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Mit Berghirten auf Wanderschaft in die Vorzeit

Ein Archäologie-Team erforscht, wie Hirtenkulturen im Hochgebirge des Südkaukasus und Drachensteine aus der Kupfersteinzeit zusammenhängen

02.12.2021

Am Berg Aragaz auf 2850 Metern Höhe erforschen Archäologinnen und Archäologen Spuren aus den vergangenen 7000 Jahren.

Am Berg Aragaz auf 2850 Metern Höhe erforschen Archäologinnen und Archäologen Spuren aus den vergangenen 7000 Jahren.
Bildquelle: Arsen Bobokhyan

An den Hängen des Aragaz, des höchsten Bergs Armeniens, ziehen heute noch Hirten mit ihren Tieren umher. Diese Pastoralisten, wie sie in der Sozialwissenschaft genannt werden, wandern mit ihren Familien und ihren Schafen, Kühen und Pferden bergauf und bergab, je nach Jahreszeit.

In den Sommermonaten, wenn es hier im Südkaukasus in der Ebene so heiß wird, dass die Hitze die Gräser verdorren lässt und die Tiere kein Futter mehr finden, packen die Hirten ihre Zelte ein und ziehen für mehrere Monate in höhere Regionen, bis ins Hochgebirge, wo sie mit ihren Familien den Sommer verbringen. Im Herbst wandern Menschen und Tiere dann wieder ins Tal hinunter: „Vertikale Transhumanz“ heißt diese mobile Lebensweise, die schon vor vielen Tausenden von Jahren entstanden ist und bis heute besteht.

Steinstelen, sogenannten Vischaps oder Drachensteinen, zeigen Fische oder Widderfelle oder eine Kombination aus beiden. Es gibt sie in dieser Form nur in den Bergen des Südkaukasus und der Osttürkei.

Steinstelen, sogenannten Vischaps oder Drachensteinen, zeigen Fische oder Widderfelle oder eine Kombination aus beiden. Es gibt sie in dieser Form nur in den Bergen des Südkaukasus und der Osttürkei.
Bildquelle: Pavol Hnila

Stelen mitten in den Bergen

Wenn die Hirten aber ins Hochgebirge ziehen und dort ihre Tiere weiden, begegnen sie einer ganz besonderen Art von Steinstelen, sogenannten Vischaps oder Drachensteinen, die es nur in den Bergen des Südkaukasus und der Osttürkei gibt: mehrere Meter hohe Stelen, die entweder Fische oder Widderfelle oder eine Kombination aus beiden zeigen. Sie stehen und liegen hier, oft in der Nähe von Quellen oder Bächen.

Pavol Hnila ist Archäologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Altorientalistik der Freien Universität. Er will erforschen, was es mit den Stelen auf sich hat und warum sie gerade im Hochgebirge errichtet wurden. Auch, ob die Hirten und ihre Lebensweise etwas mit den Drachensteinen zu tun haben. Oder ob es eher Jäger oder sogar Bauern aus der Ebene waren, die Kultplätze im Hochgebirge zu besonderen saisonalen Ritualen errichtet haben?

Hnila arbeitet seit 2012 in einer Kooperation zwischen deutschen, italienischen und armenischen Archäologinnen und Archäologen daran, eine Fundstelle im armenischen Hochgebirge auszugraben. Dieser „Karmir Sar“ genannte Fundort liegt auf 2850 Metern über dem Meeresspiegel, also oberhalb der Waldgrenze, und zeichnet sich dadurch aus, dass dort die bis jetzt größte bekannte Zahl von Drachensteinen gefunden worden ist – insgesamt zwölf.

„Am Anfang wussten wir nichts darüber“, sagt Pavol Hnila. „Nicht, aus welcher Zeit sie stammen, nicht, warum sie hergestellt wurden, und auch nicht, welche Bedeutung sie haben. Nur, dass sie einen ganz klaren kultischen Bezug haben, ahnten wir. Alle diese Aspekte wollten wir untersuchen.“

Viele kulturelle Fragen

Noch heute erzählen sich die Menschen in der Region volkstümliche Sagen über Wassergottheiten, Fischwesen und Drachengeister. Aber haben diese Geschichten irgendetwas mit den Steinstelen zu tun? Hnila und seine Kooperationspartner Alessandra Gilibert und Arsen Bobokhyan fanden heraus, dass die Stelen aus einer Zeit zwischen dem Ende des 5. und dem 2. Jahrtausend vor Christus stammen, höchstwahrscheinlich aus der Zeit um 4000 vor Christus.

Was man aber noch nicht weiß: Wer waren die Menschen, die sie hergestellt und errichtet haben? Woher kamen sie, was wurde aus ihrer Kultur? „Das liegt im Dunkeln, es gibt keine schriftlichen Quellen, und man kann sie ethnisch nicht einordnen“, erläutert Pavol Hnila. „Man weiß nur, dass sie in der Kupfersteinzeit gelebt haben, im Chalkolithikum.“ Man wisse deshalb auch nicht, ob die Menschen, die diese Stelen gefertigt haben, damals schon als Pastoralisten gelebt haben, sagt Hnila. Ob die Hirten der Gegenwart quasi ihre Nachkommen sind oder zumindest die Bewahrer ihrer Lebensweise.

All diese Fragen sollen nun in einem neuen Forschungsprojekt geklärt werden. Etwa, wie lange es die vertikale Transhumanz schon gab. Hnila sagt: „Wir wissen, dass diese Lebensweise spätestens seit der Mittelbronzezeit im Südkaukasus bestand, also seit etwa 2000 vor Christus. Aber wie lange vorher existierte sie schon?

Ein weiteres Rätsel besteht darin, dass es offenbar Perioden gab, in denen die Hirten das Hochgebirge gemieden haben, nur um später erneut bergauf und bergab zu ziehen.“ Ob dies auch mit dem Wandel des Klimas zu tun gehabt habe, versuche man nun, mithilfe von Pollenuntersuchungen herauszufinden.

Bald könnte es Antworten geben

Das Problem dabei ist naturgemäß, dass eine halbnomadische Kultur, die in Zelten wohnt, die sie je nach Jahreszeit anderswo aufschlägt, viel weniger Spuren hinterlässt als eine urbane Kultur, die sich in Monumentalbauten zu verewigen sucht. Der Fußabdruck, den Pastoralisten gewissermaßen hinterlassen haben, ist vergleichsweise gering. Dazu kommt, dass Tierknochen, die den handfestesten Nachweis für eine Hirtenkultur im Hochgebirge liefern könnten, dort rasch verwesen und die Zeit nicht überdauern.

Genau das aber könnte nun auch Aufschluss geben über die Frage, ob die Errichter der Steinstelen schon als Hirtennomaden gelebt haben: Hnila berichtet von einem außerordentlichen Fund einer großen Anzahl von verbrannten Knochen, die gleich neben einer Stele gefunden wurden und die 6000 Jahre alt sind. Die Knochen blieben nur deswegen erhalten, weil sie stark kalziniert wurden, und zwar, indem sie viel höheren Temperaturen ausgesetzt waren als bei einem üblichen Feuer zum Zwecke des Fleischbratens oder Grillens.

Ob sie als Opfergaben verbrannt wurden? Oder ob man die Tierknochen anstatt Holz benutzt hat, weil man sich ja oberhalb der Waldgrenze befindet, wo es naturgemäß kein Holz gibt? Pavol Hnila ist zuversichtlich, dass zumindest manche dieser Fragen nach dem Abschluss des Forschungsprojekts beantwortet werden können.