referendariat an der Archivschule in Marburg und im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden absolviert, bevor sie die Leitung des Universitätsarchivs übernahm. Die Vergangenheit zu bewahren und erschließbar zu machen, ist für sie eine Leidenschaft.

Kleines Museum für Technik: Hier lagern Tonbänder, Disketten, Mikrofilme

Zu Birgit Rehses Lieblingsdokumenten zählen die der US-amerikanischen Dichterin Audre Lorde, die sich in den Jahren vor ihrem Tod 1992 in Deutschland aufgehalten hat. Die Feministin und Bürgerrechtsaktivistin engagierte sich für die Rechte Homosexueller und gegen Rassismus und gab den Anstoß für eine afrodeutsche Frauenbewegung. Drei Seminare, die Audre Lorde in dieser Zeit an der Freien Universität gab, werden als Audioaufnahmen im Archiv aufbewahrt, dazu Vorträge und Lesungen, die sie in ganz Deutschland hielt. In ihren Gedichten schildert Audre Lorde oft eindrücklich die Gewalt und die Ungerechtigkeit, der Schwarze und Homosexuelle ausgesetzt waren. „Unsere Mitarbeiterin, die den Bestand erfasst hat, haben die Gedichte emotional stark mitgenommen“, erzählt Birgit Rehse.

Einige der kostbaren alten Tonaufnahmen – darunter auch von der Verleihung der Ehrendoktorwürde an den damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss im Jahr 1949 – hat das Archiv nun digitalisiert und möchte diese vom nächsten Jahr an online zugänglich machen, soweit dies rechtlich möglich ist. Digitalisierung sei aber aufwendig und teuer, sagt Birgit Rehse. Die Lagerung in Speicherbändern ist zwar platzsparend, gilt aber als unsicher. „Niemand kann garantieren, dass solche Medien auch in der Zukunft immer lesbar sein werden“, selbst wenn nur wenige Standardformate verwendet würden, erklärt die Archivarin.

Sogar vertraute Datenträger aus den vergangenen Jahrzehnten sind heute oft schon ein Problem. Das Archiv hält deshalb ein kleines Technikmuseum bereit, um veraltete Medienformate abspielen zu können, wie Tonbänder, Disketten und Mikrofilme. „Mein Ziel ist es, ein digitales Archiv zur Langzeitarchivierung elektronischer Unterlagen gemäß den internationalen Standards einzurichten“, sagt Birgit Rehse. „Denn ohne eine solche Einrichtung werden wir keine digitalen Daten auf Dauer bewahren können.“

Am meisten vertraut Birgit Rehse dem Papier. Unter den richtigen Umständen gelagert, halte es sich am besten. Die Magazine des Archivs sind entsprechend eingerichtet: Schwere Brandschutztüren, fast fensterlose Räume, immer um die 18 Grad Celsius kühl, die Luftfeuchtigkeit konstant bei 55 Prozent. In großen Regalen stehen dort Boxen aus robuster pH-neutraler Pappe. Darin ist das Papier gut aufgehoben: liegend, ohne rostende Klammern, in Schlauchheftung ohne Weichmacher. In den Feuerlöschern gibt es kein Pulver und keinen Schaum, sondern nur Wasser, denn die Chemikalien könnten dem Papier schaden. Sollte eine Akte trotz aller Vorkehrungen Schimmel ansetzen, wird sie in einen Quarantänebereich verbannt.

Die Archivarin und ihr Team müssen viele Feinde bekämpfen: Wasserschäden, Feuer oder andere Katastrophen können die Arbeit von Jahren und die Erinnerung an Jahrzehnte zunichtemachen – wie es beim Einsturz des Kölner Stadtarchivs vor knapp acht Jahren geschehen ist. Damals hatte sich auch Birgit Rehse mit ihren Kollegen Frank Lehmann und Irene Jentzsch an einer deutschlandweiten Solidaritätsaktion beteiligt und ehrenamtlich bei der Rettung der Akten geholfen. In Lankwitz wird das hoffentlich nicht notwendig werden, die Statik ist stabil. Außerdem befinden sich die Magazine in einem anderen Gebäude als die Büros. „Archivare lieben das“, sagt Birgit Rehse, „denn das verringert die Brandgefahr.“

Weitere Informationen

Universitätsarchiv der Freien Universität Berlin

GeoCampus Lankwitz
Malteserstraße 74-100 (Haus L, EG)
12249 Berlin (S-Bhf. Lankwitz, Bus X83 bis Haltestelle Emmichstraße)

Öffnungszeiten:

Mo. - Do. von 9 bis 16 Uhr, Fr. von 9 bis 14 Uhr, um Voranmeldung wird gebeten.
Kontakt: archiv@fu-berlin.de

www.fu-berlin.de/uniarchiv