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Die Reise ins Ich

Eine App hilft Kindern mit psychischen Auffälligkeiten durch spezielle Verhaltenstrainings

11.02.2020

Das Aumio-Team (v.l.n.r.): Tilman Wiewinner, Felix Noller, Jean Ochel und Steffen Scherf; (unten) Florian Gerhardt, Teresa Weicken und Simon Senkl.

Das Aumio-Team (v.l.n.r.): Tilman Wiewinner, Felix Noller, Jean Ochel und Steffen Scherf; (unten) Florian Gerhardt, Teresa Weicken und Simon Senkl.

Wie können Kinder mit einer sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung – kurz: ADHS – ihre Lebensqualität verbessern? Ein Gründungsteam der Freien Universität Berlin setzt auf Hilfe zur Selbsthilfe: Die neu entwickelte App Aumio klärt auf und lehrt Achtsamkeits- und Meditationstechniken. Mentorin des Teams ist Christine Knaevelsrud, Professorin für klinisch-psychologische Intervention an der Freien Universität Berlin. Ein Gespräch mit zwei der insgesamt vier Gründer, Jean Ochel und Felix Noller.

 Herr Ochel, HerrNoller,wie kamen Sie auf die Idee für ihr Start-up?

Jean Ochel: Ich bin selbst mit Symptomen eines Aufmerksamkeitsdefizits großgeworden und habe erfahren, wie schwierig es ist, ein impulsives Kind zu sein. Auch während meines Psychologie-Studiums hatte ich mit Aufmerksamkeitsproblemen zu kämpfen. Also habe ich mir die wissenschaftliche Literatur über die Effekte von Achtsamkeitstherapie und Meditation angesehen und festgestellt, dass diese Methoden mit ihrer neuronalen Wirkweise gut zur Behandlung von ADHS-Patienten eingesetzt werden könnten. Meditation hat mir persönlich dann tatsächlich geholfen.

In meiner Masterarbeit habe ich untersucht, ob die Methode auch Kindern und Familien helfen kann. Diese ersten Studien zeigen, dass es funktioniert: Mehr als 40 Kinder haben einen Protoyp der App genutzt, und die Mehrheit der Eltern hat hinterher eine Minderung der Impulsivität und Hyperaktivität wahrgenommen. Da lag es nahe, dasTraining einem größeren Nutzerkreis zur Verfügung zu stellen.

Felix Noller: Während seiner Masterarbeit hat Jean schon mit Steffen Scherf zusammengearbeitet; er entwickelt Apps. Später kamen Tilmann Wiewinner für Management und Marketing und ich als Designer dazu. Wir haben ein Berliner- Startup-Stipendium an der Freien Universität erhalten und unseren Prototyp weiterentwickelt. Dank eines EXISTStipendiums des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie können wir nun dieMarkteinführung vorbereiten. Die Aumio- App soll im Frühjahr 2020 auf den Markt kommen.

Wie funktioniert die Aumio-App?

Jean Ochel: Wir bieten verschiedene Kursmodule an: Einige Kinder kämpfen mit Wutausbrüchen, andere mit Unaufmerksamkeit, wieder andere sind sehr ängstlich. Wir erzählen kindgerecht, woher etwa die Angst kommt und vermitteln Fähigkeiten, mit ihr umzugehen. Bei der Meditation geht es um die Konzentration auf den Atem oder darauf, wie die Füße beim Gehen den Boden berühren. Das hilft impulsiven Kindern, denen oftmals die Verbindung zu sich selbst fehlt: Sie merken nicht, wie sich Stress und Unwohlsein in ihrem Inneren anstauen, und explodieren dann gewissermaßen irgendwann.

Bei ADHS springt die Aufmerksamkeit ständig von einem Reiz zum nächsten. Durch Meditation lernen die Betroffenen, gedanklich immer wieder zu einem bestimmten Punkt zurückzukehren. Felix Noller: Die App ist als „Reise durch den inneren Kosmos“ gestaltet: Wie auf einer Weltraumexpedition sollen die Nutzerinnen und Nutzer jeden Tag eine Mission erfüllen, zum Beispiel etwas über Konzentration lernen oder eine Atemübung machen. Dafür erhalten sie Sterne und Abzeichen. Bei der Konzeption und den Inhalten der App lassen wir uns unter anderem von einer Kinderbuchautorin beraten. Außerdem sind auch Kinder, deren Familien sowie Therapeutinnen und Therapeuten an der Entwicklung beteiligt.

Woran merkt man, dass ein Kind diese Übungen braucht?

Jean Ochel: Im Rahmen von Workshops und Studien haben wir mit vielen Eltern und Kindern gesprochen und erlebt, dass einige sehr verzweifelt sind. Die Kinder leiden ja unter ihren Wutausbrüchen, schließlich müssen sie die Konsequenzen tragen – sie schämen sich danach oder haben Gewissensbisse. Wenn eine Familie oder ein Kind selbst etwas ändern möchte, kann unsere App helfen. Denn nur eines von fünf Kindern, die in Deutschland unter psychischen Problemen leiden, erhält professionelle Hilfe. Das hat der Kinder- und Jugendreport der Deutschen Angestellten-Krankenkasse erst kürzlich bestätigt.

Felix Noller: Viele Eltern handeln spät, weil psychische Probleme oftmals in der Gesellschaft noch stigmatisiert sind. Und selbst wenn sie Hilfe suchen, müssen sie lange auf einenTherapieplatz warten. Unsere App bietet Unterstützung für Zuhause – vor, während und nach einer Therapie. Die Familien werden die App zunächst selbst bezahlen müssen, aber wir sind bereits mit einigen Krankenkassen im Gespräch über eine mögliche Kostenübernahme.