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Aus der Schublade in die Köpfe

Das Forschungsforum Öffentliche Sicherheit hat untersucht, warum Empfehlungen zur Risikoprävention in der Politik oft nicht ankommen

02.12.2021

Als die Pandemie noch neu war. Lothar Wieler, RKI-Präsident und Honorarprofessor am Fachbereich Veterinärmedizin der Freien Universität, Christian Drosten (Charité) und Gesundheitsminister Jens Spahn (l.n.r.) am 9.3.2020 in der Bundespressekonferenz.

Als die Pandemie noch neu war. Lothar Wieler, RKI-Präsident und Honorarprofessor am Fachbereich Veterinärmedizin der Freien Universität, Christian Drosten (Charité) und Gesundheitsminister Jens Spahn (l.n.r.) am 9.3.2020 in der Bundespressekonferenz.
Bildquelle: picture alliance

Wie wahrscheinlich ist es, dass ein SARS-Virus sich weltweit verbreitet? Welche Schäden würde eine solche Pandemie anrichten? Acht Jahre, bevor der Ernstfall tatsächlich eintrat, haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einer Studie im Auftrag des Bundesministeriums des Innern genau dieses Szenario untersucht.

Die Ergebnisse hatten jedoch weder im politischen Diskurs noch in Form von vorbeugenden Schutzmaßnahmen nennenswerte Folgen. Für Lars Gerhold, Professor für Interdisziplinäre Sicherheitsforschung und Projektleiter des Forschungsforums Öffentliche Sicherheit, ist deshalb klar: „Unsere Arbeit als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist nicht damit getan, einen Journal-Artikel zu veröffentlichen. Wenn es zu konkreten Handlungen kommen soll, müssen wir einen erfolgreichen Wissenstransfer hin zu den politischen Entscheiderinnen und Entscheidern schaffen.“

Muss vor der Krise passieren: Vorsorge und deren Kommunikation

In einer aktuellen Studie untersuchen Lars Gerhold und sein Team, warum Erkenntnisse aus Risikoanalysen oft keine Auswirkungen auf politisches Handeln haben und wie eine erfolgreiche Kommunikation zwischen Wissenschaft und Politik aussehen kann. Dazu haben sie amtierende und ehemalige Mitglieder des deutschen Bundestages (MdB) sowie ihre Mitarbeitenden befragt.

Als ersten Punkt wiesen die MdBs darauf hin, dass sie anhand der Vielzahl an relevanten Themen, mit denen sie konfrontiert werden, und einem begrenzten Zeitbudget priorisieren müssen. Warum die Wahl schließlich selten auf Risikoprävention fällt, liegt wohl am Charakter von Vorbeugung und Risikowahrnehmung: Risiken wie ein Virus oder große Naturkatastrophen wurden bisher als eher unwahrscheinlich wahrgenommen und rutschten so von der tagespolitischen Agenda.

„Man muss weltweite Katastrophen als Anlässe nutzen, um auf Bedarfe in der Risikoprävention hinzuweisen und darauf, dass es Lösungsvorschläge gibt, die umgesetzt werden können oder sollten“, sagt Lars Gerhold. Das Entscheidende: „Das muss vor der Krise passieren. Wenn der schlimmste Fall eingetreten ist, ist es zu spät, um Vorsorge zu treffen.“

Welche psychischen Belastungen verursacht die Pandemie?

Hätte sich die Corona-Pandemie mithilfe der Risikoanalyse von 2012 besser meistern lassen? „Das ist schwer zu sagen. Möglicherweise hätte man konkrete Maßnahmen wie das Einlagern von Schutzausrüstung ableiten können, aber wichtiger wären aus meiner Sicht strategische Vorbereitung, ressortübergreifende Abstimmung, das Entwickeln von Plänen gewesen, damit das Geschehen seinen Überraschungscharakter verliert“, sagt Lars Gerhold.

Ein weiterer Bereich, in dem die wissenschaftliche Politikberatung an ihre Grenzen stößt, ist die Forschung zur psychosozialen Lage der Menschen in der Corona-Pandemie. Dass Menschen in der Pandemie stärker unter psychischen Krankheiten, weniger Lebensqualität und Stress leiden, ist belegt. Doch auch hier finden die Erkenntnisse, etwa aus dem Projekt „Psychosoziales Lagebild der Bevölkerung während der Corona- Pandemie“, kaum Resonanz im politischen Krisenmanagement.

Beide Studien zeigen, dass die Kommunikation des in der Wissenschaft vorhandenen Wissens eine entscheidende Rolle spielt. Dazu gehören einerseits informative Texte, die auch fachfremde Leserinnen und Leser verstehen, Kurzfassungen und klare Botschaften.

„Aber es reicht nicht, dass wir unsere Erkenntnisse einfach auf den Tisch legen, wir müssen sie aktiv bewerben“, sagt Lars Gerhold. Dazu gehören auch Gesprächsangebote und Informationsveranstaltungen, etwa in Ausschüssen. Nicht zuletzt gewinnt ein Thema dann an Relevanz, wenn es von öffentlichem Interesse ist. Das heißt, die Ergebnisse sollten auch öffentlichkeitswirksam verbreitet werden, etwa auf Pressekonferenzen.

Wissenstransfer als fester Bestandteil wissenschaftlichen Arbeitens

All diese Bausteine des Wissenstransfers sollten an den Universitäten in den Fokus rücken. „Wissenstransfer muss fester Bestandteil wissenschaftlichen Arbeitens sein. Dieser Bereich muss als eigene Form der Wissenschaft etabliert werden, denn er braucht Ressourcen, Geld, Anerkennung und Raum an den Universitäten.“

Eine Herausforderung auch für die zukünftige Risikoforschung ist Gerhold zufolge die Komplexität der Zusammenhänge: Es gebe so viele Abhängigkeiten und verzögerte Effekte, dass die Grundrechnung einer jeden Risikoanalyse – Eintrittswahrscheinlichkeit mal Schaden – kaum nachvollziehbar sei.

„Wir müssen in Szenarien denken, also verschiedene mögliche Verläufe betrachten“, sagt Lars Gerhold. Das sei ein etablierter Ansatz aus der wissenschaftlichen Zukunftsforschung, der in der Sicherheitsforschung noch nicht angekommen sei. „Wir müssen Zukunft immer als verschiedene mögliche Zukünfte denken.“ So könne man für unterschiedliche Szenarienverläufe jeweils passende Handlungsempfehlungen für die Politik formulieren.