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Wenn die staatliche Macht fehlt

Forschung zu „Räumen begrenzter Staatlichkeit“

01.12.2017

Das Fehlen von staatlichen Strukturen – etwa in sogenannten gescheiterten Staaten wie Somalia – gilt weltpolitisch als Ausnahme. Spätestens seit den 1960er Jahren, nach dem Ende des Kolonialismus und den Unabhängigkeitserklärungen afrikanischer und asiatischer Nationen, hat sich im Verständnis der klassischen Politikwissenschaft das westliche Staatsmodell weltweit durchgesetzt. „Tatsächlich ist aber genau das Gegenteil der Fall“, sagt Thomas Risse. „Nicht das Fehlen des Staates, sondern der Staat ist die Ausnahme.“ Der Politikwissenschaftler geht davon aus, dass auch heute 80 Prozent der Weltbevölkerung in sogenannten Räumen begrenzter Staatlichkeit leben.

Thomas Risse ist Professor am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität und Sprecher des Sonderforschungsbereichs (SFB) 700. An dieser interdisziplinären Forschungseinrichtung arbeiten seit 2006 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Politik-, Rechts- und Geschichtswissenschaft zum Thema Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit. „Wir gehen der Frage nach, wie öffentliche Güter – etwa Sicherheit, Menschenrechte oder Gesundheitsversorgung – auch dort bereitgestellt werden können, wo der Staat nur über begrenzte Handlungsmacht verfügt“, sagt Eric Stollenwerk, wissenschaftlicher Geschäftsführer des Sonderforschungsbereichs.

Die Forschung werde von zwei Grundannahmen geleitet: Zum einen werde begrenzte Staatlichkeit als die Norm und nicht die Ausnahme betrachtet, als ein Phänomen, das sich auf der ganzen Welt in unterschiedlichen Weisen zeige. „Es kann sein, dass ein Staat in einigen Bereichen perfekt funktioniert“, sagt Thomas Risse, „dafür aber auf anderen Gebieten, in Zeiträumen, Politikbereichen oder sozialen Gruppen nur sehr eingeschränkt.“

Zum anderen gehe man davon aus, dass das Fehlen von staatlichen Strukturen keine Katastrophe sein müsse: „Schwache Staatlichkeit ist nicht gleichbedeutend mit Chaos“, sagt Risse. „Neben dem Staat gibt es eine Vielzahl von Akteuren, die Dinge ebenso gut – oder sogar besser – bewerkstelligt bekommen.“ Das könnten Nichtregierungsorganisationen und private Unternehmen, aber auch lokale Autoritäten sein, die jenseits westlich geprägter Staatlichkeit funktionieren – beispielsweise Ältestenräte oder traditionelle Gerichte.

Im Fokus der Forschung stehen empirische Einzelfälle, etwa die Frage, wie in Afghanistan oder in abgelegenen Regionen Südamerikas Sicherheit gewährleistet werden kann. Es geht aber auch um grundsätzliche Fragen, etwa welche Bedeutung traditionellen oder religiösen Autoritäten bei der Rechtsprechung zukommen kann oder wie kollektive Selbstbestimmung von Völkern jenseits von Staatlichkeit gelingen kann.

Diese komplexe Thematik untersuchen derzeit 19 Professorinnen und Professoren und 20 Promovierende. Beteiligt sind neben der Freien Universität Berlin die Universität Potsdam, die Stiftung Wissenschaft und Politik, das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und das German Institute of Global and Area Studies in Hamburg.

Über ein Kooperationsprojekt mit dem Auswärtigen Amt finden die Ergebnisse ihren Weg in die Praxis. In der Abteilung „Stabilisierung, Krisenprävention und Konfliktnachsorge“ arbeiten mehrere Promovierende des SFB 700 gemeinsam mit Diplomaten daran, ihre Forschungsergebnisse etwa im Bereich der Rechtsstaatförderung für die deutsche Außenpolitik in Konfliktregionen nutzbar zu machen.

Auch Ehemalige des Sonderforschungsbereichs tragen die Ansätze und Ergebnisse der Forschung weiter. „Über die Jahre haben hier mehr als 100 Promovierende gearbeitet, und mehr als 200 Studierende waren als Hilfskräfte tätig“, sagt Geschäftsführer Stollenwerk. Bis jetzt hätten zehn Ehemalige den Ruf auf eine Professur an anderen Hochschulen erhalten. Der Sonderforschungsbereich läuft zum Jahresende aus. Er hat nach zwei Verlängerungen die maximale Förderdauer der Deutschen Forschungsgemeinschaft von zwölf Jahren erreicht.