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„Wir brauchen eine Demokratisierung der Demokratie“

Interview mit Michael Zürn vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung: Der Politologe wurde mit dem Berliner Wissenschaftspreis ausgezeichnet

02.12.2021

Michael Zürn vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung ist Professor am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität und Co-Sprecher des Exzellenzclusters SCRIPTS.

Michael Zürn vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung ist Professor am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität und Co-Sprecher des Exzellenzclusters SCRIPTS.
Bildquelle: Thomas Mann House

Herr Professor Zürn, was bedeutet Ihnen die Ehrung mit dem Berliner Wissenschaftspreis?

Ich verstehe sie als Anerkennung meiner Arbeit. Das ist eine Freude und macht mich stolz.

Ein Gratulationsvideo des Berliner Senats, das bei der Preisverleihung zu sehen war, zeigt Sie als freundlich-umtriebigen Wissenschaftsmanager. Vermissen Sie bei all den Begegnungen nicht manchmal die Ruhe der Gelehrtenstube?

Ich arbeite gerne in großen Verbünden wie dem Exzellenzcluster Contestations of the Liberal Script (SCRIPTS), das ich zusammen mit Tanja A. Börzel von der Freien Universität Berlin leite.

Ich sehe diese größeren Forschungsverbünde mehr als Freiräume für Forschung denn als administrative Belastung. Sie bieten immense zusätzliche Ressourcen und Möglichkeiten für Forschungen, die ansonsten nicht möglich wären. Und vor allem empfinde ich es als großen Gewinn, mit Personen aus anderen Disziplinen zusammenzuarbeiten, die meine Perspektive herausfordern. Da lerne ich jeden Tag dazu.

In einem neuen Forschungsprojekt im Rahmen des Exzellenzclusters SCRIPTS beschäftigen Sie sich mit dem Verhältnis von Politik und Wissenschaft und der Rolle von wissenschaftlichen Expertinnen und Experten. Was genau wollen Sie herausfinden?

Wir wollen erforschen, wie die soziale Anerkennung von Wahrheit in der liberalen Demokratie entsteht, welche Instanzen daran beteiligt sind, warum wichtige Instanzen wie die Wissenschaft jetzt in der Corona-Krise unter Beschuss geraten. Und was das für die Demokratie bedeutet.

Kann Demokratie ohne wissenschaftliche Wahrheiten funktionieren?

Demokratie braucht vor allem die Annahme, dass es eine Wahrheit, ein mehr oder weniger Falsch oder Richtig, gibt. Sonst würde der öffentliche Diskurs überflüssig. Aber das liberale Wahrheitsregime steht ja auch nicht unmittelbar vor dem Zerfall. Das zeigen schon Umfragen, die beispielsweise der Wissenschaft hohes Vertrauen bescheinigen.

Wenn sich also eine Mehrheit der Bevölkerung inzwischen für eine Impfpflicht ausspricht, sehe ich darin auch eine Mehrheit für die Wissenschaft. Das liberale Wahrheitsregime ist allerdings unter Beschuss geraten und wird von Teilen der Gesellschaft gezielt in Frage gestellt.

Was genau verstehen Sie eigentlich unter dem „Liberalen Skript“?

Das Liberale Skript umfasst unsere Vorstellungen, wie Gesellschaft organisiert werden soll. Es stellt die individuelle Selbstbestimmung in den Vordergrund und leitet daraus die kollektive Selbstbestimmung durch Demokratie und Rechtsstaat ab. Hinzu kommen Toleranz, Rationalität, Fortschrittsglaube und Marktwirtschaft. Je nach politischem System sind diese Komponenten verschieden gewichtet, nicht zuletzt, weil sie teilweise in einem Spannungsverhältnis stehen.

Seit Bewilligung des Exzellenzclusters im Jahr 2018 hat sich die politische Lage deutlich geändert: Trump ist abgewählt, und eine Pandemie bestimmt die Welt. Wie schnell können Sie im Forschungsverbund auf aktuelle Entwicklungen reagieren?

Die Planungen für den Cluster haben bereits 2013 begonnen, weil wir Herausforderungen der liberalen Gesellschaftsordnung ausgemacht haben, die wir erforschen wollten. Der Brexit und die Wahl Trumps haben dann gezeigt, wie groß diese Herausforderungen sind. Als Plattform für Langzeit-, aber auch Kurzzeitprojekte können wir im Cluster auf aktuelle Entwicklungen reagieren.

Was bedeutet die Abwahl Trumps für Ihr Forschungsprogramm?

Ob die Abwahl von Trump und das Versagen autoritärer Populisten im Kampf gegen Corona die Herausforderungen der liberalen Ordnung abschwächen, bezweifele ich.

Wenn Corona in den Hintergrund tritt, werden die Voraussetzungen für den Aufstieg autoritärer Populisten wieder sichtbarer – und sich vielleicht sogar verschärfen. Knappe staatliche Ressourcen nach der Coronakrise sowie die damit verringerten politischen Handlungsspielräume und die krisenbedingt verschärfte soziale Ungleichheit können autoritären Populisten Auftrieb verleihen.

Ist das Liberale Skript angesichts der durch die Pandemie verschärften Herausforderungen überhaupt noch zu retten?

Das ist offen. Das Liberale, das Tolerante und auch das Globalisierungsfreundliche stehen gegen das Hochhalten von Grenzen, das Ideal kulturell homogener Gemeinschaften. Es ist im Zuge der Globalisierung eine zusätzliche Konfliktlinie in der Gesellschaft entstanden, die wahrscheinlich dauerhaft bestehen bleiben wird. Deshalb kommt es darauf an zu lernen, wie man demokratisch damit umgeht.

Gibt es so etwas wie ein Rezept?

Wir brauchen eine Demokratisierung der Demokratie. Institutionen wie die Europäische Union (EU) und Gerichte, die in der Kritik stehen, müssen sich stärker für öffentlichen Diskurs und Mitbestimmung öffnen.

Ein Teil der Unzufriedenheit mit der Demokratie speist sich aus dem Eindruck, dass die mehrheitsgetragenen Institutionen der demokratischen Mitbestimmung wie Parteien und Parlamente Macht an sogenannte nichtmajoritäre Institutionen wie den Europäischen Gerichtshof oder die EU insgesamt verloren haben. Diese Institutionen sind für viele Menschen, die nicht mehrere Sprachen sprechen und vielleicht keine akademische Bildung haben, nicht so zugänglich. Das nutzen autoritäre Populisten aus.

Aber es braucht internationale Institutionen wie die EU, um Herausforderungen wie den Klimawandel zu bekämpfen. Es wird außerdem politische Bildung brauchen, die Menschen dazu befähigt, mit einer unübersichtlichen Welt umzugehen.

Die Fragen stellte Jonas Krumbein