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„Wir können alles mathematisieren"

Christof Schütte, an der Freien Universität Berlin Professor für Biocomputing, über die Rolle seines Fachs – in der Pandemie und beim Wollschaf

02.07.2021

Wie sich das Wollschaf verbreitet hat. Mithilfe der Mathematik können viele Verläufe simuliert werden.

Wie sich das Wollschaf verbreitet hat. Mithilfe der Mathematik können viele Verläufe simuliert werden.
Bildquelle: pexels / Skitterphoto

Herr Professor Schütte, erinnern Sie sich an ein frühes Erlebnis, das Sie mit Mathe verbunden hat?

Mein Grundschullehrer meinte, dass er mir in Mathe nicht mehr viel beibringen muss und hat mich auf dem Hof Fußballspielen lassen. So hat er fest in mir verdrahtet, dass man ein gutes Leben hat, wenn man Mathe kann (lacht).

Sie selbst sind auf einem kleinen Umweg Mathematiker geworden.

Ja, ich hatte ein Studium in Physik und Informatik absolviert und auch Mathe studiert. Promovieren wollte ich in Physik mit einem Doktorandenstipendium in New York. Doch dann hat mich Peter Deuflhard, Koryphäe im Fach, auf einem Stipendiatentreffen der Studienstiftung des Deutschen Volkes nach Berlin eingeladen. Er hat mir ein Angebot gemacht, das ich nicht ausschlagen konnte, nämlich ein Angebot zu selbstbestimmter Forschung ohne Projektzwänge.

Wird der Nutzen von Mathematik für die Gesellschaft unterschätzt?

Nein, ich merke überall, auch auf der politischen Ebene, ein großes Interesse daran. Aber wir sind oft die Disziplin, die im Maschinenraum sitzt und weniger stark gesehen wird. Die Mathematik ermöglicht Erkenntnisse, doch wir sind nicht die Ersten, die im Fernsehen erklären, wie sich die Pandemie ausbreitet. Die Virologie könnte aber nicht so viel untersuchen ohne die Mathematik im Maschinenraum.

Wie gelingen Kooperationen mit anderen Disziplinen?

Wir brauchen eine gemeinsame Sprache und die richtigen Kontexte. In der Mathematik haben wir beispielsweise Modelle zur Ausbreitung der Römischen Kultur in Nordafrika erstellt. Mit den Altertumswissenschaften und der Geologie haben wir simuliert, wie sich das Wollschaf nach einer Mutation in Kleinasien im 6. Jahrtausend v. Chr. in der Welt ausgebreitet hat. Mit großskaligen Dynamiken und der Modulation aller Haushalte in Deutschland könnten wir auch simulieren und vorauszusagen helfen, welche Anreizsysteme geeignet sind, um beispielsweise der Elektromobilität hierzulande zum Durchbruch zu verhelfen. Alles, was andere Wissenschaften beschreiben können, können wir in einer Kooperation mit diesen Fächern mathematisieren.

Sie leiten an der Freien Universität die Arbeitsgruppe Biocomputing. Können Sie die Fachrichtung kurz umreißen?

Wir kombinieren wissenschaftliches Rechnen mit einer Verstärkung durch Computer und durch effiziente Algorithmen, um lebenswissenschaftliche Probleme zu lösen, beispielsweise, um Schmerzmittel zu entwickeln.

Wie haben Sie einen individuell empfundenen Schmerz in eine Formel oder in eine Funktion überführt, die Sie mathematisch nutzen konnten und dessen Ergebnis wiederum in der Medizin eingesetzt werden kann?

Schmerzmittel sind kleine Moleküle, die auf Zellstruktur-Molekülen andocken. Wie sie das tun, wie schnell sie hinkommen, wie fest sie dort gebunden werden und wie lange es dauert, bis sie sich wieder lösen – all dies ist entscheidend für den zellulären Effekt, der am Ende zu einer Schmerzreduktion führt.

Wir sind nach vielem Hin und Her auf die Idee gekommen, dass entzündetes Gewebe – also der Ort, an dem das Schmerzmittel wirken soll – einen anderen PH-Wert hat als gesundes. Da haben wir uns die Frage gestellt: Kann man das Molekül so bauen, dass es an der Zelloberfläche nur dann anheftet, wenn das Gewebe entzündet ist, also einen relativ niedrigen PH-Wert hat – und es nicht anbindet, wenn es nicht entzündet ist? Und das hat am Ende tatsächlich geklappt.

Produziert das große Datenmengen?

In der Medikamentenentwicklung sind das zunächst häufig keine riesigen Datenmengen. Die erzeugen wir erst bei Simulationen auf Großrechnern. Bei der Analyse von Daten in der Medizin, in die wir zunehmend häufig eingebunden sind, geht es um Terabyte oder Petabyte; die Herausforderung ist groß, diese Mengen zu bewältigen.

Christof Schütte ist Professor für Biocomputing und Sprecher des Exzellenzclusters MATH+.

Christof Schütte ist Professor für Biocomputing und Sprecher des Exzellenzclusters MATH+.
Bildquelle: Felix Noack

Sie waren schon Vorstandsmitglied des 2002 gegründeten DFG Forschungszentrums MATHEON und in verschiedenen Funktionen tätig, jetzt sind Sie turnusgemäß Sprecher des Exzellenzclusters MATH+. Was war entscheidend für die Erfolge der drei großen Universitäten im Exzellenzwettbewerb?

Bei der ersten Bewerbung im Exzellenzwettbewerb 2006/2007 konnten wir schon auf vier erfolgreiche Jahre des MATHEON zurückblicken. Die wichtigste Lehre aus dieser Zeit war – und diese sollte uns in den universitätsübergreifenden Bewerbungen in allen Runden des Exzellenzwettbewerbs zugutekommen – wie wichtig Vertrauen über die Institutionen hinweg ist.

Wir haben gemerkt, man kann zusammenarbeiten, ohne sich gegenseitig umzubringen (lacht). Denn auch die Fördermittel des MATHEON hatten schon ein Finanzvolumen von 6,5 Millionen Euro pro Jahr. Wir wussten durch die Zusammenarbeit im MATHEON, wie wir die Interessen, auch wenn sie sehr verschieden sind, in Kompromisse einflechten können – und wie wir für die Zusammenarbeit begeistern können. Dies hat den Weg geebnet für die „Berlin Mathematical School“ 2006 und den 2018 eingeworbenen Cluster MATH+.

Wie arbeiten Sie über die Institutionen hinwegzusammen, jetzt im Verbund?

Eigentlich läuft das nach dem erfolgreichen Muster des MATHEON. Im Vorstand des Clusters sind alle Institutionen vertreten, hier treffen wir einmal im Monat die wesentlichen Entscheidungen. Über die Vorstandsmitglieder sind viele Personen in die Entscheidungsprozesse eingebunden. Wichtig ist, dass der Cluster nicht am Anfang der Förderphase sein ganzes Geld verteilt hat, sondern über eine sehr gut funktionierende Feinsteuerung verfügt.

Wir machen fast jedes Jahr einen neuen Projektwettbewerb, sodass immer wieder Menschen von außen neu dazu kommen. Bewilligt werden Projekte, in denen mindestens zwei Leute aus zwei Institutionen zusammen gebracht werden. Das verbindet.

Berlin hat – unter anderem durch den Cluster MATH+ und das Zuse Institute Berlin sowie die Universitäten – eine enorme Dichte in der Mathematik. Gibt es anderswo vergleichbare Regionen?

Regionen derselben Forschungsintensität in unserem Fach gibt es etwa in London und New York. Aber Berlin hat weltweit einen der am stärksten ausgeprägten anwendungsorientierten Schwerpunkte. Das konnten wir im Exzellenzwettbewerb erfolgreich in die Waagschale werfen.

Was möchten Sie in den zwei Jahren Ihrer Amtszeit erreichen?

Wir sind als Cluster mit dem Anspruch angetreten, in der realen Welt etwas zu verändern. Dafür stehe ich, dafür stehen meine Kollegen, die diese Funktion innehatten oder noch übernehmen. Jede neue Ausschreibung im Cluster ist auf dieses Ziel fokussiert.

Welchen Beitrag kann die Mathematik in der Corona-Pandemie leisten?

Wir unterstützen durch Simulation des Pandemie-Verlaufs. Wir verfolgen aber seit Beginn vor allem die Frage, welche Maßnahme – Maskenpflicht, Schließung von Schulen und anderes – eigentlich welchen Effekt hat. Sie wirken ja alle gleichzeitig. Wir versuchen, mithilfe von Simulationen die Effekte jeder Maßnahme isoliert zu betrachten.

Und eine weitere Frage beschäftigt uns: Jede Eindämmungsmaßnahme verursacht Kosten – etwa in gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht. Wie können die Infektionszahlen gesenkt werden, ohne dass die Kosten zu groß werden? Auch hier sind wir in der Mathematik gefordert und können Fakten liefern. Die Politik muss die Bewertung übernehmen, wo für sie das Optimum liegt.

Können Sie der Pandemie etwas Positives abgewinnen?

Es hat sich stärker als früher gezeigt, dass man Vorträge auch online halten kann – und man wird sich die eine oder andere Dienstreise künftig sparen, wenn man sich über eine Videokonferenz abspricht.

Doch das Wichtigste an wissenschaftlichen Tagungen sind die Gespräche am Rande und der Austausch auch über fachliche Schwierigkeiten, Fehler und Lösungen – also über Dinge, die man nicht vor großem Publikum ausbreiten möchte. Hier stoßen die virtuellen Treffen an Grenzen. Darunter leiden wir alle. Wie die ganze Gesellschaft muss auch die Wissenschaft zurück zu den echten Begegnungen mit Menschen.

Die Fragen stellte Carsten Wette