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Damit Artenschutz ins Grundgesetz kommt

Appell an die künftige Bundesregierung: Forscherinnen und Forscher der Freien Universität haben ein Maßnahmenpapier zur Biodiversität unterzeichnet

02.12.2021

Gedeiht ohne Chemie. Der ökologisch betriebene Weinanbau, wie hier im Schweizer Kanton Thurgau, setzt bei der Verbesserung der Boden- und Weinqualität auf natürliche Vielfalt: Blumen, Kräuter, Nützlinge und Mist.

Gedeiht ohne Chemie. Der ökologisch betriebene Weinanbau, wie hier im Schweizer Kanton Thurgau, setzt bei der Verbesserung der Boden- und Weinqualität auf natürliche Vielfalt: Blumen, Kräuter, Nützlinge und Mist.
Bildquelle: Picture Alliance

Den Ausbau der Erneuerbaren Energien hatten SPD, Grüne und FDP bei den Koalitionsverhandlungen für die künftige Bundesregierung im Blick. Aber wie steht es um das Thema Artenschutz? Wird es zu wenig berücksichtigt? Das befürchten zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, darunter mehrere von der Freien Universität Berlin: Sie richteten sich deshalb mit dem „Orientierungspapier Biodiversität“ an die Koalitionäre. Klaus Jacob, Politikwissenschaftler der Freien Universität und Forschungsleiter des Forschungszentrums für Umweltpolitik, ist einer der Autoren des Papiers, Eva Häffner, wissenschaftliche Koordinatorin am Botanischen Garten Berlin der Freien Universität, hat mitunterzeichnet.

Mitautor Klaus Jacob: „Problematisch ist der ungebrochene Flächenverbrauch und die Art und Weise, wie Landwirtschaft betrieben wird.“

Mitautor Klaus Jacob: „Problematisch ist der ungebrochene Flächenverbrauch und die Art und Weise, wie Landwirtschaft betrieben wird.“
Bildquelle: privat

Herr Jacob, Sie setzen sich dafür ein, die Bewahrung der Artenvielfalt ins Grundgesetz aufzunehmen. Warum ist das aus Ihrer Sicht erforderlich?

JACOB: Es ist dringend an der Zeit, dass der Schutz der Biodiversität mehr Gewicht bekommt und als zentrales Anliegen von Staat und Gesellschaft etabliert wird. Der Erhalt der Artenvielfalt betrifft alle Bereiche staatlichen Handelns, und das Grundgesetz ist bindend für alle Gesetzgebungen. Artenvielfalt zu schützen, ist eine Querschnittsaufgabe, deshalb sehen wir – die Autorinnen und Autoren und die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des Papiers – sie im Grundgesetz richtig verortet.

Was müsste sich denn konkret ändern, um die Artenvielfalt besser zu schützen?

JACOB: Der Staat kann in vielen Bereichen handeln: bei der Planung von Verkehrswegen und Bebauung, bei der Ansiedlung von Industrieanlagen und vor allem in der Landwirtschaft. Riesige Felder ohne Hecken und damit ohne Rückzugsräume für Arten sind ein großes Problem.

Für ein Ökosystem ist es ein enormer Unterschied, ob nur ein, zwei Nutzpflanzen darin wachsen oder mehrere tausend Pflanzenarten. Diverse Ökosysteme sind sehr viel widerstandsfähiger gegen Einwirkungen von außen: Ein Mischwald etwa fällt dem Borkenkäfer nicht komplett zum Opfer, ein Fichtenwald schon.

HÄFFNER: Arten sterben in immer höherem Tempo aus. Das darf so nicht weitergehen. Schon jetzt ist die Grenze der Belastbarkeit unseres Planeten in diesem Bereich weit überschritten: Denn jede ausgestorbene Art ist unwiederbringlich verloren.

Wir können noch gar nicht abschätzen, wie sich das Artensterben und die sich dadurch verändernde Artenzusammensetzung in den einzelnen Lebensräumen auswirken werden. Ökosysteme sind komplex, auf ihre „Dienstleistungen“ – also zum Beispiel das Aufrechterhalten der Stoffkreisläufe, den Erhalt der Bodenfruchtbarkeit oder das Bestäuben unserer Nahrungspflanzen – sind wir alle angewiesen.

Im Zukunftskonzept des Botanischen Gartens kommt der internationalen Biodiversitätsforschung eine wichtige Rolle zu.

Eva Häffner, wissenschaftliche Koordinatorin am Botanischen Garten Berlin: „Es muss klar sein, dass Biodiversität und Klimawandel stark miteinander zusammenhängen.“

Eva Häffner, wissenschaftliche Koordinatorin am Botanischen Garten Berlin: „Es muss klar sein, dass Biodiversität und Klimawandel stark miteinander zusammenhängen.“
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Wie kann Forschung helfen, Biodiversität stärker zu schützen?

HÄFFNER: Am Botanischen Garten beschäftigen wir uns mit der Erfassung, Erforschung und Dokumentation von Pflanzen, Pilzen und Algen. Nur was man kennt, kann man auch schützen.

Alle, die sich mit dem Schutz der Biodiversität, wie mit der Ausweisung von Schutzgebieten oder der Überprüfung von Maßnahmen befassen, brauchen unsere Forschungsergebnisse: Artinventare in Form von Floren und Checklisten, Referenzsammlungen oder populationsgenetische Untersuchungen, um nur einige Beispiele zu nennen.

Das Zukunftskonzept des Botanischen Gartens deckt sich an einigen Stellen mit dem Strategiepapier. In unserem neuen Zentrum für Biodiversitätsinformatik und Sammlungsdatenintegration arbeiten wir etwa daran, Biodiversitätsdaten besser verfügbar zu machen.

Besonders wichtig ist für uns auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit, etwa von Natur- und Sozialwissenschaften. Dafür sind wir an der Freien Universität hervorragend aufgestellt, weil alle relevanten Disziplinen, etwa Geowissenschaften, Politikwissenschaft oder Informatik, unter einem Dach angesiedelt sind.

Herr Jacob, in dem Papier heißt es: „Biodiversität ist keine Schönwetteraufgabe, die mit Win-Win-Lösungen zu adressieren ist“. Wer verliert, wenn Biodiversität gewinnt? Besteht die Gefahr, dass Biodiversität und der Ausbau Erneuerbarer Energien gegeneinander ausgespielt werden?

JACOB: Es geht nicht darum, Erneuerbare Energien gegen Biodiversität auszuspielen. Problematisch ist der ungebrochene Flächenverbrauch und die Art und Weise, wie Landwirtschaft betrieben wird. Die aktuell geforderte Fläche von zwei Prozent für Erneuerbare Energien – für den Bau von Windrädern oder Photovoltaik- Anlagen – macht mir keine Sorgen. Aber natürlich muss der Artenschutz auch bei der Errichtung neuer Anlagen berücksichtigt werden.

HÄFFNER: Es muss klar sein, dass Biodiversität und Klimawandel stark miteinander zusammenhängen. Ein anschauliches Beispiel sind Pflanzen und Algen. Mikroskopisch kleine Kieselalgen etwa produzieren ein Viertel des gesamten Sauerstoffs auf der Welt, binden entsprechend viel CO2 und sind auch sonst äußerst wichtig für Nahrungsketten.

Die Forschungsgruppe Diatomeen am Botanischen Garten Berlin erforscht die Diversität der Kieselalgen unter anderem in der Antarktis. Viele dieser Arten kennen wir noch gar nicht. So ernährt sich beispielsweise der Krill, ein Krebstier, in der Antarktis wesentlich von diesen Einzellern. Weil immer mehr Buchten eisfrei sind, können Kieselalgen im antarktischen Sommer nicht mehr auf der Unterseite des Meereises wachsen. Dem Krill fehlt damit die Nahrung. Und weil sich Wale unter anderem vom Krill ernähren, fehlt jenen wiederum Nahrung. Diese Ökosysteme gilt es zu schützen.

Wie kann sich Wissenschaft in der Politik grundsätzlich Gehör verschaffen?

JACOB: Wissenschaftliche Politikberatung ist kein Selbstläufer. Analysen und Vorschläge aus der Wissenschaft fließen nicht automatisch in politische Konzepte ein, selbst dann nicht, wenn unsere Stimme in den Fachbehörden der Ministerien auf Gehör stößt. Wir sitzen bei den Koalitionsverhandlungen ja nicht mit am Tisch. Diese Koalition, so scheint es, will jedoch gestalten und sucht die Legitimation dafür insbesondere bei den Wissenschaften. Sie setzt auf evidenzbasierte Politik. Das lässt uns durchaus hoffen.

Frau Häffner, warum haben Sie sich dem Aufruf angeschlossen?

HÄFFNER: Für mich war es die Dringlichkeit derAufgabe – die Notwendigkeit, Bewusstsein für den Schutz von Biodiversität zu schaffen. Die Regierungsbildung ist ein wichtiger Zeitraum, in dem Weichen für Deutschland gestellt werden. Es gibt schon seit 2007 eine nationale Biodiversitätsstrategie, allerdings wurden fast alle dort formulierten Ziele bisher verfehlt. Das muss sich grundlegend ändern. Auch deshalb habe ich mich dem Aufruf angeschlossen.

Die Fragen stellte Annika Middeldorf