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Denkbremsen lockern

Wie sich über eine Online-Lernplattform ein ethisches Urteil zum Eingriff in das menschliche Erbgut bilden lässt

02.07.2021

Der will nur spielen. Ethische Überlegungen sollten Hand in Hand mit Forschung gehen.

Der will nur spielen. Ethische Überlegungen sollten Hand in Hand mit Forschung gehen.
Bildquelle: picture alliance / dieKLEINERT.de / Kostas Koufog Kostas Koufogiorgos

Corona-Pandemie, Klimawandel, Künstliche Intelligenz, Armut und Hunger auf der Welt – es gibt jede Menge Herausforderungen, die eines ethischen Diskurses bedürfen. Manches wird bereits in der Öffentlichkeit breit diskutiert und bringt Tausende Menschen auf die Straßen. Anderes wie gezielte Veränderungen am menschlichen Erbgut – etwa mittels der Genschere CRISPRCas-9 – scheint für viele wieder in den Hintergrund getreten zu sein. Brauche ich dazu trotzdem eine Meinung? Einen eigenen ethischen Standpunkt?

Ja, meint Julia Dietrich, denn obwohl die neuen Gentechnologien sehr komplex seien, träfen sie die Menschheit ebenso existenziell wie der Klimawandel. „Durch nun mögliche Eingriffe in die Keimbahn ändern wir nicht nur die biologische Natur eines Menschen. Die Veränderungen können auch an künftige Generationen vererbt werden.“

Die promovierte Philosophin leitet den Arbeitsbereich Didaktik der Philosophie und Ethik an der Freien Universität. Sie befürchtet, dass bioethische Fragen durch aktuellere Themen wieder so weit in den Hintergrund gedrängt werden, dass die Genom-Forschung quasi in deren Windschatten weitergeht, ohne dass darüber weiterhin nennenswert diskutiert würde.

Im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts „GenomEdit“ hat sie nun gemeinsam mit Annett Wienmeister, ebenfalls vom Institut für Philosophie der Freien Universität, und Sebastian Brodkorb vom Institut für Chemie und Biochemie der Freien Universität eine Online-Lernplattform entwickelt. Geeignet ist diese für die Verwendung im Biologie- oder Ethikunterricht in Schulen ab der 10. Klasse, im Hochschulseminar, aber auch zum Selbststudium und in der Erwachsenenbildung. Zu den Projektpartnern gehören unter anderem das Humboldt-Gymnasium in Berlin-Tegel, der Deutsche Ethikrat und das Museum für Naturkunde Berlin.

Soll sich die Welt verändern – und wenn ja: wie?

Philosophiehistorischer Hintergrund des Konzeptes ist die Grundstruktur der „ethischen Argumentation“, des praktischen Syllogismus. „Er beruht auf einer Ist-Soll-Analyse, aus der ich am Ende einen Schluss ziehe. Soll die Welt so bleiben, wie sie ist – oder nicht? Und, falls nicht, in welche Richtung soll ich sie verändern?“, erklärt Julia Dietrich. Die Analyse wird anhand von sechs Fragen dekliniert: Was ist los? Worum geht es? Welche Normen und Werte sind wichtig? Wie komme ich zu einem Urteil? Was kann ich tun? Was kann ich lernen?

Was hier los ist, erfährt man in einem Einführungsvideo, in dem leicht verständlich erklärt wird, was Genom-Editierung ist, und in dem Expertinnen und Experten für Ethik, Biomedizin und Fachdidaktik zu Wort kommen. „Danach fragen wir nach dem ersten Bauchgefühl und schauen später, ob und wie sich das verändert hat, nachdem man sich mit dem Thema auseinandergesetzt hat“, erklärt Annett Wienmeister. „Ziel ist es, von einer bloßen Meinung zu einem gut begründeten Urteil zu gelangen.“

Jede Frage ist unterlegt mit Informationsmaterialien, Beispielen, Diskussionsgrundlagen, Standpunkten aus unterschiedlichen Blickwinkeln und Arbeitsblättern. Wie tief man in das Thema einsteigt, ist jedem selbst überlassen. „Für den kleinen Abriss reichen zwei bis drei Doppelstunden“, sagt die promovierte Philosophin. „Man kann aber auch viel mehr daraus machen, etwa indem man den Fokus auf das Argumentieren legt oder sich Moraltheorien genauer anschaut.“

Nicht jede Genom-Editierung ist ethisch vertretbar

Die Anwendungsfelder der Genom-Editierung sind vielschichtig. „Wenn sich durch den gezielten Eingriff in das Genom eine schwere Krankheit heilen oder ihr Ausbruch sogar frühzeitig verhindern lässt, wird das ethisch selten hinterfragt. Denn für manche monogenetische Erkrankungen eröffnen sich dadurch erstmals Therapieoptionen“, sagt Sebastian Brodkorb.

Anders sehe es jedoch aus, wenn es darum geht, Babys nach Wunsch zu „designen“. Oder den Menschen generell „zu verbessern“, ihn intelligenter oder stärker zu machen. „Solche Eigenschaften sind ja nicht nur genetisch bedingt, und wir wissen derzeit nicht, was wir durch einen solchen Eingriff wirklich alles verändern.“

Die sechs Fragen sind nicht zufällig gewählt. Einmal am Genom-Editing durchgespielt, lassen sie sich auf beliebige Problemfelder anwenden – von sozialer Ungleichheit über Künstliche Intelligenz bis zum Klimawandel. Sie fordern auf, die Perspektive zu wechseln, sich der Ambivalenz ethischer Standpunkte bewusst zu werden und „Denkbremsen“ zu lockern.

Wissenschaft forscht, Gesellschaft entscheidet

Eine solche Bremse ist aus Julia Dietrichs Sicht die klare Gegenüberstellung von Wissenschaft und Gesellschaft. „Die Wissenschaft darf forschen, und die Gesellschaft muss dann entscheiden, ob das gut ist oder nicht.“

Das verhindere, dass Wissenschaft sich von vornherein als ethisch relevant versteht. „Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollen ja etwas Gutes. Das ist ein ethischer Impuls, das muss sehr viel deutlicher werden“, sagt Julia Dietrich. „Ethische Überlegungen sollten daher kein nachgeordneter Prozess sein, sondern am Anfang der Forschung stehen.“