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Die Gefahrensucher

Ein Wissenschaftsteam untersucht den Einfluss des Wetters auf Verkehrsunfälle - und sucht nach Möglichkeiten, ihn zu begrenzen

30.09.2020

Bei nassen und glatten Straßen steigt der Anteil der dadurch verursachten Unfälle mit der Höhe der Geschwindigkeit.

Bei nassen und glatten Straßen steigt der Anteil der dadurch verursachten Unfälle mit der Höhe der Geschwindigkeit.
Bildquelle: Shutterstock/JakubD

Rund 370 000 schwere Verkehrsunfälle in Deutschland zählt die Polizei pro Jahr: Das sind etwa 1000 Unfälle pro Tag. Bei vielen Zusammenstößen sind Verletzte zu versorgen oder sogar Tote zu beklagen. Fast alle führen zu finanziellen Beeinträchtigungen, etwa bei Fahrzeugschäden. „Mehr als neun Prozent dieser Unfälle sind Polizeiprotokollen zufolge unter anderem auf den Einfluss des Wetters zurückzuführen“, sagt Nico Becker.

Der promovierte Meteorologe der Freien Universität erforscht mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Deutschen Wetterdienstes (DWD) und des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung die Wechselwirkungen zwischen Wetter und Verkehr. Etwa acht Prozentpunkte entfielen auf Unfälle wegen Nässe und Glätte, ein weiterer Prozentpunkt auf andere Ursachen wie tiefstehende Sonne, Nebel oder starker Wind.

Unfälle vorhersagen – und damit vermeiden

„Die größte Wahrscheinlichkeit für einen wetterbedingten Verkehrsunfall gehen Sie ein, wenn Sie an einem Wochentag im Januar oder Februar um sechs Uhr früh eine Fahrt beginnen“, sagt Nico Becker. Um diese Tages- und Jahreszeit falle die kurz vor Sonnenaufgang meist niedrigste Nachttemperatur zusammen mit dem beginnenden Berufsverkehr – und vielfach mit Schnee- und Eisglätte. In den Morgenstunden dieser beiden Wintermonate bestehe sogar bei rund 30 Prozent aller Unfälle ein Zusammenhang mit den Wetterbedingungen, sagt der Meteorologe.

Lässt sich der Einfluss reduzieren? Dafür müsste es gelingen, Vorhersagen von Wettergefahren mit Aussagen über Auswirkungen auf den Straßenverkehr zu verknüpfen und die Bevölkerung für diese zu sensibilisieren. Das Team um Nico Becker ist das erste, das eine solche Verschränkung von Daten anstrebt und Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten von Unfällen vorhersagen möchte. Die Kooperation läuft im Rahmen des vom DWD geförderten Hans-Ertel-Zentrums für Wetterforschung.

Hochaufgelöste Wetter-Radardaten für ganz Deutschland

Für die Erforschung der Wechselwirkungen zwischen Wetter, Verkehrsaufkommen und Unfällen stehen dem Team Datensätze zur Verfügung, die sich für die aufwendigen Modellrechnungen nur mit gewaltigen Rechnerkapazitäten bändigen lassen: Ausgewertet werden zum einen hochaufgelöste Wetter-Radardaten für ganz Deutschland. Diese werden verknüpft mit Polizeidaten, die aufgeschlüsselt sind nach Unfallursachen, nach Landkreisen, nach Uhrzeiten und anhand anderer Kriterien.

Drittes Element ist das Verkehrsaufkommen auf Autobahnen und Bundesstraßen, das die Bundesanstalt für Straßenwesen für Lkw, Pkw und Motorräder über Induktionsschleifen ermittelt, die in Fahrbahnen eingelassen sind. „Haupttreiber des Verkehrsaufkommens sind Tageszeit und Wochentag“, sagt Nico Becker. „Darüber hinaus können wir für jede Region berechnen, welchen Einfluss Temperatur, Niederschlag und Bewölkung auf das Verkehrsaufkommen hat – und auf das Unfallgeschehen.“

Wie wichtig es ist, wetterbedingte Unfälle zu prognostizieren – und letztlich durch Warnhinweise zu vermeiden, erläutert der Meteorologe an einem Beispiel: „Wenn ein Arzt oder eine Ärztin eine Diagnose stellt, werden in der Regel die Auswirkungen einer Erkrankung genannt, und es gibt eine Empfehlung für das künftige Verhalten der Patienten und Patientinnen“, sagt Nico Becker. „Diagnose, Auswirkungen und Empfehlungen fußten auf der medizinischen Expertise, und kein Mediziner käme auf die Idee zu sagen: ,Was Sie mit meiner Diagnose anstellen, finden Sie bitte selbst heraus’.“

Bei einer bevorstehenden Wettergefahr aber sei im Ergebnis zurzeit genau das die Regel: Institutionen wie der Deutsche Wetterdienst könnten zwar dank ihrer Expertise das Wetter präzise vorhersagen. Doch genaue Aussagen über die Folgen beispielsweise von Extremwetter und für das Verhalten etwa im Straßenverkehr könnten sie nicht treffen.

Das Auto stehenlassen, wenn es eine Alternative gibt

Bei Stürmen, Sturmwarnungen und -schäden sei der Zusammenhang viel einfacher nachzuvollziehen, sagt Nico Becker. Die Vorhersage wetterbedingter Verkehrsunfälle ist zwar vergleichsweise komplex, es gibt aber mehr Handlungsoptionen. Doch wie könnten Handlungsempfehlungen formuliert sein, damit sie als Warnung Wirkung zeigen? Um dies herauszufinden, befragen Teammitglieder des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer in den kommenden Monaten zu ihrem Verhalten in bestimmten Situationen.

„So werden zu einer geplanten Reise von Ort A nach Ort B einer Gruppe Wetterdaten angezeigt, einer Kontrollgruppe zusätzlich Unfallwahrscheinlichkeiten auf der Strecke“, erläutert der Wissenschaftler. Werden durch die Zusatzinformationen Änderungen bei der Reiseplanung ermuntert? Wäre eine Handlungsempfehlung sinnvoll, und wie sollte sie formuliert werden? Würde man eher mit einer Warnung vor einer um den Faktor 100 gestiegenen Unfallgefahr etwas bewirken oder mit einer bloßen Warnung vor Blitzeis? „Unser langfristiges Ziel ist es, dass Warnungen bei Wettergefahren auch mögliche Hinweise auf deren Auswirkungen enthalten – und helfen, bessere Entscheidungen zu treffen“, sagt Nico Becker. Etwa nach Möglichkeit mehr Zeit einzuplanen, das Fahrverhalten anzupassen oder das Auto stehen zu lassen, wenn es eine Alternative gibt. Nicht nur wochentags im Winter um sechs Uhr früh.