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Schrift als antiker Krisenmanager

Schon vor Urzeiten mussten Menschen mit Seuchen und Plagen fertigwerden, wie Altorientalistin Eva Cancik-Kirschbaum erforscht hat

30.06.2021

Sintflut mit Arche Noah. Die Atrahasis-Geschichte ist bedeutend älter als die biblische Erzählung, die auf dem Gemälde von Jan Brueghel dem Älteren (1568-1625) dargestellt wird.

Sintflut mit Arche Noah. Die Atrahasis-Geschichte ist bedeutend älter als die biblische Erzählung, die auf dem Gemälde von Jan Brueghel dem Älteren (1568-1625) dargestellt wird.
Bildquelle: Fotos: akg-images/Heritage-Images/CM Dixon-akg-images

Als die Götter noch Menschen waren – so fängt die Geschichte von Atrahasis an –, entfachten die Arbeitergötter eine Revolution gegen die Bestimmergötter. Aus dieser heraus wurde der Mensch erschaffen, der von nun an die Arbeit für die Götter erledigte.

Aber die Menschen vermehrten sich, das Land wurde größer, das Geschrei versetzte die Götter in Unruhe. Als Strafe schickten sie eine Pandemie mit Kopfschmerzen und Fieber. Um sich zu wehren, stellten die Menschen die Opfergaben ein und trafen sich nicht mehr im öffentlichen Raum – die Pandemie fand ihr Ende.

Als die Menschen wieder laut wurden, schickten die Götter eine große Trockenheit. Auch diese brachte die Menschen nicht zum Schweigen: Eine Flut sollte alles wegschwemmen. Überlebt haben nur Atrahasis und seine Familie, indem sie eine Arche bauten, und das Überleben der Menschheit ermöglichten. 

„Flutkatastrophen, Dürren und Epidemien begleiten uns Menschen seit Urzeiten“

„Die Erzählung von Atrahasis erinnert an Noah und die Sintflut aus der Bibel. Aber die Atrahasis-Geschichte entstand 2000 v. Chr., lange vor den Schilderungen der hebräischen Bibel, die aus dem ersten Jahrtausend v. Chr. stammen“, sagt Professorin Eva Cancik-Kirschbaum. Sie forscht am Institut für Altorientalistik der Freien Universität.

Überlieferung auf Tontafeln. Die babylonische Geschichte der Flut.

Überlieferung auf Tontafeln. Die babylonische Geschichte der Flut.
Bildquelle: CM Dixon-akg-images

Gefunden wurde die Erzählung auf Tontafeln in der Region des Nahen Ostens, aufgeschrieben mit Keilschrift, eine der ältesten bekannten Schriften der Welt. „Flutkatastrophen, Dürren und Epidemien begleiten uns Menschen seit Urzeiten“, sagt die Historikerin. „Wie wir mit Krisen umgehen, ist essenziell für das Überleben der Menschheit.“ 

Bis ins vierte Jahrtausend v. Chr. können die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Texte aus dem Zweistromland, auch Mesopotamien genannt, zurückverfolgen – der Kulturlandschaft in Vorderasien, die durch die großen Flüsse Euphrat und Tigris geprägt wurde und die heute überwiegend in Syrien und im Irak liegt. Vor etwa achttausend Jahren entstehen hier die ersten Städte. 

Schrift als Krisenwerkzeug

Das Wasser dient ihnen als Lebensgrundlage, zugleich ist es eine ständige Bedrohung. Immer wieder kommt es in Schüben, überschwemmt die Felder, das Salz steigt aus der Erde nach oben und zerstört viele Pflanzen. Die Überflutungen zwingen die Bewohnerinnen und Bewohner, sich mit den Gesetzmäßigkeiten des Wetters und dem Wasserstand der Flüsse auseinanderzusetzen. Sie beobachten ihre Umwelt und sammeln Informationen. 

Um die Daten zu ordnen, benötigen sie ein neues Kommunikationssystem. „Die Schrift ist auch eine Reaktion auf Krisen – in diesem Fall eine wachsende Bevölkerung. Die Schrift wurde in Mesopotamien nicht erfunden, um Gebete aufzuschreiben, sondern sie steht im Zusammenhang mit den komplexer werdenden Gesellschaften“, sagt Eva Cancik-Kirschbaum.

Mithilfe der Schrift kann auch das Wissen über Naturphänomene gespeichert, geordnet und interpretiert werden. Auf dieser Basis wird es möglich, das Problem systematisch anzugehen: Wie können Seuchen und andere Naturkatastrophen vorhergesagt werden? Wer oder was verursacht sie? Wie kann der Mensch sie verhindern oder bewältigen? 

Überlieferung auf Tontafeln

Die ersten Schriftüberlieferungen stammen von etwa 3300 v. Chr. In flache Tafeln aus Ton drücken die Menschen in Mesopotamien keilförmige Zeichen, die in ihrer Funktionalität den heutigen Emojis ähneln. Dreihundert bis vierhundert Jahre später kann gesprochene Sprache ziemlich genau wiedergegeben werden. „Dann explodierte die Schriftlichkeit“, sagt Eva Cancik-Kirschbaum.

Rezepte, Gesetzestexte, Tabellen mit Staatseinkünften, private Briefe, große Erzählungen, medizinische Texte – die Schrift sei im antiken Mesopotamien zu einer Art erstem Computer geworden. „Es gehört zur westlichen Arroganz und ist ein typisches abwertendes Narrativ zu behaupten, dass im Orient nur in die Sterne geschaut wurde. Im Gegenteil: Die Menschen des antiken Zweistromlands suchten und verstanden viele Gesetzmäßigkeiten der Natur.“ 

Die Schrift ist die primäre Quelle für Altorientalistinnen und Altorientalisten wie Eva Cancik-Kirschbaum. Zurzeit beschäftigt sie sich mit dem zentralen Archiv der antiken Stadt Dur-Katlimmu. Diese wurde an einem Zufluss zum Euphrat im Norden Syriens von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen der Freien Universität Berlin ausgegraben. Das Archiv der Stadt lässt viele Details der Geschichte dieser Stadt und ihrer Bewohner lebendig werden.

Ein Fund zeugt von Krisensolidarität: Nach einer mehrjährigen Trockenperiode um 1220 v. Chr. bringt der Regen Heuschrecken mit sich, die über die Felder herfallen. Hunger treibt die Menschen aus den Städten. Die Regionalverwaltung beschließt, aus den staatlichen Getreidereserven in nicht unmittelbar betroffenen Städten Gerste zu den hungernden Menschen zu bringen – vier Jahre lang. Die Schrift erleichtert die Verteilung der Lebensmittel. „Hinter dem Beschluss zur Hilfeleistung steht aber auch der Gedanke, dass Menschen viel weniger kontrolliert werden können, wenn sie durch das Land wandern. Also versuchen die Regierenden, sie zum Bleiben zu bewegen, indem sie ihnen Kleidung und Nahrung geben“, erläutert Eva Cancik-Kirschbaum. 

Wer sich mit der Geschichte von vor Tausenden von Jahren beschäftigt, kann in einen großen Pessimismus verfallen, findet die Historikerin. „Wir Menschen überlegen rational, handeln aber irrational. Schon im antiken Mesopotamien wurde gesehen, dass Landschaften veröden, wenn Bäume gefällt werden.“

Andererseits kann das Wissen über Menschen und Gesellschaften zuversichtlich stimmen: „Wir sind dazu befähigt, mit Krisen zurechtzukommen, wenn wir uns einigen und konstruktiv handeln. Fehler, die immer wieder gemacht werden, können wir vermeiden.“

So sei die Geschichte von Atrahasis ein Appell für einen rücksichtsvollen Umgang mit der Umwelt und ein verträgliches Miteinander. „Schon 2000 v. Chr. vermittelte der Autor: Fluten und Krankheiten sind Warnsignale – gebt acht!“