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Museum zum Mitnehmen

Weil jeder Mensch potenzieller Migrant ist: Eine Alumna und Wissenschaftlerinnen der Freien Universität haben ein virtuelles Museum gegründet

02.07.2021

Der äthiopische Maler Henok Getachew schildert, wie sich seine Kunst in Berlin verändert hat. Im Deutschen Migrationsmuseum reflektieren Menschen aus aller Welt über ihr Leben, nachdem sie ihr Land verlassen haben.

Der äthiopische Maler Henok Getachew schildert, wie sich seine Kunst in Berlin verändert hat. Im Deutschen Migrationsmuseum reflektieren Menschen aus aller Welt über ihr Leben, nachdem sie ihr Land verlassen haben.
Bildquelle: Suely Torres

Ein junger Mann sitzt in Berlin auf dem Tempelhofer Feld, zeigt auf das alte Flughafengebäude hinter sich. Nach seiner Flucht aus Syrien im Jahr 2016 hat er dort zwei Jahre gewohnt. Zu acht lebten sie in einer kleinen Kabine. „Vor allem das Warten war anstrengend“, sagt er. Werde ich in Deutschland bleiben können? Werde ich hier studieren dürfen? Wann kann ich mir eine eigene Wohnung suchen?

Das Video von Ibrahim Al-Hussein ist auf der Internetseite des Deutschen Migrationsmuseums zu sehen, einer Online-Plattform, auf der Menschen über ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Ein- oder Auswandern reflektieren. Die Idee zum virtuellen Museum hatte – bereits vor Beginn der Corona-Pandemie – Suely Torres, Alumna der Freien Universität Berlin. In Zusammenarbeit mit drei Wissenschaftlerinnen vom Lateinamerika-Institut der Freien Universität hat sie das Projekt umgesetzt. An konkreten Lebensbeispielen soll hier gezeigt werden, welchen Anteil Migranten und Migrantinnen mit all ihrer Vielschichtigkeit, Arbeit und Kreativität am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben in Deutschland haben.

Geschichten von Einwanderern aus alternativen Perspektiven

Da ist zum Beispiel die brasilianische Künstlerin Luzia Simons, die über die Bedeutung ihres Reisepasses reflektiert, der Maler Henok Getachew aus Äthiopien, der schildert, wie sich seine Kunst in Berlin verändert hat, der bulgarische Schriftsteller Veso Portarsky, der in der deutschen Hauptstadt Inspiration für seine Kurzgeschichten findet. „In diesem virtuellen Museum soll es nicht so sehr darum gehen, geografische Stationen und Wege von Migranten und Migrantinnen nachzuerzählen, sondern darum, was dieser Prozess mit den Menschen gemacht hat“, sagt Suely Torres.

Geboren im brasilianischen Recife, kam Suely Torres Ende der 1980er Jahre nach Deutschland. Sie studierte Literaturen und Kulturen Lateinamerikas und Brasilianistik an der Freien Universität Berlin. „Mir fiel schon früh auf, dass in der Diskussion über Migration Stereotype des Fremd- oder Andersseins vorherrschten“, sagt sie. Über viele Jahre trug sie die Idee eines Museums mit sich herum, indem die Geschichten von Einwanderern aus alternativen Perspektiven erzählt würden, denn solch einen Ort konnte sie nirgendwo so richtig finden.

Die Macherinnen des Online-Museums. Suely Torres (v. l. n. r.), Anna Sara Dias Portugal Guimaraes, Laura Gröbner Ferreira, Fernanda Sumita und Mariana Florio.

Die Macherinnen des Online-Museums. Suely Torres (v. l. n. r.), Anna Sara Dias Portugal Guimaraes, Laura Gröbner Ferreira, Fernanda Sumita und Mariana Florio.
Bildquelle: privat

Drei Jahre harte Vorarbeit

Neben ihrer Arbeit als Fotografin und Lehrerin für Portugiesisch spezialisierte Suely Torres sich an der Berliner Universität der Künste auf das Kuratieren von Ausstellungen. Während eines Forschungsaufenthaltes am Museu da Pessoain São Paulo, ebenfalls ein virtuelles Museum, sammelte sie Kenntnisse über die Umsetzung eines solchen Projektes.

Im Rahmen ihres Studiums konnte sie zudem an einem Coaching der Direktorin des Gropius-Baus Berlin teilnehmen, die sie ermutigte, ihre Idee zu verwirklichen. Im Jahr 2017 gründete Suely Torres mit drei Kolleginnen von der Freien Universität Berlin das Migrationsmuseum als gemeinnützigen Verein. Im Dezember 2020 ging das Projekt erstmals online.

Die Lateinamerikanistin beschloss, zunächst Menschen aus ihrem Bekanntenkreis für die Online-Plattform zu interviewen. Das waren beispielsweise Adriane Queiroz, Opernsängerin an der Berliner Staatsoper, und der afrodeutsche Musikhistoriker und Saxofonist Harald Kisiedu, der an der Columbia University in der Stadt New York über Jazz als ein globales Phänomen geforscht hat. Auf der Plattform werden nämlich auch Deutsche, die in die Welt gezogen sind, zu ihren Erfahrungen befragt.

Das Internet  – ein idealer Ort für das Museum

„Wir wollen zeigen, dass jeder Mensch ein potenzieller Migrant ist“, sagt Mariana Florio, die am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin studiert und in dem mittlerweile fünfköpfigen Team des Deutschen Migrationsmuseums für Übersetzungen und Transkription der Videos in gleich mehrere Sprachen verantwortlich ist. „Die Videos zeigen so unterschiedliche Perspektiven, dass auch meine eigene Sicht auf das Thema Migration ständig dekonstruiert und rekonstruiert wird“, sagt die Masterstudentin.

Das Internet ist für die Initiatorinnen der ideale Ort für ihr Museum. „Wir wollen die Erzählungen allen Interessierten zugänglich machen, ohne Öffnungszeiten oder Mauern“, sagt Fernanda Sumita, die an der Freien Universität Berlin Sozial- und Kulturanthropologie studiert. Nur im Netz könne es ein Museum geben, das man jederzeit und von jedem Ort in der Welt aus betreten kann, zudem könne man es überallhin mitnehmen – auch an Schulen und Universitäten. Demnächst soll es auch barrierefrei werden, damit Blinde und Gehörlose Zugang haben.

Fundraising für eine multimediale Online-Bibliothek

Bis jetzt haben die Gründerinnen das Migrationsmuseum selbst finanziert. Nun versuchen sie über Fundraising zusätzliche Mittel zu bekommen. Langfristig soll aus dem virtuellen Museum eine multimediale Online-Bibliothek als Datenbank zur Migrationsgeschichte werden, in der sich nicht nur Videos finden, sondern auch Tondokumente, Podcasts, Fotos und Schriftstücke. Eine vielseitige Sammlung zur Gegenwart der Ein- und Auswanderung, die auch den Wissenschaften, der Öffentlichkeit und gesellschaftspolitischer Lobbyarbeit zur Verfügung stehen soll.